Wegweiser in die Zukunft
Pioniere erproben neue Ausdrucksformen von Kirche
Mit vier Räder gegen Kirchenklischees. Es ist ein Bauwagen, ganz eindeutig: die Form, die blaue Farbe. Und doch ist etwas anders an ihm: ein kleiner Glockenturm ist auf dem Dach befestigt; die Fenstern erinnern an Kirchenfenster; drinnen ist der Wagen ausgestattet mit Altar, Kreuz, Kerzen und Christopherusbild. „Natürlich ist es ein Bauwagen, aber es ist vor allem eine Kirche“, erklärt Julia Schönbeck. Zusammen mit einer Gruppe von Ehrenamtlichen aus Obernkirchen mischt sie mit diesem Kirchenmobil den Landkreis auf. Sie wollen Kirche dorthin bringen, wo die Menschen sind: auf Wochenmärkte, Stadtfeste oder Anti-Nazi-Demos.
„Wir sind Kirche!“ Dieser Selbstanspruch vereint viele pionierhafte Initiativen: wir sind nicht nur ein Projekt der Kirche, sondern Kirche selbst. Damit provozieren sie natürlich die Frage: wenn ein Bauwagen, zum Beispiel, Kirche sein kann, was ist dann Kirche eigentlich? Schönbeck schmunzelt: „Diese Frage hören wir tatsächlich sehr oft.“ Ganz bewusst spielen Pioniere mit festgeprägten Bildern, Vorurteilen manchmal, Stereotypen von Kirche. Wenn diese anfangen zu wackeln, wenn sie vielleicht sogar in sich zusammen fallen, dann, so die Hoffnung, können wir hinter die Ausdrucksformen von Kirche schauen und sehen, was Kirche im Kern ist.
In der Betonwüste auch das Schöne sehen
Ortswechsel. Der Stadtteil Datzeberg ist die Platte von Neubrandenburg. 4000 Menschen leben hier. Von Kirche weit und breit nichts zu sehen. Und überhaupt sind Silberstreifen am Hoffnungshorizont rar, auch wenn der Ausblick weit ist, von hier oben aus dem elften Stock: der Stadtteil kämpft mit Arbeitslosigkeit und dem Gefühl von Abgehängtsein. Doch Ralf Neumann vom Verein Polylux sieht hier mehr.
Vor zehn Jahren ist er mit einigen Freunden auf den Datzeberg gezogen. „Community“ nennen sie das. Mittlerweile sind sie dreizehn Erwachsene und acht Kinder. Im Erdgeschoss eines Plattenbaus haben sie eine gemeinsame Wohnung angemietet: hier ist das Wohnzimmer der Community, hier treffen sie sich zu täglichen, liturgischen Gebetszeiten, von hier aus organisieren sie soziale Projekte im Viertel.
„Gott ist auf dem Datzeberg unterwegs“, sagt Neumann wie nebenbei. Was für ihn eine Selbstverständlichkeit zu sein scheint, wird manchen stutzig machen: Gott unterwegs? Im Viertel, nicht in der Gemeinde oder im Gottesdienst? „Wir erwarten, dass Gott in der Welt handelt. Das verändert ganz konkret unsere Sicht auf unsere Projekte. Wir klinken uns einfach ein, in das, was Gott tut“, so Neumann. Missional, so nennt man das in der Sprache der Kirchenpioniere - ein Dasein, das in Gottes eigener Mission wurzelt. „Wir müssen Gott nicht erst in unsere sozialen und kulturellen Angebote reinbringen. Das heißt, es braucht nicht erst eine Andacht, um sie spirituell zu machen.“ Gleichzeitig merken die Polylux-Leute aber auch, wie sich ihr Blick auf die Platte verändert, wie sie nicht nur die Probleme sehen, sondern auch das Schöne. Sie sind überzeugt: der Datzeberg ist eines der meist unterschätzten Stadtviertel.
Ein Ort für Kirchenferne – nur nicht für alle
Ein Laden in Köln-Mühlheim, rechts des Rheins. Industrielle Glühbirnen tauchen einen naturbelassenen Holztisch in warmes Licht. Ein Sofa im Stil der Siebziger in der Ecke, am Ende des Raums eine silberverchromte Kaffeemaschine. Sebastian Baer-Henney trinkt Pils, lokal gebraut, bio und klimaneutral, erklärt er. „Die Ästhetik bei uns sendet natürlich milieuspezifische Signale“, sagt der Pfarrer und Initiator der sogenannten Beymeister. „Das spricht vor allem die Performer und die Adaptiv-Pragmatischen an, das Künstlermilieu der Expeditiven streifen wir nur.“
So lässig die Sprache der Milieuforschung in den Mund zu nehmen, ist immer noch ungewöhnlich für einen Pfarrer, nicht aber für viele Pioniere. Kontextuell wollen sie sein; das heißt, sie wollen für Menschen eines bestimmten Milieus und in deren Lebenswelt neue Ausdrucksformen von Kirche finden - vor allem für solche Menschen, die sonst nicht in die Kirche gehen. Schön und gut. Doch muss Kirche nicht für alle da sein; sollte nicht gerade sie die gesellschaftlichen Barrieren zwischen Menschen überwinden? Baer-Henney reagiert mit einer Gegenfrage: „Ist gemeindliche Arbeit nicht immer per se milieuverengt?“ In seinem Kölner Kirchenkreis beobachtet er, dass ein Gottesdienst oder eine kirchliche Gruppe immer nur ein, zwei Milieus anspricht. „Da ist es ein Akt der Ehrlichkeit zu sagen: wir erreichen nur die und die.“ Für alle da sein, das könne kein kirchliches Angebot für sich allein - die Kirche als Großes-Ganzes vielleicht schon.
Kirchliche Konkurrenz oder Koexistenz?
Doch gerade im Großen-Ganzen holpert die Zusammenarbeit. Pionierkirche, das hört sich für manchen Ortspfarrer suspekt an. Das Neue scheint das Alte ablösen zu wollen, alternative Gottesdienstformen klingen nach Wildern in fremden Parochien. Innerkirchlicher Konflikt ist da vorprogrammiert. „Für uns ist es deshalb wichtig, uns deutlich zum Bestehenden zu bekennen. Wer uns nur als Revoluzzer wahrnimmt, hat unser Kernanliegen missverstanden“, sagt Reinhold Krebs, langjähriger Teamleiter von Fresh X, einem Verein der Pioniere vernetzt. Gleichzeitig wollen sie nicht die Retter der traditionellen Formen sein. „Es würde nichts bringen, kirchenferne Menschen in den Sonntagsgottesdienst zu schleppen“, meint Schönbeck vom Kirchenmobil. „Es scheitert ja nicht daran, dass sie nicht wissen, was wir als Kirche Gutes tun, sondern dass ihnen unsere Angebote nicht entsprechen.“
Wenn es nach den Pionieren ginge, dann gäbe es ein wertschätzendes Nebeneinander der kirchlichen Ausdrucksformen: die Kirche als Wald mit Tannen, aber auch mit Eichen und Buchen – ein Mischwald also, statt Monokultur. Doch Pluralität erfordert Mut und die Bereitschaft, sich zu fragen: Was verbindet uns denn als Kirche wirklich? Sind es die beim Kirchencafé gemeinsam geknabberten Spekulatius, die mehrstimmig gesungenen Lieder von Paul Gerhardt oder ist gar die Bibelübersetzung nach Martin Luther? Vielleicht muss es in der Kirche noch sehr viel mehr wackeln, bis wir sehen, was wirklich trägt, was dauerhaft Bestand hat.
Von Brosamen und Sahnehäubchen: neue Initiativen und der Klingelbeutel
Reinhold Krebs, ein Schwabe, redet übers Geld. In den nächsten sechs Jahren gibt es in der Württembergischen Landeskirche zehn Millionen für innovatives Handeln und neue Aufbrüche. In Mitteldeutschland ist die Landeskirche für ihre sogenannten Erprobungsräume mit derselben Summe dabei. „Wir nehmen diese Signale sehr ernst. Aber gemessen am Gesamtbudget der Landeskirchen sind das natürlich nur Brosamen“, rechnet Krebs. Und so müssen sich viele Pioniergründungen großteils durch Spenden finanzieren, manchmal sogar aus dem Ausland – bei Polylux zum Beispiel aus England, bei Fresh X durch eine amerikanische Stiftung.
„Es ist also nicht so, dass die Kirchen erkannt hätten: es muss eine andere Ressourcenverteilung geben. Aber wie lange wollen wir in unseren kirchlichen Haushalten eigentlich noch das Bestehende selbstverständlich weiter fördern und das Neue dagegen wie ein Sahnehäubchen behandeln, das man sich leistet, wenn man kann“, fragt Krebs.
Eine Frage, die sich Pionieren auf lokaler Ebene nicht immer stellen. Zum einen, weil manche schon von den neueingerichteten Fonds profitieren, das Kirchenmobil und die Beymeister haben so schon Zuschüsse erhalten. Zum anderen, weil viele Pioniere einfach loslegen und machen – irgendwie, auch ohne kirchliche Finanzierung.
Aus dem Weg! Und so Pioniere unterstützen
Pionierhaft handeln, das ist nicht nur etwas für Pioniere per se. „Das kann auch Pfarrer Schmidt aus Hülzelswerder“, meint Sandra Bils. Für Kirche², eine ökumenische Organisation mit Sitz in Hannover, tourt sie durch die Kirchengemeinden und hält Seminare zu Pionierarbeit. „Ich habe im Moment allerdings den Eindruck, dass die Pastorinnen und Pastoren ihr episkopales Amt als Auftrag zur Überwachung verstehen. Aber das Griechische episkopein bedeutet auch: ich halte euch den Rücken frei.“ Fragt man die Pioniere, wünschen sie sich genau das – die Unterstützung der Hauptamtlichen, ihr Zuspruch: Ihr könnt das, und ja, ihr seid auch Kirche. Viele Pfarrer fühlen sich aber überfordert, wenn in ihrer Gemeinde eine Pionierarbeit entsteht: Jetzt muss ich auch noch das leiten, dabei hab ich doch schon so viel, denken sie. Bils empfiehlt ihnen: „Treten Sie zur Seite. Lassen Sie die Ehrenamtlichen ausprobieren und experimentieren.“ Kurz gesagt: Pionierhaft handeln kann es schon sein, Pionieren nicht im Weg zu stehen.
Dabei schlummert auch in manchen Pfarrern ein Pioniergeist. Mancher würde vielleicht gerne selbst alternative Kirchenformen wagen. Für sie gibt es in einigen Landeskirchen bereits spezielle Pionierpfarrstellen. Aber auch Ortspfarrer könnten in Zukunft mehr Freiraum dafür bekommen – daran arbeitet im Moment unter anderem die Bayrische Landeskirche: „Wir überlegen, einige Spezialisierungen im Pfarrberuf zu ermöglichen“, sagt Norbert Roth aus der Kirchenleitung. „Es gibt eben nicht nur die Generalisten, sondern auch die Pfarrer mit einem genuin apostolischen oder evangelistischen Profil. Wie wir das umsetzen, ist gerade in der Überlegungsphase.“ Wieviel Freiraum also wirklich entstehen wird, und welches Verhältnis Pflicht und Kür im Pfarrdienst zueinander haben werden, das bleibt abzuwarten.
Zukunftsweisende Impulse vom Kirchenrand
Der Lack der Kirche ist ab – dieser Eindruck kann nicht zuletzt dann entstehen, wenn man sich die Mitgliederentwicklung oder die Zahl der Gottesdienstbesucher anschaut. Doch die Kirchenpioniere raten: jetzt nur nicht drüber lackieren, sondern noch einmal genau hinschauen, was liegt unter dem Lack und was haben wir denn für ein Grundgerüst. Sie wollen nicht nur ein wenig modernisieren, sie stellen vielmehr die grundsätzlichen Fragen - nicht vom Schreibtisch aus, nicht rein theoretisch, sondern während sie erste Versuche unternehmen, auf unbekanntem Terrain erste Schritte gehen, da denken sie laut, wundern sie sich über das, was um sie herum entsteht. Die Kirche tut gut daran, ihnen zuzuhören.
Rowan Williams, der frühere Erzbischof der Anglikanischen Kirche, betonte stets, dass die Erneuerung der Kirche von den pionierhaften Rändern ausgeht. Der Grund: In Pioniersituationen kommen die Zukunftsfragen auf den Tisch. Es ist also gut möglich, dass diese kleinen Initiativen für die Kirche ihren zukünftigen Weg weisen.
Daniel Sikinger (für evangelisch.de)