Kardinal Reinhard Marx und Landesbischof Dr. Heinrich Bedford-Strohm
Erklärung aus Anlass des 70. Jahrestages der Befreiung des Vernichtungslagers Auschwitz am 27. Januar 2015
Aus Anlass des 70. Jahrestages der Befreiung des Vernichtungslagers Auschwitz am 27. Januar 2015 erklären der Vorsitzende der Deutschen Bischofskonferenz, Kardinal Reinhard Marx, und der Ratsvorsitzende der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD), Landesbischof Dr. Heinrich Bedford-Strohm:
„Am 27. Januar 2015 jährt sich die Befreiung der Konzentrations- und Vernichtungslager Auschwitz I und Auschwitz-Birkenau durch sowjetische Truppen zum 70. Mal. Die Verbrechen, für die Auschwitz als Ort und als Symbol steht, gehören zu den fundamentalen Erfahrungen der Menschheit.
Auschwitz ist der Ort, an dem die Nationalsozialisten die polnische Intelligenz, Roma und Sinti, sowjetische Kriegsgefangene und Angehörige unterschiedlicher Nationen ermordet haben. Vor allem aber ist es der Ort der von Deutschen ins Werk gesetzten, systematischen und industriell betriebenen Vernichtung der europäischen Juden. Auschwitz wurde weltweit zum Synonym für die Shoah.
In Auschwitz wurde das moralische Band der Solidarität zwischen allem, was Menschenantlitz trägt, nicht nur wie so oft in der Geschichte beschädigt, sondern bewusst durchschnitten und bestimmten Gruppen von Menschen wie den Juden wurde ihr Menschsein abgesprochen. Auschwitz ist eine offene Wunde am Körper der Menschheit.
Die bis heute schmerzliche Erinnerung an Auschwitz stellt uns vor die Frage nach Schuld und ihren Folgen sowie nach unserer Verantwortung. Wir, die nach der Befreiung geboren wurden, tragen keine persönliche Schuld. Dennoch liegt die praktische Auseinandersetzung mit den Folgen von Schuld in unserer Verantwortung. Sie bezieht sich auf den Umgang mit der nationalsozialistischen Vergangenheit und auf die Konsequenzen, die wir aus der Beschäftigung mit dieser Vergangenheit für unser politisches und persönliches Handeln und für das Leben unserer Kirchen ziehen. Dazu gehört ein kritisches Verhältnis zu den kulturellen und religiösen Traditionen, in denen wir leben und die uns mit den vergangenen Lebenswelten verbinden, in denen die Shoah möglich war. Als Christen können wir auch der Frage nicht ausweichen, warum die Verbrechen von Auschwitz auf einem Kontinent geschahen, der seit mindestens einem Jahrtausend vom Christentum geprägt wurde.
Das Entsetzen über den Mord an den europäischen Juden und die Frage, inwieweit die lange Tradition des christlichen Antijudaismus dazu beigetragen hat, haben auf kirchlicher Seite zu einer theologischen Neubestimmung des Verhältnisses zum Judentum geführt. Auf katholischer Seite ist dies vor allem im 4. Kapitel der Konzilserklärung „Nostra aetate“ (1965) dargelegt. Die Evangelische Kirche in Deutschland hat diese Neubestimmung in den drei Studien „Christen und Juden I-III“ in den Jahren 1975 bis 2000 vollzogen und die meisten Gliedkirchen der EKD haben das Bekenntnis zur bleibenden Erwählung Israels und zur wurzelhaften Verbundenheit von Kirche und Judentum in ihre jeweiligen Kirchenordnungen aufgenommen. Wir dürfen dankbar sein, dass in den vergangenen Jahrzehnten an die Stelle von Gleichgültigkeit und Ablehnung gegenseitiges Verständnis und nicht selten auch Freundschaft getreten sind. Wir wiederholen gerade an diesem Tag: Die katholische und die evangelische Kirche treten in ökumenischer Gemeinschaft gegenwärtig und zukünftig entschieden jeder Form von Antijudaismus und Antisemitismus entgegen, die, wie die Ereignisse der vergangenen Wochen zeigten, leider immer noch virulent und im Wortsinn tödlich sind.
Die Auseinandersetzung mit Auschwitz, die nicht zuletzt die Erklärung der Menschenrechte 1948 hervorgebracht hat, ist bleibend aktuell. Ohne die Achtung vor der Würde und den Rechten jedes Menschen gibt es kein humanes Zusammenleben. Der Prozess der europäischen Einigung ist eine wegweisende politische und zugleich zutiefst kulturell verwurzelte Antwort auf diese Erfahrung. Mit großer Sorge sehen wir, dass das europäische Projekt heute von innen und außen empfindlich herausgefordert wird. Angesichts der unzähligen Opfer von Gewalt und Menschenverachtung ist es eine Frage der Treue zu ihnen und zu uns selbst, dem Erstarken menschenverachtender, fremdenfeindlicher und nationalistischer Bewegungen in Europa entschieden entgegenzutreten, den Hilfsbedürftigen zur Seite zu stehen und den Menschenrechten Geltung zu verschaffen. Das Evangelium von Jesus Christus verpflichtet uns auf diesen gemeinsamen unbedingten Auftrag.“
Hannover/Bonn, 23. Januar 2015