Wann beginnt das Menschsein? - Die Kontroversen offen benennen
EKD veröffentlicht Kammertext zur Medizin- und Bioethik
Eine neue Studie der Kammer für Öffentliche Verantwortung der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) lässt in der Frage, wann das Menschsein beginnt, unterschiedliche Grundpositionen erkennen. Der Ratsvorsitzende der EKD, Präses Manfred Kock, wertet dies als ein Zeichen dafür, "dass die kontroversen Standpunkte innerhalb unserer Kirche klar ausgesprochen werden". Ethische Urteilsbildung könne nur "in jener persönlichen Verantwortung vor Gott" vollzogen werden, "in welche Christen ihr gesamtes Leben und Handeln gestellt sehen".
Der Text erscheint am 13. August 2002 unter dem Titel „Im Geist der Liebe mit dem Leben umgehen" in der Reihe "EKD-Texte" als Nr.71. Vorsitzender der Kammer ist der Heidelberger Sozialethiker Prof. Dr. Wilfried Härle. Zu den Mitgliedern zählen u.a. die Bundestagsabgeordnete Margot von Renesse, der ehemalige Präsident des Bundesverfassungsgerichts Ernst Benda, das Mitglied des Nationalen Ethikrats Prof. Dr. Richard Schröder und die Sozialethiker Prof. Dr. Johannes Fischer und Prof. Dr. Klaus Tanner.
Menschenwürde und Embryonenschutz
Der Umgang mit Embryonen und der Schutz der Menschenwürde stehen nach Überzeugung der Kammer in einem sachlichen Zusammenhang. "Die staatliche Verpflichtung auf den Schutz der Würde des Menschen" habe "auch einen objektiv-rechtlichen Charakter, der sich auf den Menschen als Gattungswesen ... bezieht. Hierzu gehört auch ein Umgang mit menschlichen Embryonen in allen Entwicklungsstadien, der deren besonderen Status achtet und allen Tendenzen, sie wie jede beliebige Ware zu behandeln, wehrt."
Einig ist sich die Kammer auch darin, dass Embryonen nicht zu Forschungszwecken erzeugt werden dürfen. Ebenso lehnen die Kammermitglieder das reproduktive Klonen ab, das auf die Entstehung eines Menschen abzielt. Konsens besteht ferner darin, "die im geltenden deutschen Recht enthaltene zahlenmäßige Begrenzung der bei der In-vitro-Fertilisation hergestellten Embryonen beizubehalten."
Wann beginnt das Menschsein?
An dieser Frage machen sich zwei unterschiedliche Grundpositionen in der Kammer fest. Ein Teil der Mitglieder sieht den Embryo bereits ab der Befruchtung der Eizelle als einen sich entwickelnden Menschen, der durch das Grundgesetz (Art.1 und 2) geschützt ist. Die andere Auffassung spricht vom vorgeburtlichen Menschsein nur dann, wenn die äußeren Umstände für eine Entwicklung gegeben sind. Darunter ist insbesondere die Einnistung der befruchteten Eizelle in die Gebärmutter zu verstehen.
Aus den kontroversen Grundpositionen resultieren die Dissense hinsichtlich der Freigabe von so genannten „überzähligen" Embryonen für die Forschung, hinsichtlich der Nutzung embryonaler Stammzellen, hinsichtlich der Gewinnung von embryonalen Stammzellen durch therapeutisches Klonen, aber auch hinsichtlich der ethischen Vertretbarkeit der in Deutschland rechtlich nicht zugelassenen Präimplantationsdiagnostik.
Ein eigener Abschnitt ist der Aufgabe gewidmet, trotz fortbestehender Dissense "eine Reihe von Gemeinsamkeiten auch in zentralen Fragen zu formulieren". Dazu zählt das Plädoyer für eine Haltung, die sich "angesichts bestehender Unklarheiten und Dissense für möglichst risikoarme und vorsichtige Handlungsmöglichkeiten (insbesondere in rechtlicher Hinsicht)" entscheidet.
Der Rat der EKD hat zu den in der Kammer strittigen Fragen in den letzten zwei Jahren mehrfach eindeutig votiert: Der Schutz der Würde und des Lebensrechts des Menschen erstreckt sich auch auf menschliche Embryonen. Präses Kock bekräftigt diese Überzeugung in seinem Vorwort zu der Studie ausdrücklich. Dennoch hat der Rat der Veröffentlichung des Textes zugestimmt. Das schaffe für die Vertreter unterschiedlicher Positionen die "Möglichkeit, den eigenen Standpunkt einer kritischen Prüfung zu unterziehen." Präses Kock fügt die Mahnung hinzu: "Wir sollen uns im Dissens nicht einrichten. Wir brauchen vielmehr dringend die Bereitschaft, aufeinander zu hören, und jedenfalls die ernsthafte Absicht, uns bei besserer Belehrung auch zu korrigieren."
Im "Geist der Liebe" handeln
Der Geist der Liebe ist mit dem christlichen Glauben untrennbar verbunden. Darum besteht die ethische Aufgabe vorrangig darin, zu verstehen, welche Regeln um der Liebe willen, d.h. im Interesse des Schutzes und der Förderung des Anderen auch in seiner Bedürftigkeit und Verletzlichkeit, Beachtung verdienen. Aber es kommt auch darauf an, die Grenz- und Einzelfälle wahrzunehmen, die sich nicht unter allgemeine Regeln fassen lassen. Solche "Sensibilität fürs Individuelle" ist ein wesentliches Merkmal einer Haltung, die im Christentum als Liebe beschrieben wird.
Spektrum der Themen
Das Kammerpapier diskutiert eine Vielzahl von weiteren Themen. Die Bandbreite reicht von den Rahmenbedingungen der aktuellen Diskussion über die christliche Sicht des Menschseins bis hin zu Problemen am Ende menschlichen Lebens, etwa der aktiven und passiven Sterbehilfe.
Zur vorgeburtlichen Diagnostik heißt es, sie sei heute nahezu eine Routinemaßnahme und führe dazu, dass bei einer dadurch festgestellten Behinderung sehr häufig ein Schwangerschaftsabbruch erfolge. Daher appelliert die Kammer, die vorgeburtlichen Untersuchungen kritisch zu reflektieren. Aufgabe der Kirche solle es verstärkt sein, Eltern in Not zu helfen und sie seelsorgerisch zu begleiten.
Schließlich geht die Veröffentlichung auf die Situation des Gesundheitswesens ein und ruft in Erinnerung, "dass nicht Krankheit und Gesundheit, sondern kranke und gesunde Menschen das Zentrum des Gesundheitswesens ... bilden." Ein Aspekt, der in der öffentlichen Diskussion bisher weitgehend unberücksichtigt blieb, liegt nach Auffassung der Kammer in der einseitigen Ausrichtung der medizinischen Forschung auf die Bedürfnisse der reichen Gesellschaften. Die Vernachlässigung der Interessen der Menschen in den Entwicklungsländern sei "ethisch problematisch".
Hannover, den 13. August 2002
Pressestelle der EKD
Der Text im Wortlaut