Mit der „Jahreslosung“ gegen NS-Propaganda
Vor 80 Jahren starb der württembergische Theologe Otto Riethmüller
Ein Bibelwort, das über ein ganzes Jahr gestellt wird – das klingt heute nach einer frommen Übung, war aber beim Start 1930 hochpolitisch. Erfunden hat die Tradition der biblischen Jahreslosungen der württembergische evangelische Theologe Otto Riethmüller (1889-1938). Er starb am 19. November vor 80 Jahren in Berlin.
„Ich schäme mich des Evangeliums von Jesus Christus nicht“ (Römer 1,16), so lautete die erste Jahreslosung. Riethmüller wollte damit als Vorsitzender des evangelischen Reichsverbands weiblicher Jugend den Parolen der Nationalsozialisten ein kräftiges Bibelwort entgegenstellen. Zunächst hatte er mit der NS-Bewegung sympathisiert und in eines seiner Lieder sogar das Wort „Hitlerland“ eingeschleust. Doch bald durchschaute er den Rassismus der Ideologie, gehörte zu den ersten Unterzeichnern einer Protesterklärung gegen die Einführung des „Arierparagrafen“ in der Kirche.
Seine Idee der biblischen Jahreslosungen wurde schon 1934 von den evangelischen Kirchen in Deutschland übernommen. Die katholische Kirche schloss sich 1969 an. Seitdem wird die Jahreslosung von der Ökumenischen Arbeitsgemeinschaft für Bibellesen ausgewählt.
Riethmüller wuchs in Bad Cannstatt bei Stuttgart auf. Seine vielseitige Begabung zeigte sich schon in der Schule: sprachstarke Aufsätze, gute Noten in Musik, Mathematik, Turnen, Kunst. In seinem Theologiestudium in Tübingen prägte ihn der legendäre Professor Adolf Schlatter, der Vertrauen in die Bibel mit wissenschaftlichem Denken vereinigte. Der Theologiefeindlichkeit mancher pietistischer Kreise schloss sich Riethmüller nicht an. „Glaube ohne Theologie ist ein kräftiger Irrtum“, schrieb er.
Riethmüllers Charisma macht ihn bekannt
In Esslingen am Neckar übernahm er später die Pfarrstelle an der Südkirche. Das Gotteshaus wurde unter seiner Ägide neu gebaut und gilt als Meilenstein in der Kirchenarchitektur, weil hier nach den Plänen des Frankfurter Architekten Martin Elsaesser ein rares Exemplar des Expressionismus entstand.
Sein Charisma als Prediger, Dichter und Redner machte Riethmüller über Württembergs Grenzen hinaus bekannt. 1928 wurde er zum Leiter der evangelischen weiblichen Jugend nach Berlin berufen. Wenn er redete, waren Kirchen und Säle voll. Dem heute häufig zu hörenden Satz „Die Jugend ist unsere Zukunft“ widersprach er schon damals: „Wir wollen die Jugend nicht, um eine Zukunft zu haben. Wir wollen vielmehr, dass die Jugend eine Zukunft hat“, sagte er.
Vermittlung des Evangeliums: „lieber zu einfach als zu kompliziert“
Trotz seiner bodenständigen Theologie und Luther-Verehrung warb Riethmüller dafür, der kirchlichen Jugend bei ihren Bedürfnissen weit entgegenzukommen. Man solle das Evangelium „lieber zu einfach als zu kompliziert“ vermitteln.
Der Schwabe entwickelte die Form der Sprechmotette, in der biblische Texte und Choräle leicht theatralisch aufbereitet wurden. In der Berliner Philharmonie als größtem Konzerthaus der Stadt gab es über zwei Wochen lang eine Aufführung, die von Jugendgruppen einstudiert worden war. Riethmüller schuf damit für viele einen neuen Zugang zur Heiligen Schrift.
„Herr, wir gehen Hand in Hand“
Sein 1932 herausgegebenes Buch „Ein neues Lied – Ein Liederbuch für die Deutsche Evangelische Jugend“ prägte eine ganze Generation. Aus seiner eigenen Feder dürfte „Herr, wir gehen Hand in Hand“ das bekannteste Lied sein – es steht heute im württembergischen Gesangbuch. Auch für die Übertragung alter lateinischer Hymnen und die Neuentdeckung des Liedguts der Böhmischen Brüder setzte sich der Theologe ein. Die Böhmischen Brüder gehen auf den Reformator Jan Hus (1370-1415) zurück.
Am bekanntesten aber sind noch heute die Jahreslosungen. Im Jahr seines 80. Todestages lautet sie: „Gott spricht: Ich will dem Durstigen geben von der Quelle des lebendigen Wassers umsonst.“ (Offenbarung 21, Vers 6).
Marcus Mockler (epd)