„Migration menschenwürdig gestalten“

Ökumenischer Online-Fachtag zum Migrationswort der Kirchen

„Migration menschenwürdig gestalten“ – unter diesem Titel haben die Kirchen in Deutschland im Oktober 2021 ein neues Grundlagenwort zu Fragen von Migration und Flucht veröffentlicht. Gestern (16. Dezember 2021) fand auf Einladung der Deutschen Bischofskonferenz und der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) ein Online-Fachtag statt, bei dem die vielfältigen Facetten des Migrationsworts aus wissenschaftlicher und praktischer Perspektive diskutiert wurden.

Als Vertreter der an der Erarbeitung des Dokuments beteiligten Kirchen begrüßten der Vorsitzende der Migrationskommission der Deutschen Bischofskonferenz, Erzbischof Dr. Stefan Heße (Hamburg), der ehemalige Präses der Evangelischen Kirche im Rheinland und Vorsitzende der EKD-Kammer für Migration und Integration, Manfred Rekowski, sowie der Vorsitzende der Arbeitsgemeinschaft Christlicher Kirchen in Deutschland (ACK), Erzpriester Radu Constantin Miron, die über 130 Teilnehmerinnen und Teilnehmer aus Kirche, Wissenschaft, Politik und Zivilgesellschaft. Die Veranstaltung wurde in Zusammenarbeit mit der Evangelischen Akademie zu Berlin und der Katholischen Akademie in Berlin durchgeführt.

Erzbischof Heße betonte, dass ein migrationsethischer Kompass gerade in Krisenzeiten besonders notwendig sei: „Die Versuchung, den Nächsten geringzuschätzen und seine Bedürfnisse auszublenden, ist wohl auf wenigen anderen Handlungsfeldern derart groß wie bei Fragen von Flucht und Migration. Wir erleben dies aktuell auf bedrückende Weise an den östlichen EU-Außengrenzen. Und auch während der Pandemie zeigt sich immer wieder: Diejenigen, deren Status prekär und deren Arbeitsverhältnisse beschämend sind, geraten nur allzu leicht unter die Räder.“ Mit Blick auf den Internationalen Tag der Migranten, den die Vereinten Nationen am 18. Dezember begehen, erinnerte der Erzbischof daran, dass die Gestaltung von Migration eine bedeutsame globale Zukunftsaufgabe darstelle, die auch weiterhin ein starkes Engagement der Kirchen erfordere.

Daran anschließend fragte Präses i.R. Rekowski – mit Rückgriff auf die Barmer Theologische Erklärung – nach dem Verhältnis zwischen kirchlicher und staatlicher Verantwortung: Die Kirche habe „keine höhere Einsicht über das, was im Kontext von Migration zu bedenken ist. Wohl aber eine Erinnerung an das, was aus der durchaus vielfältigen biblischen Tradition heraus, die sich einfältigen Kurzschlüssen verweigert, bedenkenswert ist.“ Den Kirchen sei daran gelegen, mit ihrem neuen Migrationswort einen lebhaften und weitsichtigen Diskurs über die komplexe Realität des Migrationsgeschehens zu fördern.

Sowohl der Erzbischof als auch der Präses machten auf die Zielrichtung des Wortes aufmerksam: Es gehe darum, notwendige Differenzierungen vorzunehmen und Orientierungen für eine gerechte Migrationsordnung zu formulieren. Der entscheidende Maßstab sei dabei die Wahrung der Menschenwürde – unabhängig von Herkunft und Status. So sei auch der Name des Wortes programmatisch zu verstehen: „Migration menschenwürdig gestalten“. Beide dankten den Mitgliedern der Ökumenischen Arbeitsgruppe und weiteren Fachleuten, die an der Vorbereitung des Dokuments mitgewirkt haben.

Erzpriester Miron verdeutlichte, dass Migration als prägendes Merkmal der unterschiedlichen christlichen Konfessionen in Deutschland zu verstehen sei: „Kirche ist eigentlich überall zuhause und nie im Ausland. Viele unserer Kirchenmitglieder haben Migration in der eigenen Biographie – oder im Leben ihrer Vorfahren – erfahren. Den damit verbundenen Herausforderungen stellen sich die christlichen Kirchen unseres Landes mit dieser Publikation. Dass dabei auch die Sichtweise der ‚hierzulande kleinen Kirchen‘ Berücksichtigung findet, trägt meiner Meinung nach zur Seriosität und Glaubwürdigkeit dieses Dokuments bei.“

Im ersten Teil des Fachtags führten zwei Mitglieder der Ökumenischen Arbeitsgruppe in zentrale Fragestellungen des Dokuments ein. Der Politikwissenschaftler Prof. Dr. Hannes Schammann (Universität Hildesheim) zeichnete dabei einige markante Entwicklungen seit dem Erscheinen des ersten Migrationswortes der Kirchen im Jahr 1997 nach. Während in Deutschland das Faktum der Migrationsgesellschaft mittlerweile weitgehend akzeptiert sei, gebe es in internationaler Perspektive problematische Tendenzen des Abrückens von multilateralen und menschenrechtsorientierten Lösungen. Hier gelte es, gerade auch mit kirchlicher Unterstützung, gegenzusteuern. Die Sozialethikerin Prof. Dr. Marianne Heimbach-Steins (Universität Münster) wiederum warnte vor einer Überforderung von Migrationspolitik: „Viele Formen der Migration verweisen auf international ungelöste Probleme fairer Teilhabe. Friedens- und Entwicklungspolitik, internationale Wirtschafts- und Handelspolitik sowie ernsthafte weltweite Anstrengungen, um die Folgen des Klimawandels einzudämmen, sind zentrale Voraussetzungen dafür, dass eine die Würde der Person achtende Migrationspolitik gelingen kann.“ Nicht Migration als solche sei das Problem, sondern die von Not getriebene Migration.

In zwei weiteren Einheiten wurden Fragen der theologischen und pastoralen Reflexion über Migration vertieft: So nahmen Prof. Dr. Angela Standhartinger (Universität Marburg) und Prof. Dr. Ilse Müllner (Universität Kassel) den bibeltheologischen Ansatz des neuen Migrationsworts genauer in den Blick. Die besondere Situation der christlichen Migrationsgemeinden, die zur religiösen und kulturellen Pluralisierung in Deutschland beitragen, bildete den Schwerpunkt eines Austauschs zwischen Prof. Dr. Stephan von Twardowski (Theologische Hochschule Reutlingen) und Prof. Dr. Salvatore Loiero (Universität Freiburg, Schweiz).

In einem weiteren Schritt wurden aktuelle politische Fragen im Lichte des Migrationswortes beleuchtet: Der Migrationssoziologe Prof. Dr. Thomas Faist (Universität Bielefeld) und der SPD-Bundestagsabgeordnete Prof. Dr. Lars Castellucci (Rhein-Neckar-Kreis) sprachen über Wege zu gelingender Integration in der deutschen Migrationsgesellschaft. Einen stärker internationalen Akzent setzten die Direktorin des Deutschen Instituts für Menschenrechte, Prof. Dr. Beate Rudolf (Berlin), und die FDP-Bundestagsabgeordnete Linda Teuteberg MdB (Potsdam) in einem Panel über den Schutz der Menschenrechte von Flüchtlingen in der Europäischen Union.

Prof. Dr. Castellucci, der vor wenigen Tagen ebenso wie Linda Teuteberg erneut in den Innenausschuss des Deutschen Bundestags gewählt wurde, unterstrich die Relevanz der politischen Gestaltung von Migration sowie die Bedeutung des kirchlichen Beitrags: „Es kommt auf aktive Politik an, damit wir die Chancen der Migration ergreifen. Unter der Überschrift ‚Migration menschenwürdig gestalten‘ wurde das gemeinsame Migrationswort der Kirchen in Deutschland vorgestellt. Als Mitglied der Kammer für Migration und Integration der EKD bin ich froh und dankbar über diesen grundlegenden Text. Die Kirchen sind wichtige Partner auf dem Weg zu einer guten Migrationspolitik.“

Hintergrund:

Im Sommer 2018 haben die Migrationskommission der Deutschen Bischofskonferenz und die Kammer für Migration und Integration der EKD – in Abstimmung mit der Arbeitsgemeinschaft Christlicher Kirchen in Deutschland (ACK) – eine Ökumenische Arbeitsgruppe zur Vorbereitung eines neuen Migrationswortes der Kirchen gebildet. Diese hat unter der Leitung von Erzbischof Dr. Stefan Heße und Präses Manfred Rekowski einen Entwurf erarbeitet, der weiteren Fachleuten aus Wissenschaft und Kirche zur Begutachtung vorgelegt und im Frühjahr 2021 in den zuständigen kirchlichen Gremien beraten wurde. Das Dokument konnte im Sommer 2021 durch den Rat der EKD und den Ständigen Rat der Deutschen Bischofskonferenz verabschiedet werden. Die Veröffentlichung erfolgte am 21. Oktober 2021.

Hinweise:

Das Gemeinsame Wort Migration menschenwürdig gestalten ist in der Reihe „Gemeinsame Texte“ (Nr. 27) erschienen und kann in der Rubrik Publikationen sowie auf www.ekd.de/migration heruntergeladen oder bestellt werden.

Hannover, 17. Dezember 2021

Pressestelle der EKD