Predigt beim Jubiläumsgottesdienst zum 75. Geburtstag der CDU/CSU-Bundestagsfraktion

Prälatin Dr. Anne Gidion
Bevollmächtigte des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland bei der Bundesrepublik Deutschland und der Europäischen Union

 

Anne Gidion

Aus dem Brief des Apostels Paulus an die Gemeinde in Rom im 8.Kapitel

Welche der Geist Gottes treibt,
die sind Gottes Kinder.
Denn ihr habt nicht einen Geist der Knechtschaft empfangen,
dass ihr euch abermals fürchten müsstet;
sondern ihr habt einen Geist der Kindschaft empfangen,
durch den wir rufen: Abba, geliebter Vater!
Der Geist selbst gibt Zeugnis unserm Geist, dass wir Gottes Kinder sind.
Sind wir aber Kinder,
so sind wir auch Erben,
nämlich Gottes Erben und Miterben Christi,
da wir ja mit ihm leiden,
damit wir auch mit ihm zur Herrlichkeit erhoben werden.

(Wort des lebendigen Gottes – Dank sei Gott dem Herrn)

Liebe Festgemeinde – liebes Geburtstagskind oder, anders gesagt: liebe Mitglieder dieses Geburtstagskindes,

eines Tages werden wir alt sein. Wir werden alt sein
und an all die Geschichten denken, die wir hätten erzählen können.

Wir sind jung und haben viel Zeit.
Warum sollen wir was riskieren,
wir wollen doch keine Fehler machen,
wollen auch nichts verlieren.

Und es bleibt so viel zu tun,
unsere Listen bleiben lang
und so geht Tag für Tag
ganz still ins unbekannte Land.

Eines Tages werden wir alt sein. Wir werden alt sein
und an all die Geschichten denken, die wir hätten erzählen können.

So oder so ähnlich textete vor elf Jahren eine junge Frau (Julia Engelmann) bei einem Poetryslam. Von ihr habe ich diese Worte geerbt, die ich Ihnen heute weiterschenke oder in Erinnerung rufe.

Eines Tages werden wir alt sein. Wir werden alt sein
und an all die Geschichten denken, die wir hätten erzählen können.

Das hört sich nach ferner Zukunft an. Zugleich ist das Geburtstagskind von heute schon ein Best Ager, ein Silver Surfer, eine rüstige Rentnerin, in einem Alter, im dem selbst Kardinäle langsam an den Ruhestand denken müssen. 
1.September 2024: 75 Jahre seit dem 1.September 1949. Durch diesen Tag schimmert auch der 1. September 1939 hindurch – und gewiss nicht zufällig haben die Väter und Mütter Ihrer Fraktion auf den Tag genau zehn Jahre später, etwa einen halben Monat nach der ersten Bundestagswahl, die Kraft und den Mut gehabt, emporzukrabbeln aus den Ruinen des moralischen, politischen, wirtschaftlichen Zusammenbruchs. Aus dem Vermissen, der Trauer um so viele. Und mit der langsamen Erkenntnis, was da eigentlich ausgegangen war zehn Jahre vorher mit deutschem Marschbefehl, sechs folgenden Jahren Desaster mit Millionen Toten und Zerstörung und Hass.

1.September. In der DDR als Weltfriedenstag gefeiert. In der internationalen Ökumene der Tag der Schöpfung. Wahrlich ein verdichteter Tag für Miterben der christlichen Verheißung. Und wer weiß, wie wir in ein paar Jahren unter noch ganz anderen Rücksichten an diesen Tag denken werden.

Eines Tages werden wir alt sein. Wir werden alt sein
und an all die Geschichten denken, die wir hätten erzählen können.

Was wohl die Mütter und Väter Ihrer Partei damals gedacht haben vor 75 Jahren? Wie sie wohl gehofft haben, jenseits der großen Parteiprogrammsätze? Was sie, jeder und jede, an Verantwortung übernommen haben?

Vielleicht so:

Eines Tages werden wir alt sein. Wir werden Erben sein.
Und wir werden an all die Geschichten denken, wir dann erzählen können.

Geschichten von Wiederaufbau. Von Einigkeit und Recht und Freiheit. Von einer Zukunft, die besser wird. Von Arbeit und Verdienst für alle. Von Frieden natürlich.
Von Demokratie. Von Frauenbeteiligung. Von Sozialversorgung. Von christlichem Arbeitsethos.

Ein paar Textstrophen später: Von europäischer Einheit und vom Fall der Mauer. Von blühenden Landschaften. Aber auch – von Gefährdungen. Bedrohungen. Angezählter Demokratie.

Eines Tages werden wir alt sein und werden an all die Geschichten denken, die wir dann erzählen können.

Paulus schreibt seiner konfliktgeschüttelten Gemeinde in Rom im Ton seiner Zeit, dass sie Erben sind. Auch wenn sie das vielleicht gar nicht fühlen. Oder lieber klarere Durchsagen von ihm haben wollen. Er schreibt ihnen, dass sie Erben sind, auf breiten Schultern stehen und Zukunft haben – obwohl sie sich streiten und angstvoll sind, wie es weitergeht mit ihnen. Sie haben Großartiges geerbt, schreibt Paulus der Gemeinde in Rom. Und es gilt, dies Erbgeschenk erst einmal auszupacken, kennenzulernen, wertzuschätzen, ja, auch das, wofür man nichts kann. Und auszusortieren, wo alte und neue Grenzen sind.
So ein Erbe ist ja mehr als Geld und ein Name. Mehr als ein Programm, egal wie frisch grad erst beschlossen.

Wenn wir dann alt sind – so slammte Julia Engelmann damals weiter -
und unsere Tage knapp,
und das wird sowieso passieren,
dann erst werden wir kapieren,
wir hatten nie was zu verlieren –
denn das Leben, das wir führen wollen,
das können wir selber wählen.

Also lass uns doch Geschichten schreiben,
die wir später gern erzählen.

Die junge Frau textet hinein in ein Lebensgefühl vieler Jüngerer in unserem Teil der Welt und in unserem nachbürgerlichen Milieu – in ein Lebensgefühl im Konjunktiv. Wir könnten fast alles, denken so manche, und machen nichts – und leben im hätte, wollte, könnte, müsste, vielleicht heute, morgen, irgendwann. Dagegen textet sie an und schubst sich und nicht nur ihre Generation in die Gegenwart. Sie wort-erfindet eine Zukunft herbei, die es später wert ist, erzählt zu werden.

Das tut Paulus in seiner Weise auch – indem er Vergangenheit deutet, die Gegenwart neu beleuchtet und die Zukunft an den Horizont zeichnet. In seinen Gemeinden gibt es Streit – immer geht es um die Frage: Wer gehört dazu? Wer ist deutungsberechtigt? Wie geht es weiter? Wer steht zu uns und wer nicht? Wen schließen wir aus? Wen und was geben wir auf keinen Fall preis?

Paulus stellt das Bild vom Erben dagegen und seinen radikalen Glauben an ein anderes Leben mit Christus.

Wer zu Christus gehört, erbt etwas, schreibt er.
Was ist das – Mitleben und Mitleiden? Paulus deutet just dies als Miterben. Ich bekomme von den Vätern und Müttern etwas überliefert, was ich mir nicht ausgesucht habe. Verantwortung. Narrative. Muster. Ja, auch Schuld. Aber auch: den Reichtum, den ich nicht selbst verdienen muss, und die Chance, auf starken Schultern zu stehen und etwas daraus zu machen. Mehr Freiheit, mehr Menschlichkeit, die Fähigkeit zum Mitleid, Verantwortung für mehr als für mich selbst.
Paulus weiß es, und die junge Slammerin weiß es, und wir wissen es doch auch: Menschen sind zum Schlimmsten und zum Größten in der Lage. Zum Anpacken und zum Verstolpern. Zum ansteckenden Begeistern und zum populistischen Vergiften. All das steckt in uns Menschen drin. Begleitet von Qualm und Rauch und Krise – und vom Geist Gottes.
Das Geburtstagsgeschenk für heute, von heute ist: Gottes Geist führt in ein neues Verhältnis zum Leben. Als Erbinnen und Erben stehen wir auf den Schultern vieler anderer, die wiederum auf Schultern stehen.
 
Erben verpflichtet. Wird geschenkt und macht stark und liefert, was man nicht mehr selbst leisten muss. Nicht Furcht. Sondern Vertrauen. Empathie. Dankbarsein. Verantwortung.

Der 1. September 2024 als der Tag, an dem Sie sich fragen lassen: Wie wollen wir, dass man später von uns erzählt?

Eines Tages werden wir alt sein. Wir werden an all die Geschichten denken, die wir dann erzählen können. Von den Menschen und vom Gott.

Eines Tages?
Jetzt. Heute. Hier.  
Amen.

(1.9.24, Bonner Münster)