„Jede Frau soll so leben, wie sie es will“

Margot Käßmann geht in den Ruhestand. Mit ihrer Tochter Sarah Rahe spricht sie über Kinder und Karriere und Anrufe morgens um sechs

Margot Käßmann und ihre Tochter Sarah Rahe
Mutter und Tochter: Margot Käßmann mit ihrer ältesten Tochter Sarah Rahe.

Frau Rahe, was ist Ihre früheste Erinnerung an Ihre Mutter?

Sarah Rahe: Der Umzugswagen! Ich stand vor dem Laster in Spieskappel, ich war drei, und Mama sagte, du musst jetzt aber endlich reinkommen.

Margot Käßmann: Du hast den ganzen Tag beim Ausladen zugeguckt, und ich habe immer gesagt, komm jetzt, sonst wirst du krank. Und prompt hattest du am nächsten Tag 40 Grad Fieber. Spieskappel . . .

. . . ein Dorf in Nordhessen . . .

Käßmann: . . . war für die Kinder toll, es gab einen großen Pfarrgarten.

Und wie war es beruflich für Sie in Spieskappel?

Käßmann: Eher frustrierend. Die Landeskirche fand: Für ein Ehepaar reicht eine Alimentierung. Daraufhin wollten mein damaliger Mann und ich uns die Stelle teilen. Ich war gerade schwanger mit den Zwillingen. Aber die Pröpstin sagte, das könne man der Gemeinde nicht antun – drei ­kleine Kinder! Das hat mich schon verletzt. Ich hatte ein gutes Examen, ich wollte loslegen. Und es hieß: „Sie ­können doch ehrenamtlich arbeiten.“ Also promovierte ich. Als die Zwillinge ein Jahr alt waren, 1986, räumte ich die Besenkammer aus und kaufte meinen ersten Computer. Von 600 Euro Stipendium habe ich eine großartige Tagesmutter bezahlt, jeden Morgen vier Stunden am Schreibtisch gesessen – und danach hatte ich auch wieder Lust auf Playmobil.

Sie sind mit der Familie noch dreimal umgezogen.

Käßmann: Ja. Da haben wir den Kindern auch was zugemutet. Als wir nach Hannover zogen, war es ein Lastwagen mit Anhänger, dazu ein kleiner Transporter. Vier Schulkinder plus Hund plus Meerschweinchen plus zwei Karnickel. So viele Sachen besaß ich nie wieder.

Rahe: Ich war 17 und fand es aufregend. Aber der Umzug vier Jahre zuvor war furchtbar, in der Pubertät ist das hart.

Käßmann: Für uns Eltern war das dann übrigens auch sehr hart!

Rahe: Ich glaube, ich war insgesamt relativ brav. Aber ich habe schon mal gesagt: „Ich hasse dich!“

Käßmann: Auweia, ich erinnere mich. Und wenn die Mädchen dann mit so einem Gesicht am Frühstückstisch saßen! Du weißt, sie lieben dich und du liebst sie, aber sie müssen anderer Meinung sein, und du musst ihnen Regeln setzen. Anstrengend.

Rahe: Ich fand euch als Eltern so peinlich! Beim Klamottenkaufen zum Beispiel. Da muss man als Mutter wohl durch, ich hoffe, ich erinnere mich später daran, aber als Tochter musst du halt auch durch. Für mich war das Auslandsjahr in Südafrika der Wendepunkt – in der Zeit war Mama sehr für mich da. Es ging mir nicht gut in dieser Gastfamilie.

Käßmann: Ich hatte eine Telefonrechnung, unfassbar!

Rahe: Als ich zurückkam . . .

Käßmann: . . . warst du 17 und erwachsen.

Rahe: Vorher wollte ich immer ausziehen, in eine WG mit der besten Freundin. Aber als ich in Frankfurt gelandet bin, wusste ich: Ich habe die besten Eltern, die besten Schwestern, das beste Leben überhaupt.

Frau Rahe, wenn jemand zu Ihnen sagt: „Genau wie ­Mama“, . . .

Rahe: . . . sage ich: Stimmt! Wir reden ähnlich, haben die ­gleiche Mimik, die gleiche Gestik. Ich weiß, woher ich komme, das ist doch schön. Das Einzige, was mich genervt hat, war der Name Käßmann. „Ist Ihre Mutter nicht die, welche . . .“ Drum habe ich bei meiner Hochzeit den Namen abgegeben.

Ist Ihre Mutter Ihnen ein Vorbild?

Rahe: Unbedingt. Mein Mann und ich arbeiten momentan beide Vollzeit, unsere Kinder sind zwei und fünf, mir begegnet viel Skepsis, aber ich kann immer sagen: Ich weiß, dass es geht!

Hatten Sie ein Vorbild, Frau Käßmann?

Käßmann: Meine Mutter hatte vier Kinder und war berufstätig. Meine Schwestern haben Kinder und waren berufs­tätig, bei uns gab es nicht die Vorstellung, dass eine Frau zu Hause bleibt. Aber als weibliche Führungsfigur? Die einzige andere Bischöfin war Maria Jepsen, die kinderlos war.

Was hat sich für Frauen, die arbeiten wollen, verbessert?

Rahe: Meine Kinder sind seit dem zweiten Lebensjahr in einem wirklich sehr guten Kindergarten.

Käßmann: Und die Elternzeit. Wir haben damals 500 Mark bei der Geburt bekommen, und dann konnte man Erziehungsurlaub beantragen. Urlaub!

Rahe: Und dir haben sie gesagt, du sollst ein Ehrenamt machen. Mir haben sie in der Elternzeit ein Mentoring­programm angeboten und mich verbeamtet. 

Käßmann: Aber es wird heute auch erwartet, dass du das alles schaffst. Beruf, Mutter sein, schick aussehen . . .

Rahe: . . . und man soll auch die Partnerschaft hinbe­kommen – und zwar gleichberechtigt!

„Jede Frau soll so leben, wie sie es will“

Was ist eine gute Mutter? – Warum gibt es zu dieser ­Frage immer noch Grabenkämpfe?

Rahe: Vielleicht, weil die Menschen insgesamt verun­sichert sind. Sie gucken wieder mehr auf ihre eigene kleine Familie und wollen alles richtig machen.

Käßmann: Jede Frau soll so leben, wie sie es will. Eine von Sarahs Schwestern wollte gerne länger bei dem Kind sein, und viele sagten: Wie kannst du nur! Der Staat muss ermöglichen, dass jede Familie für sich den richtigen Weg findet und glücklich wird. Ich kann nicht fassen, dass es immer noch diese Verurteilungen gibt!

Rahe: Ja. Aber selbst wenn meine Schwester – ohne böse Absicht – sagt, es tue ihrem Kind gut, dass es zwei Jahre die Mama hat, denke ich, oh, ich habe etwas falsch gemacht.

Käßmann: Und deine Schwester denkt, sie fördert ihr Kind nicht so wie du, weil deines schon mit eins in der Krippe war. Am Ende kannst du nur sagen: Ich habe es so gemacht, wie es mir zu der Zeit gut schien und möglich war. Bestimmt hätte ich auch einiges anders machen können.

Was zum Beispiel?

Käßmann: Für meine Tochter Hanna war es schwer, dass ich als junge Bischöfin wenig Zeit hatte. Alles prasselte auf mich ein, ich konnte wenig präsent sein. Sie sagte später: Du hättest uns mehr Grenzen setzen müssen.

Rahe: Aber ich scheitere heute ja auch in der Erziehung meiner Kinder. Ich brülle manchmal, obwohl ich das nicht will – etwa wenn wir morgens los müssen, und die Große zieht einfach ihre Schuhe nicht an und trödelt.

Käßmann: Wieso scheitern? Die Kinder verlieren doch auch mal die Nerven! Gut, dass ihr jetzt auch alle Kinder habt und seht, wie das ist.

Hatten Sie auch mal das Gefühl, nicht zu genügen?

Käßmann: Ja klar. Wenn ich abends auf diesen kleinen Kindergartenstühlen Laternen basteln sollte. Ich kann nicht basteln! Da hätte ich lieber fünf Euro gegeben, um eine Laterne zu kaufen. Und ich war nie bei den Hausaufgaben dabei, ich habe nur Französischvokabeln abgehört.

Rahe: Und du hast uns zur Nachhilfe geschickt. Aber auch wenn wir mal eine schlechte Note hatten, konnten wir ­immer zu euch kommen. Das war wichtig! Und was ich auch von euch gelernt habe: Man braucht Rituale als Familie. Es gab Zeugnisessen. Wenn die Ferien anfingen, bekam jede eine Zeitschrift, die sie besonders gern mochte. Heilig­abend und Ostern liefen immer gleich ab. Die Urlaube nach Frankreich, morgens um vier los, das Auto vollgepackt und bei der ersten Raststätte lauter Süßkram gekauft . . .

„Zeit mit dir musste man sich nehmen“

Käßmann: Wir hatten einmal diesen Chrysler Grand Voyager, leider ein Spritfresser. Wenn der am Ende des Urlaubes voller Eispapiere, Sand und Dreck war, wussten alle, es war ein toller Urlaub. Und in diesen Ferien hatte ich richtig Zeit für die Kinder . . .

Rahe: Zeit mit dir musste man sich richtig nehmen. In der Bischofskanzlei war nie Feierabend. Ganz für sich konnte man dich nur haben, wenn wir Fahrrad gefahren sind und das Handy zu Hause bleiben musste.

Käßmann: Ihr konntet doch immer zu mir kommen.

Rahe: Das stimmt. Wir kamen mit jedem Mist, aber da ging es um Problemlösungen und nicht um gemeinsame Zeit. 

Käßmann: Meine Mitarbeiter haben sich schon gewundert, dass ich für 16-jährige Mädchen Friseurtermine mache. Aber ich bin halt gut organisiert. Natürlich hatte ich auch ein schlechtes Gewissen. Deswegen habe ich den Kindern auch viel abgenommen.

Rahe: Du hast uns zu viel abgenommen.

Käßmann: Einmal war ich in Russland, und Sarah wollte das Rezept für Schwarzwälder Kirschtorte. Jetzt. Ein ­Kollege sagte: Sag mal spinnst du, weißt du, was das kostet? Ich habe ihr alles erklärt, die Sahne so, die Kirschen so . . .

Waren Ihre Gäste in der Bischofskanzlei irritiert, wenn Ihre Töchter in die Sitzungen platzten?

Käßmann: Ja, anfangs. Aber ich habe gesagt, ich habe eben vier Kinder, und die werde ich nicht aussperren. 

Rahe: Das hat mir persönlich später viel geholfen. Ich habe keine falsche Ehrfurcht vor Autoritäten.

Käßmann: Einmal war der Bischof aus Russland da, und ein Kind kam trotzdem rein und fragte: „Mama, hast du ­einen Kuli?“ So what. Ich war mal mit meiner Tochter ­Esther in einer Pizzeria in Hannover, als eine Frau mich um eine Unterschrift bat. Da sagte Esther: Warum will denn von dir jemand eine Unterschrift? Ich war für sie ja die Mutter, nicht die Landesbischöfin.

Rahe: Auf einem Kirchentag war ich mal dabei, als sich um meine Mutter Menschentrauben bildeten. Frau Käßmann hier, Frau Käßmann dort, das ist schon absurd, wenn es um die eigene Mutter geht. Sogar im Griechenlandurlaub! 

Nervt das auch mal?

Rahe: Eigentlich nicht. Wir sind es ja gewöhnt. Wir gehen einen Schritt zur Seite, und danach führen wir unser Programm fort. 

Ihre Familie stand lange im Rampenlicht. War das schon auf dem Dorf so?

Käßmann: In Spieskappel hieß es: Die Tochter vom ­Pfarrer muss grüßen! Mein Garten entsprach nicht den Vor­stellungen der Leute dort. Ich wollte Erdbeeren pflanzen, und man sagte mir: Die müssen aber in einer Reihe stehen! 

Rahe: Eine vorbildliche Pfarrersfrau warst du nicht.

„Ich sollte die Altardecke bügeln“

Käßmann: Nee. „Der arme Herr Pfarrer, der muss die ­Wäsche selber aufhängen.“ Die Altardecke sollte ich bügeln. Da sagte ich: Nein! Meine Vorgängerin hatte das gemacht.

Rahe: Aber so richtig begann das mit dem Rampenlicht erst, als du Bischöfin wurdest.

Käßmann: Die Wahl zur Landesbischöfin war in der Tages­schau die erste Meldung, wir waren bundesweit in der ­Presse. Damit musste ich umgehen lernen. Bei meiner Einführung saßen alle meine Töchter in der ersten Reihe. Aber sie hätten mich nicht begleiten müssen. Sie mussten auch nicht jeden Sonntag mit in die Kirche. Von diesem Zwang haben genug Pfarrerskinder Schäden davongetragen.

Bei Ihrem Rücktritt 2010 standen alle vier hinter Ihnen.

Rahe: Das werde ich nie vergessen. Du hast angerufen, ich lebte damals in Berlin, und es war klar: Ich steige in den nächsten Zug. Mama war immer für uns da. In dem Moment brauchtest du uns.

Käßmann: Sarah hat mal gesagt: Man kann nicht andauernd mit Mama rechnen, aber wenn es nötig ist, kommt sie. 

Rahe: Ja. Als ich unser zweites Kind bekam, hat Mama sich eine Woche freigenommen und sich um unsere große Tochter gekümmert. Und einmal, als die Große zwei ­Monate alt war . . . 

Käßmann:  . . . habe ich einen Vortrag in der Schweiz abgesagt, um dir zu helfen. Die waren vielleicht sauer! Aber dir ging es so elend.

Was ist das für ein Gefühl, wenn die Mädchen so hinter einem stehen?

Käßmann: Ich bin stolz. Da kommen mir fast die Tränen. Ich gehe mit 60 in den Ruhestand, weil ich mehr Zeit haben möchte. Mir ist bewusst, dass das ein Privileg ist. Ich will nicht Dauer-Omi sein, nicht bei einer von euch einziehen. Aber ich möchte ab und an aushelfen können, so wie meine Mutter uns auch alle unterstützt hat. Ich bin froh, dass ich nicht gesagt habe: Kinder oder Karriere. Neulich musste ich lachen, als Alice Schwarzer sagte, sie hätte jetzt gerne Enkel. Aber Kinder wollte sie nie. Eins ohne das andere geht nicht.

Hat sich das Verhältnis zwischen Müttern und Töchtern im Lauf der Jahrzehnte verändert?  

Käßmann: Ja. Kinder reagieren viel positiver auf die ­Eltern. Zwischen Müttern und Töchtern, schrieb Simone de Beauvoir, gebe es eine Eifersucht der Mutter auf die Tochter, weil die eine alt wird, und die andere ist jung und schön. Das ist unvorstellbar für mich. Ich bin froh, dass ich ein eigenes Leben habe und immer hatte. Und alle vier sagen, dass sie mein Leben nicht haben wollten. Diesen Stress! 

„Ihr Handy war immer dabei“

Rahe: Ich würde nicht im Mittelpunkt stehen wollen. Die geregelten Arbeitszeiten, das freie Wochenende – ich ­brauche mein Privates. Natürlich sitze ich auch abends mal am Schreibtisch. Aber bei meiner Mutter war es die Regel. Ihr Handy war immer an und dabei. Und es hat immer jemand angerufen. Die Presse, irgendein Pfarrer oder ­Bischof. Wir haben es oft verflucht.

Käßmann: Mein Beruf ist meine Profession. Ich habe gerne gearbeitet! Dafür hatte ich nie ein Hobby.

Rahe: Wir haben viele Beziehungen von Eltern zerbrechen sehen. Von Eltern von Freunden. Man muss nicht nur in die Kinder investieren, sondern auch in die eigene Beziehung. Dafür braucht es gemeinsame Zeit – worauf mein Mann und ich sehr achten. Das muss nicht immer gut gehen. War es eurer Generation bewusst, dass Ehen scheitern können? Meiner Generation ist es sehr bewusst – bei einer Scheidungsquote von 50 Prozent. Dass Arbeit nicht alles ist.

Käßmann: Arbeit war für mich auch nicht alles, sonst ­hätte ich keine vier Kinder gekriegt. 

Rahe: Aber Arbeit war wichtiger als die Zeit, die du für dich hattest. Arbeit war ja schon sehr präsent.

Käßmann: Dafür habe ich jetzt ein Luxusleben, weil ich ­eine so junge Omi bin. Im Moment habe ich das Gefühl, das ist die beste Zeit im Leben. Der Berufsdruck lässt nach. Du musst die Kinder nicht versorgen. Du kannst mal freundlich als Großmutter kommen, und alle finden es toll.

Rahe: Ich würde für mich sagen: Momentan ist vielleicht die anstrengendste Zeit meines Lebens – aber auch die schönste. Ich muss mich nicht aufs Alter freuen.

Käßmann: Ich schon! Ich feiere meinen 60. Geburtstag. 

Und was haben Sie vor, wenn Sie nur noch Margot ­Käßmann sind, und nicht mehr die Frau von der Kirche?

Käßmann: Ich war immer Margot Käßmann. Aber mal gucken. Ich bin gesund, ich kann ganz schöne Sachen ­machen. Ausschlafen. Bücher schreiben. Vielleicht reisen. Meine mittleren Töchter sind nach dem Master für drei Monate mit dem VW-Bus losgefahren, einfach so. Frankreich, Spanien, Portugal. Ich habe im Studium noch das erste Kind gekriegt. Ich habe nie einfach so mal nichts gemacht. 

Rahe: Ah, dann kannst du in Barcelona noch mal pre­digen . . .

Käßmann: Ihr werdet euch wundern, ich habe keinen Termin angenommen vom 15. Mai bis 31. Dezember. Alle haben gelästert, das schaffst du nicht. Schaff ich!

Rahe: Früher konnten wir unsere Mutter ab sechs Uhr morgens anrufen. Das geht heute nicht mehr, das Handy ist aus. Mindestens bis neun Uhr.

Was soll man denn morgens um sechs seine Mutter ­fragen?

Rahe: Die banalsten Dinge. Zum Beispiel, ob man den ­Joghurt noch essen kann, wenn der schon drei Tage abgelaufen ist.   

Käßmann: Klar kannste den noch essen!

Interview: Ursula Ott, Mareike Fallet (chrismon)