Predigt im ökumenischen Gottesdienst anlässlich der konstituierenden Sitzung des Deutschen Bundestages am 26. Oktober 2021 in Berlin
Prälat Dr. Martin Dutzmann, Bevollmächtigter des Rates der EKD bei der Bundesrepublik Deutschland und der Europäischen Union
Psalm 20 i. A.
Gnade sei mit euch und Friede…
Liebe Schwestern und Brüder,
bestimmte Psalmen der Bibel sind vielen von uns geläufig. Der 22. Psalm etwa, der mit dem verzweifelten Schrei „Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?!“ beginnt. Oder der 23. Psalm, den viele sogar in voller Länge auswendig aufsagen können: „Der Herr ist mein Hirte, mir wird nichts mangeln. Er weidet mich auf einer grünen Aue und führet mich zum frischen Wasser…“ Anders verhält es sich mit dem 20. Psalm. Der wird in unseren Gemeinden nur selten gebetet und gepredigt. Aber heute Morgen werden wir uns diesem fremden Bibeltext nähern. In Luthers Bibelübersetzung ist der 20. Psalm nämlich so überschrieben: „Gebet des Volkes für seinen König“. Zwar wird heute kein König inthronisiert, sondern es tritt ein demokratisch gewähltes Parlament erstmals zusammen. Aber einem antiken König wie einem modernen Parlament ist gemeinsam, dass ihnen Macht übertragen wurde und politische Verantwortung aufgetragen ist. Hören wir deshalb an diesem besonderen Tag zunächst die ersten Verse aus Psalm 20, dem „Gebet des Volkes für seinen
König: „Der HERR erhöre dich in der Not, der Name des Gottes Jakobs schütze dich! Er sende dir Hilfe vom Heiligtum und stärke dich aus Zion!“
Selbstverständlich ist das nicht, dass ein Volk für seinen König betet. Warum tun die Israeliten das? Warum bringen sie den, der Macht hat und politische Verantwortung trägt, im Gebet vor Gott? Eine erste Antwort liegt in dem Gebet selbst: „Der HERR erhöre dich in der Not, der Name des Gottes Jakobs schütze dich! Er sende dir Hilfe vom Heiligtum und stärke dich aus Zion!“ Die Israeliten sind davon überzeugt: Auch ein König, und sei er noch so stark, kann und wird in Not geraten. Auch ein König kann und wird Schutz brauchen und Hilfe und Stärkung.
Was für den israelitischen König galt, das gilt auch für das deutsche Parlament und für Sie, die Sie ihm nun angehören: Auch Sie werden möglicherweise Not verspüren. Denken wir an die letzte Wahlperiode und die Not, die die Corona-Pandemie über unser Land und die Welt gebracht hat. Die Parlamentarier – viele von Ihnen erinnern sich - wurden in ihren Wahlkreisen damit konfrontiert, dass viele Menschen an Covid-19 erkrankten oder gar starben. Ihre Not bestand in dem Konflikt, sich einerseits schützend vor die ihnen anvertrauten Menschen stellen und dazu andererseits die Freiheitsrechte anderer Menschen einschränken zu müssen. Ein Konflikt, den die Abgeordneten, als sie sich vor fast vier Jahren auf ihrem Platz im Reichstagsgebäude niederließen, kaum vorausgeahnt haben dürften.
Oder denken wir an die Not, die der vom Parlament immer wieder neu beschlossene Einsatz in Afghanistan bedeutete. Die Abgeordneten, die dem Bundestag zwischen 2001 und 2021 angehörten, hatten Gutes vor: Sie wollten Frieden für das Land am Hindukusch. Sie wollten den Aufbau der Demokratie sowie die Durchsetzung der Menschenrechte schützen – und mussten in den vergangenen Wochen mit ansehen, wie diese Hoffnung binnen kürzester Zeit zunichte gemacht wurde.
Wie einst der israelitische König brauchen Sie heute als Abgeordnete des Bundestages Schutz und Hilfe - auch jenseits von Notsituationen. Es ist ja keineswegs mehr so, dass das Amt der Volksvertreterin oder des Volksvertreters besonderes Ansehen mit sich bringt. Das Gegenteil – das zeigen entsprechende Umfragen - ist oft der Fall. Schnell werden Verfehlungen einzelner, wie sie in der letzten Wahlperiode vorgekommen sind, allen angerechnet: „Die da oben haben ja alle eine Selbstbedienungsmentalität und machen ohnehin, was sie wollen!“ Da sind Schutz und Hilfe gefragt. Zum einen, weil solche pauschalen Vorwürfe ungerecht und haltlos sind. Und zum andern, weil, wer Volksvertreter beschädigt, der Demokratie als ganzer Schaden zufügt.
Auch Stärkung brauchte der König Israels. Stärkung brauchen auch Sie, die Sie heute Ihr Amt als Abgeordnete des Bundestages antreten. Große Aufgaben liegen vor Ihnen: Unser Land braucht eine Transformation, damit unser Planet bewohnbar bleibt. Unsere Gesellschaft muss zusammengehalten werden. Die Herausforderungen durch die Digitalisierung sind zu bewältigen. Und dann ist da die hohe Arbeitsbelastung: Eng getaktet sind Gespräche und Sitzungen, manchmal bis zum frühen Morgen. Und es will der Spagat zwischen Hauptstadt und Wahlkreis bewältigt sein.
„Der HERR erhöre dich in der Not, der Name des Gottes Jakobs schütze dich! Er sende dir Hilfe vom Heiligtum und stärke dich aus Zion!“ Auch und gerade Menschen in politischer Verantwortung bedürfen der Fürbitte. Der israelitische König brauchte sie und Sie als Abgeordnete des Bundestages brauchen sie auch. Und ich kann Ihnen versichern: Es wird für Sie gebetet. Jeden Sonntag. Jeden Sonntag werden Sie mit Ihrer großen Verantwortung für das gesamte deutsche Volk vor Gott gebracht. Jeden Sonntag, wenn katholische, evangelische und orthodoxe Gemeinden sich zum Gottesdienst versammeln, wird für Sie gebetet. Um Schutz und Stärkung. Um Einsicht und Besonnenheit. Das mache Ihnen Mut und gebe Ihnen Kraft, Ihre Verantwortung zu tragen.
Dass Israel für seinen König betet und christliche Gemeinden vor Gott für ihre Politikerinnen und Politiker eintreten, hat noch einen zweiten Grund. Der 20. Psalm und die sonntägliche Fürbitte für „die Obrigkeit“ erinnern daran: Der König ist nicht Gott und der oder die Abgeordnete des Deutschen Bundestages ist es auch nicht.
Wer ein politisches Amt hat – ob durch Erbfolge oder Wahl – ist nicht Gott. Das setzt dem eigenen Tun Grenzen und hindert daran, sich selbst zu überschätzen und für die letzte Instanz zu halten. „In Verantwortung vor Gott“ ist das Amt auszuüben. So sagt es auch die Präambel unseres Grundgesetzes.
Nicht Gott zu sein, das bedeutet zugleich: nicht Gott sein zu müssen. Auch als Parlamentarier sind Sie Menschen, deren Kräfte begrenzt sind, die sich irren können und die der Stärkung, des Schutzes und der Hilfe bedürfen. Als solche, die nicht Gott sind, dürfen und sollen Sie deshalb immer wieder vor Gott treten und ihn um Einsicht und Kraft bitten, vielleicht mit den leicht abgewandelten Worten des 20. Psalms: „HERR, erhöre mich in der Not! Schütze mich! Sende mir Hilfe!“
Im weiteren Verlauf des 20. Psalms heißt es dann – und das ist die Herrnhuter Losung für den heutigen Tag: „Jene verlassen sich auf Wagen und Rosse; wir aber denken an den Namen des HERRN, unseres Gottes.“ „Jene“ – das sind die Feinde des Königs von Israel, „wir“ – das sind die, die für den König beten. Vermutlich hoffen die Betenden, dass auch ihr König so eingestellt sein möge wie sie selbst. Dass auch er sich nicht auf Wagen und Rosse verlassen, sondern an den Namen Gottes denken möge.
„Wagen und Rosse“ stehen zunächst einmal für militärische Stärke. Ob der israelitische König anfällig dafür war, auf militärische Stärke zu setzen, weiß ich nicht. Die große Mehrheit der Abgeordneten des Bundestages ist es jedenfalls nicht. Wenn in der Vergangenheit Soldatinnen und Soldaten in Auslandseinsätze geschickt wurden, wurden regelmäßig Chancen und Risiken sorgfältig gegeneinander abgewogen. Besondere militärische Zurückhaltung zeichnet unser Land aus – Gott sei Dank.
„Wagen und Rosse“ lassen sich aber auch jenseits des Militärischen als Symbole der Macht verstehen. Der Macht, die sich jemand mit Gewalt verschafft. Auf solche gewaltsamen Mittel sollten ein antiker König und eine moderne Parlamentarierin verzichten. Dass Abgeordnete Macht zu erlangen, zu erhalten, auszubauen und zu sichern versuchen, ist nicht nur legitim, sondern ihre Aufgabe. Dafür sind sie ins Parlament gewählt. Entscheidend ist, wie das geschieht. Deshalb mögen Sie stets eine Kontrollfrage an sich selber richten: Wie gehe ich mit meiner Macht um? Ist mein Umgang damit transparent und sachdienlich? Vor allem aber: Ist er gewaltlos?
„Jene verlassen sich auf Wagen und Rosse.“ konstatieren die, die den 20. Psalm beten. Und nennen die Alternative: „Wir aber denken an den Namen des HERRN, unseres Gottes.“ Das sei auch Ihnen ans Herz gelegt, die Sie heute Ihr verantwortungsvolles Amt antreten.
„Wir aber denken an den Namen des HERRN, unseres Gottes.“ Das hat eine große Verheißung. Wir Christen werden bei dem „Namen des Herrn unseres Gottes“ an den Namen Jesus denken. In Jesus hat Gott sich uns Menschen gezeigt. In ihm geht Gott mit uns. Auch dann, wenn wir hilf- und kraftlos sind oder uns Schicksalsschläge treffen. Mit Jesus gibt Gott uns Orientierung, wenn wir uns verirrt oder verrannt haben. Und Jesus ist es, der unsere Irrtümer, unser Versagen und unsere Schuld auf sich nimmt, wenn wir ihn darum bitten. Der Name Jesus steht schließlich für eine Hoffnung, die selbst der Tod nicht zerstören kann. Die Hoffnung, dass es gut ausgeht – mit uns und mit dieser Welt. Mögen Sie – erfüllt von dieser Hoffnung – fröhlich ans Werk gehen!
Und der Friede Gottes…