Predigt Bundeskongress Notfallseelsorge und Krisenintervention am 11. Mai 2023 im Augustinerkloster in Erfurt
Dr. h.c. Annette Kurschus, Präses der Evangelischen Kirche von Westfalen und Vorsitzende des Rates der EKD
I.
Martha, liebe Gemeinde, hat Kaffee gekocht. Wie immer, wenn ich sie damals als Gemeindepastorin besuchte. Über dampfenden Tassen erzählt sie mir, wie das war 1945 – und wie sie damals, während der letzten Zuckungen des Kriegs, die Flucht aus Ostpreußen überlebt hat. Als junge Frau von nicht einmal zwanzig Jahren wird sie von ihrer Familie getrennt und schlägt sich auf abenteuerliche Weise durch. Was für eine starke Frau, denke ich oft. Viele ihrer Geschichten kenne ich inzwischen, und doch höre ich ihr immer wieder atemlos zu. Ich liebe den ostpreußischen Singsang ihrer Stimme, der mir aus der Familie meines Vaters so vertraut ist. Wenn Martha erzählt, erinnert mich das an meine Oma. Auch sie ist im Januar 1945 aus Ostpreußen geflüchtet, mit ihren beiden Söhnen, der dritte und älteste war als 17Jähriger in diesem entsetzlichen Krieg geblieben. Weder Martha noch meine Oma haben es ganz allein geschafft. Martha berichtet dankbar von gutmütigen Leuten, die sie unter die Fittiche genommen und ihr geholfen haben. Das wird sie denen nicht vergessen.
Nie. Marthas Fluchtgeschichte ist gut ausgegangen, jetzt sitzen wir wohlig in ihrer guten Stube zusammen. Auch die Fluchtgeschichte meiner Oma ging letztlich gut aus. Sonst gäbe es mich gar nicht.
Ein Besuch bei Martha hat mich schwer verstört.
Da hatte sie eine Geschichte parat, die mich komplett verwirrte.
„Ich war allein auf dem Feld unterwegs, da kommt ein wilder Eber auf mich zugestürmt“, erzählt Martha. Und es ist, als sähe sie im Erzählen diesen Eber vor sich. Auf einmal ist trotz der dampfenden Kaffeetassen gar keine wohlige Atmosphäre mehr im Raum, sondern ein diffuses Grauen. Es packt beim Zuhören unwillkürlich auch mich, dieses Grauen vor dem wütenden Tier. Martha erzählt es buchstäblich mit ihrem ganzen Körper und mit einem jähen Schrecken im Gesicht: Wie der schnaubende Eber mit seinem Rüssel den Boden aufreißt und sie brutal anfällt. Wie sie sich hinwirft und das Untier über sie stürmt, und wie sie sich endlich mit Mühe und Not vor ihm retten kann. Lädiert und blutig und verdreckt ist sie danach in ihrer Unterkunft angekommen. Das war schlimm. Aber: Sie ist mit dem Leben davongekommen. Und es ist gut geworden, ihr Leben. Auf einmal lächelt sie wieder ihr unvergleichliches Lächeln, in dem eine Mischung liegt aus Güte und Dankbarkeit und Stolz. Und zum Schluss drückt sie mir einen großen Geldschein in die Hand: „Sie wissen schon, wer es nötig hat.“
II.
Erst auf dem Heimweg habe ich damals begriffen, was ich da gehört hatte: Marthas Apokalypse. Marthas Offenbarung. Lange habe ich über diese wüste Geschichte nachgedacht. Eine Geschichte voller Gewalt und Ohnmacht und Scham. Inzwischen bin ich überzeugt: Martha hat mir damals ihre Vergewaltigung offenbart. Mit der Geschichte von ihrem Kampf mit dem wilden Eber hat sie eine verhüllende Sprache gefunden für das Unsagbare, das absolut Unaussprechliche. Unverhüllt hätte sie es vermutlich nicht erzählten können. War es ein Gleichnis, das sie in dem Moment fand, um mich ins Vertrauen zu ziehen? Oder war das unerträgliche Ereignis in ihrer Seele zu diesem Bild geronnen? Ich weiß es nicht. Aber gespürt habe ich es: dieses unzertrennliche Miteinander und Ineinander von Verhüllung und Offenbarung, von bedecken und aufdecken. Und ich wusste intuitiv: Die schützende Hülle der Symbolsprache darf ich auf keinen Fall wegziehen und in Frage stellen.
An Marthas Apokalypse habe ich mich erinnert bei den Worten aus Offenbarung des Johannes, die wir eben hörten.
„Apokalypsis“ ist das erste Wort der letzten Schrift des Neuen Testaments. Es bedeutet aus dem Griechischen übersetzt: Entschleierung, Aufdeckung,
Offenbarung. Wer in der Offenbarung des Johannes liest, empfindet zunächst das glatte Gegenteil: Ein surreales Feuerwerk von seltsamen Bildern und geheimnisvollen Symbolen, eine Fülle von rätselhaften Decknamen und Zahlencodes. Dieses Buch der Bibel erscheint eher als alptraumhafte Verhüllung, Verschleierung, Verrätselung der Wirklichkeit. Wer bitte soll das verstehen?
III.
Vieles verstehen wir heute tatsächlich nicht mehr. Aber diejenigen, die damals die Wirklichkeit des Johannes teilten, haben ihn sehr gut verstanden. Und da, wo heute Katastrophen hereinbrechen, wo heute blanke Gewalt grassiert, da treffen die Bilder und Symbole ins Mark. So redet man in einer verkehrten Welt, an der man selbst verrückt zu werden droht. So spricht man in einer traumatischen Situation, um aufrecht zu bleiben. So schreibt man, wenn man in Deckung gehen muss; wenn man nicht offen schreiben darf oder kann über das, was ist.
Vieles in der Offenbarung des Johannes ist gründlich missverstanden worden. So viel Schindluder wurde und wird mit ihr getrieben, so viel Quacksalberei unter Berufung auf sie verkauft, soviel Angstmacherei und Gewaltverherrlichung geschürt, so viel Terror entfesselt mit Träumen vom Tausendjährigen Reich.
Nein, die Offenbarung des Johannes liefert keine Prognose, aus der man das Datum des Weltuntergangs errechnen könnte. Sie ist weder katstrophenbesoffen noch frönt sie einer Schwarzmalerei, die die Welt zum Teufel gehen lässt. Ganz im Gegenteil: Sie analysiert messerscharf und schonungslos die Gegenwart. „Schau hin!“, heißt es da immer wieder.
„Komm!“ und „Sieh!“.
Was mit sieben Siegeln verschlossen ist, wird geöffnet. „Öffnen“ ist eines der Lieblingswörter des Johannes. Öffnen ist eine Meisterleistung, eine hohe Kunst: Das erleben alle, die sich mit Extremsituationen und Ausnahmefällen auskennen. Seelsorgerinnen und Seelsorger in Notfällen können ganz eigene Lieder davon singen. Wenn von einem Moment zum anderen für einzelne Menschen die Welt untergeht; wenn sich aller Sinn und jeder Weg von jetzt auf gleich verschließen; wenn ein unerwartetes Ereignis im Nu alles komplett aus der Bahn wirft – dann ist „Öffnen“ Ihre Arbeit als Seelsorger*innen. „Öffnen“, und wenn es nur ein klitzekleiner Spalt ist, durch den – ja, was? Hoffnung nicht; Trost auch nicht, das wäre vermessen – aber Ruach, Atem, Lebensgeist, einziehen kann, auf dass Gewalt und Tod nicht die Alleinherrschaft behalten. Dazu müssen Sie zuallererst sich selbst dem Blick auf Leid und Unheil aussetzen.
IV.
Albrecht Dürer kannte keine Notfallseelsorge. Und doch nimmt sein Holzschnitt in gewisser Weise Ihren Blick, Ihre Perspektive als Notfallseelsorger*innen ein. Wer Dürers Werk betrachtet, ist sehr nah dran, nimmt das Geschehen aus kürzester Entfernung wahr – befindet sich selbst aber doch nicht direkt vor oder unter dem Reitersturm. Ein heikler Ort, von dem man eigentlich weglaufen möchte. Der Ort ist leicht erhöht den Gefallenen gegenüber – und zugleich durch die Initialen Albrecht Dürers mit ihrer Ebene verbunden, ganz unten. Sehr nah und doch in Distanz. Und da stehen Sie und flüchten nicht. Da halten Sie aus und laufen nicht weg.
Die biblische Apokalyptik öffnet den Blick auf die Welt, wie sie ist. Mit all ihren Schrecken und Hässlichkeiten und Abgründen. Und sie öffnet noch mehr: Sie deckt Ursachen und Verantwortlichkeiten auf. Sie lässt es nicht zu, die Katastrophen aufs Wetter zu schieben, die Rasereien auf das Schicksal – und Seuchen, Krieg und Inflation auf den Lauf der Dinge. Sie ist Aufklärung mit anderen Mitteln, zum Beispiel mit dem Mittel der Überblendung. Und zwar bis es wehtut.
Johannes stellt in grelles Licht, was passiert: Wenn man einfach weitermacht wie bisher. Wenn man mitmacht, was alle machen. Wenn man sich nicht entschieden gegen das Böse wendet. Johannes schaut hinter die vielfältigen Masken der Macht, die oft grausames Unrecht bemänteln. Er tut dies in einer wilden, farbigen, leidenschaftlichen Sprache, die ihre Bilder von Mythen und Propheten leiht.
Kompromisslos prangert er den Mythos an, mit dem der weltliche Kaiser sich als Gott zelebriert. Und er fordert: „Passt euch nicht an! Macht da nicht mit!“ Ob ich das schaffen würde?
V.
Die Offenbarung des Johannes mit ihren verstörenden Bildern ist Krisenliteratur, Widerstandsliteratur und Trostliteratur – alles in einem. Und zwar nicht geschrieben aus höherer Warte, sondern von denen, die unter die wilden Eber und die stürmenden Rosse kommen.
Martha, die ostpreußische Frau aus meiner Gemeinde, und Johannes der biblische Seher: beide sind Davongekommene. Martha hat den Zweiten Weltkrieg und die Flucht aus der Heimat überlebt, Johannes die römische Strafkolonie auf Patmos. Beide finden in surrealen Bildern eine Sprache für das, was ihnen persönlich angetan wurde – und was doch weit hinausweist über ihr persönliches Leid.
Was sie erlebt haben, ist Teil der kollektiven Erfahrung in einer Welt im Zusammenbruch. Martha schildert den alptraumhaften Kampf mit dem wütenden Eber. Johannes erzählt von einem weißen, einem roten, einem schwarzen und einem fahlen Pferd, auf denen vier Reiter voranstürmen. Sie bringen Krieg und Aufstand, Inflation und Hunger, Seuchen und gewaltsamen Tod. Er hat mit den apokalyptischen Reitern die Ikone eines endzeitlichen Weltgefühls geschaffen. Dieses Gefühl hat Künstler aller Zeiten inspiriert, und gegenwärtig kann es auch uns gelegentlich überkommen.
Die jungen Leute etwa, die sich aus Protest auf der Straße festkleben, nennen sich „Letzte Generation“. Sie malen aus, wie die Zukunft aussehen wird, wenn sich nichts ändert, und finden leicht Anschluss an das, was Johannes sieht: „Ein Drittel der Erde verbrannte, ein Drittel der Bäume verbrannte, und alles grüne Gras verbrannte“. (Johannes 8,7)
Live und in Farbe scheint sich die Apokalypse vor unseren Augen zu ereignen in den erschütternden Bildern aus Norditalien während der Coronazeit; im Pressefoto des Jahres von der sterbenden schwangeren Iryna Kalinina, die durch die noch rauchenden Trümmer getragen wird; im Bild vom türkischen Vater, der die Hand seiner unter Trümmern verschütteten toten Tochter hält; in Handyvideos von den Fluten im Ahrtal, die Menschen, Bäume und Häuser wegspülen wie Spielzeug.
All diese Anblicke haben uns nacheinander erreicht, aber in der Seele gibt es kein Nacheinander, da lagern sie ineinander, übereinander und durcheinander.
VI.
Verdoppeln aber die apokalyptischen Bilder der Bibel das Elend nicht nur? Ziehen sie nicht runter und reißen in Mutlosigkeit und Depression? Oder sagen sie gar – was ich noch gefährlicher finde: „So muss es sein, so ist es Gottes Plan, hier steht´s geschrieben!“? So kann man zu Recht fragen. Und darum muss sehr vorsichtig und verantwortungsbewusst sein, wer geistlich mit den Texten und Bilder aus der Offenbarung hantiert.
Fundamentalisten waren während der akuten Coronazeit verdächtig schnell dabei, das Virus als Strafe Gottes und Vorbote des göttlichen Strafgerichts zu identifizieren. Die liberale theologische Reaktion folgte auf dem Fuße: Unsinn! Corona ist keine Strafe Gottes! Aber Schnelligkeit geht manchmal auf Kosten der Präzision.
Johannes hat diese Präzision, die durchaus schmerzhaft ist. Er sieht die Nöte und Seuchen seiner Zeit nicht als Zufälle der Zeitläufte. Er betrachtet sie im Schuldzusammenhang menschlicher Gleichgültigkeit oder Bosheit.
Die biblische Apokalyptik ist der verzweifelte Protest: Das darf doch nicht wahr sein! Und der laute Schrei der Seelen der Hingemetzelten: Wie lange?! Sie rufen nach Gerechtigkeit. Sie fragen: Wie passt Gottes Gerechtigkeit zusammen mit dem Übel der Welt? Und sie antworten darauf sehr praktisch: Gott selbst wird das Böse und die Bösen richten! Dabei mutet uns die Offenbarung des Johannes den unangenehmen Gedanken zu, beim Kampf gegen das Böse könnten auch Unschuldige getötet werden. Nicht, weil Gott sie umbringen will, sondern weil sie unter die Räder kommen. Gott richtet die Bösen so, dass die Folgen ihrer Bosheit eintreffen und auf sie fallen – aber eben nicht allein auf sie.
VII.
In all dem ist Johannes zutiefst gewiss: Der Kampf ist längst entschieden. Christus wird siegen, und mit ihm die Liebe und die Gerechtigkeit. In unserem heutigen Lesungstext reitet der Sieger auf dem weißen Pferd den anderen Reitern voraus. Weiß ist die Christusfarbe, die Farbe der Auferstehung und des Lebens.
Dieser siegesgewisse Reiter auf dem weißen Pferd: Das ist der stille Begleiter, der unerkannt neben den beiden Jüngern auf ihrem Weg von Jerusalem nach Emmaus geht. Was für unterschiedliche Bilder: Hier der Sieger, sogar über den Tod. Da der Unerkannte, Leise, der da ist. Der an der Seite bleibt, wo Trauer und Entsetzen lähmen – und sich unerwartet zu erkennen gibt, als er das Brot bricht.
Ein Bild braucht das andere: Was sollte uns entsetzten Menschen allein der strahlende Held? Wie gut, dass er auch nah ist! Und was sollte uns ängstlichen Leuten allein der nahe Begleiter? Wie gut, dass er göttliche Kraft hat und sogar den Tod bezwingt!
Johannes weiß: Gott wird die Welt nicht nur ein bisschen verbessern. Er wird einen neuen Himmel und eine neue Erde schaffen. So ist die Offenbarung des Johannes auch ein kräftiges Zeugnis der Hoffnung. Leid und Unheil werden nicht endlos sein. Gott wird dem Tod Ende und Grenze setzen und alle Tränen abwischen.
Nicht zufällig hat die Offenbarung des Johannes am Ende der ganzen Heiligen Schrift ihren Platz gefunden. Die Bibel endet mit einem hellen Bild des Heils, mit einem lichtvollen Ausblick:
Es wird keine Nacht mehr sein, und sie werden weder eine Lampe brauchen noch das Licht der Sonne; denn Gott, der Herr, wird über ihnen leuchten, und sie werden regieren von Ewigkeit zu Ewigkeit.“ (Offenbarung 22,5)
Und mit dem Gebet: „Amen, komm, Herr Jesus!“ (Offenbarung 22,20)
Am Schluss keine Weisheit, kein Trost, nichts, was das Leid in den Griff bekommt.
Am Ende nur ein Vertrauen. Das Vertrauen: Es wird aufhören. Gott wird einen neuen Himmel und eine neue Erde schaffen, und es wird keine Nacht mehr werden.
Am Ende nur eine Haltung: Hände, zum Gebet gefaltet.
Mehr haben wir nicht
Mehr brauchen wir nicht.
Amen. Komm, Herr Jesus!