Predigt im Trauergottesdienst für Ulrike Brandt in der Kirche zu Eberswalde-Finow
Wolfgang Huber
Lebendiger Gott, Du sprichst das erste und das letzte Wort über allem Leben und über allen Dingen. Ratlos stehen wir vor dem Schweigen eines unbegreiflichen Todes. Alles lehnt sich in uns gegen ihn auf. Hilf uns, dass wir annehmen, was wir nicht begreifen. Hilf uns, dass wir unseren Widerstand dagegen erneuern, dass sich dergleichen wiederholt. Du, Gott, hältst die Wahrheit über Leben und Tod in der Hand. Darauf wollen wir vertrauen. Hilf uns, dass dieses Vertrauen in uns wächst und unsere Trauer in Hoffnung verwandelt. Amen.
"Höre mein Gebet, Herr, und vernimm mein Schreien; schweige nicht zu meinen Tränen!" Nach einem solchen Aufschrei ist uns zu Mute an diesem Tag. Langes Bangen, unermüdliches Suchen, Weinen und Hoffen haben ein erschreckendes Ende gefunden: Ulrike ist nicht mehr unter uns.
Ein solcher Schmerz übersteigt unsere Kraft. Wir erleiden, was geschehen ist, und müssen ertragen, was wir nicht begreifen können. Wir hängen an dem verzweifelten Wunsch, es möge nicht Wirklichkeit sein, was wir doch nicht mehr leugnen können. Zwei Wochen waren zerrissen zwischen Hoffnungen und Enttäuschungen, vierzehn Tage waren erfüllt von intensivster Suche bei Tag und bei Nacht. Und nun sind die schlimmsten Befürchtungen zur Gewissheit geworden: Ulrike ist tot.
Wir alle, die wir hier versammelt sind, und ungezählte Menschen im ganzen Land sind erschrocken und betroffen von diesem furchtbaren Mord. Es ist nicht nur ein Geschehen in einer Familie; es ist eine Gewalttat, die bei uns allen Erschütterung und Empörung auslöst. Es ist ein Verbrechen, das uns alle aufrüttelt.
Aber ganz besonders für Sie, die Eltern, für Ulrikes Schwester Susanne, für die Großeltern, für die Verwandten und Freunde ist nichts mehr wie zuvor. Sie haben nun die schreckliche Gewissheit darüber, was Ulrike geschehen ist. Aber darin, dass die Unsicherheit zu Ende ist, liegt kein Trost. Noch wenige Stunden, bevor Ulrike gefunden wurde, haben die Eltern Flugblätter in verschiedenen Sprachen weiträumig verteilen lassen und, wie die Tage zuvor auch, sich selbst aktiv an der Suche beteiligt. Hunderte von Polizisten, Mitarbeiter von Hilfsorganisationen, Bundeswehrpiloten und zahlreiche Menschen aus Eberswalde-Finow und der ganzen Region haben gesucht. Eine außerordentliche Hilfsbereitschaft hat sich gezeigt, die dankbar stimmt. Aber eine der größten Suchaktionen im Land Brandenburg hat Ulrike nicht retten können. Alle, die sich an der Hilfe und dem Suchen beteiligt haben, sind bitter enttäuscht und ratlos. Viele haben das Gefühl, in ein großes Loch zu fallen.
Was bleibt von diesem schrecklichen Geschehen?
In uns regen sich Trauer, Zorn und Ohnmacht gegen diesen sinnlosen und furchtbaren Tod. In uns regen sich der Wunsch und die Forderung, dass unsere Kinder aufwachsen dürfen, ohne sich vor solcher verbrecherischer Gewalt fürchten zu müssen. Auch aus diesem Grund ist es wichtig zu wissen: Die Polizei wird ihre intensive Suche nach dem Täter fortsetzen. Sie als Bewohnerinnen und Bewohner des Barnimer Landes werden besonders aufmerksam sein und diese Suche unterstützen.
Aber zugleich sind gute und dankbare Erinnerungen lebendig an gemeinsame Jahre, Tage und Stunden.
Ich denke vor allem an Sie, die Eltern, und an die Schwester Susanne, die Sie Ulrike so sehr geliebt haben. Ich denke an die Angehörigen, Nachbarn, Lehrerinnen und Lehrer, die gesehen haben, wie Ulrike heranwuchs und lernte, größer und selbständiger wurde. Ich denke an die Kinder und Jugendlichen, die mit Ulrike zur Schule gegangen sind, mit ihr gespielt und zusammen Sport getrieben haben.
Für Sie und uns alle ist Ulrike nicht mehr da. Es bleiben Erinnerungen - tröstlich und schmerzvoll zugleich. Viele haben Ulrike vor Augen: das hübsche zwölfjährige Mädchen, das selbst auf den Fotos, mit denen nach ihm gesucht wurde, fröhlich lächelte. Es fehlt die Tochter, die Schwester, die Enkelin und Freundin. Bei allem Schmerz dürfen wir an diesem Ort Dank sagen für jeden Tag mit Ulrike, für jedes Ereignis mit ihr. Ihr Leben ist vor der Zeit abgebrochen, aber nicht vernichtet. Die Erinnerung an jeden Tag ihres Lebens bleibt auf besondere Weise kostbar.
In diesem Trauergottesdienst wollen wir in liebevoller Zuneigung die tiefe Achtung vor dem Leben dieses unverwechselbaren und unwiederholbaren Menschen Ulrike Brandt bekunden. Wir wollen Gott anvertrauen, was wir nicht loslassen wollen und doch abgeben müssen.
Aber wir werden uns auch fragen müssen, was dieser Tod von Ulrike für uns verändert.
Oft glauben wir, alles in der Hand zu haben, unser Leben selbst zu bestimmen, nur auf das Sichtbare und Greifbare angewiesen zu sein; jetzt stellen wir neue Fragen, suchen nach Antworten, halten Ausschau nach Hoffnung und Trost.
So schnell wir alle sonst Auskunft geben - jetzt wissen wir nicht mehr, was wir sagen sollen. Und wir, die wir auf Gott vertrauen, fragen: Wo warst du, Gott, an diesem 22. Februar?
Das Leben ist ärmer geworden. Aber auch unser aller Vertrauen, dass ein Menschenleben nicht verletzt und keinem Menschen Gewalt angetan werden darf, ist schwer erschüttert: Wer kann so etwas tun? Wie gestört, wie krank muss jemand sein, der auf so grausame Art Gemeinschaft zerstört und ein junges Leben gewaltsam beendet?
Den Respekt vor dem Leben jedes einzelnen Menschen lassen wir uns nicht zerstören, auch nicht durch den gewaltsamen Tod. Nein, wir wollen diesen Respekt erneuern und miteinander dafür eintreten, dass das Leben jedes einzelnen Menschen geachtet und gewahrt wird, ob alt oder jung. Die Erinnerung an dieses verheißungsvolle junge Leben muss uns alle empfindsam dafür machen, wie Leben beschädigt und verletzt wird. Miteinander wollen wir uns fragen, was wir zur Bewahrung und zum Schutz des Lebens tun und wie wir gerade das Aufwachsen von Kindern unter uns sichern und fördern können
Wer das menschliche Leben achtet und die Einmaligkeit jedes Menschen respektiert, der achtet die Menschenwürde auch, ja gerade im Tod. Wer mitfühlt, was die Familie von Ulrike in den letzten Wochen zu ertragen und zu erleiden hatte, wird auch in diesen Tagen des erzwungenen Abschieds und über diese Tage hinaus gerade dieser Familie mit Respekt und Rücksichtnahme begegnen. Kostbare Erfahrungen der letzten Tage sollen nicht verloren gehen: Neue Gemeinschaft untereinander wurde erlebt, Hilfe gab es von ganz unverhoffter Seite. Es hat sich gezeigt, dass auch Schweigen wohltuend sein kann. Gefühle durften und dürfen gezeigt werden. Wir haben gespürt und wir spüren, dass wir auch eine Seele haben.
Viele Menschen haben hier in der Region in den vergangenen zwei Wochen mitgesucht und mitgefühlt. Diese Erfahrung ist kostbar; sie darf nicht verloren gehen. Mit diesem Geist der Achtsamkeit ist es unvereinbar, ins Private einzudringen und den Schutzraum zu missachten, der jeden einzelnen Menschen umgibt. Aus dem Streben nach vermarktbaren Bildern ist dieser Schutzraum in den letzten Tagen verletzt worden. Eindringlich appelliere ich an die Vertreter der Medien: Lassen Sie nicht den Kampf um Einschaltquoten und Auflagenstärken darüber bestimmen, wie Sie mit der Würde von Menschen umgehen, wie Sie über das Schicksal eines Kindes und seiner Familie berichten. Vor dem Tod dieses Mädchens hat auch die Quote zu schweigen.
Wir sind zu diesem Gottesdienst in einer Gemeinschaft versammelt, die Grenzen des Glaubens und der Konfession überschreitet. Wir haben zu ihm eingeladen als Menschen, die im Glauben an Gott Halt finden. Aber wir begehen ihn ganz bewusst mit denen und für die, denen das Vertrauen auf Gott fremd ist - wie den Eltern von Ulrike. Wir achten ihre Haltung auch in der Bestürzung und der Trauer.
Immer wieder neu haben Menschen mit der Erfahrung des Todes gerungen. Immer wieder haben sie nach der Hoffnung gesucht, die auch dem Schrecken standhält. Immer wieder müssen wir unsere eigenen Antworten finden. Aber frühere Antworten können uns dabei Halt und Hilfe sein.
In der Zeit der ersten Christenheit haben Menschen in tiefer Not ihrer Hoffnung so Ausdruck gegeben, wie es uns in der Offenbarung des Johannes überliefert ist:
"Und ich sah einen neuen Himmel und eine neue Erde; denn der erste Himmel und die erste Erde sind vergangen, und das Meer ist nicht mehr. Und ich sah die heilige Stadt aus dem Himmel herabkommen, bereitet wie eine geschmückte Braut für ihren Mann. Und ich hörte eine große Stimme von dem Thron her, die sprach: Siehe da, die Hütte Gottes bei den Menschen! Und er wird bei ihnen wohnen, und sie werden sein Volk sein, und er selbst wird bei ihnen sein; und Gott wird abwischen alle Tränen von ihren Augen, und der Tod wird nicht mehr sein, noch Leid noch Geschrei noch Schmerz wird mehr sein; denn das Erste ist vergangen."
Liebe Trauergemeinde, in eindrücklicher Bildersprache wird hier eine Hoffnung ausgedrückt, die das Klagen nicht verschweigt und nicht verdrängt. Nicht auf eine andere Welt wird vertröstet. Sondern dieser unserer Erde wird verheißen, dass sie unter einem neuen Himmel auch selbst neu wird. Gott selbst wird zugetraut, dass er unsere Tränen abwischt und das Leid überwindet. Auf den Gott richtet sich dieses Vertrauen, der in Jesus Christus selbst das tiefste Leiden auf sich genommen hat.
Dieser Gott steht auf der Seite des Lebens. Ganz besonders steht er auch auf der Seite derer, die ihr Leben beginnen und es noch zu großen Teilen vor sich haben. Von Jesus wird berichtet, dass er die Kinder in seine Nähe holte. Gerade mit dem unzeitigen Tod von Kindern wollte und konnte er sich nicht abfinden. Bewegend wird das im Neuen Testament geschildert.
In der Bibel wird Gott immer wieder als Anwalt der Gedemütigten und Unterdrückten, als Fürsprecher der Opfer von Gewalt beschrieben. Auf ihn richtet sich auch die Hoffnung, dass all das Grauen, das Menschen anderen Menschen angetan haben, nicht ohne Folgen bleibt.
Gott ist ein Anwalt derer, die um ihr Leben, ihr Lebensrecht und ihre Zukunft gebracht worden sind.
Auf diesen Gott vertrauen wir, auf diese Gerechtigkeit warten wir.
Gerechtigkeit gibt es nicht ohne die Achtung vor dem Leben des andern. Diese Achtung vor dem Leben und das Verbot mörderischer Gewalt stehen deshalb auch im Zentrum der zehn Gebote: "Du sollst nicht töten" heißt das Gebot, das die Mitte der zehn Gebote bildet. Noch einmal sage ich: Es ist an der Zeit, dass in unserer Gesellschaft die Unantastbarkeit des Lebens wieder geachtet und gewürdigt wird. Auch das gehört zu der Hoffnung auf den Gott, der die Tränen abwischt.
Es ist ein Trost, dass wir uns in Not und Klage an Gott wenden und uns auch in Dank und Freude an ihn halten können. Aber nötig ist auch, dass wir seinem Gebot wieder Raum geben und nicht zulassen, dass Gleichgültigkeit gegenüber dem Leiden und ein sensationsgieriges Interesse an der Gewalt sich ausbreiten.
Im Aufbegehren und in der Trauer dieses Tages dürfen wir bekennen: Auch wenn wir tief fallen, so fallen wir doch nicht tiefer als in Gottes Hand. In diesem Vertrauen können wir uns dafür öffnen, wie Gott uns auch in den Menschen begegnet, die uns stützen, und wie er in uns wirkt als die Kraft, die uns vor dem Zerbrechen bewahrt.
Wir dürfen darauf vertrauen, dass wir alle über die Grenze unseres Lebens hinaus in Gottes Liebe geborgen sind. Unser Sterben ist nicht nur ein Ausgang; es wird auch zu einem Übergang, einem Neuanfang. Wohin wir geführt werden, bleibt ein Geheimnis. Mit einem Geheimnis kann man leben, wenn man Vertrauen hat. Dieses Geheimnis dürfen wir anschauen wie Kinder, die von ihren Eltern wissen, dass sie es gut mit ihnen meinen. Gott selbst kann uns begegnen wie eine bergende Mutter. Der Weg zu ihm führt durch Dunkelheit, vielleicht auch durch Kälte. Aber am Ende wird es hell und warm sein. Gottes bergende Treue ist der Grund unserer Hoffnung über den Tod hinaus, unserer Hoffnung auf das ewige Leben.
"Gott wird abwischen alle Tränen von ihren Augen, und der Tod wird nicht mehr sein, noch Leid noch Geschrei noch Schmerz wird mehr sein; denn das Erste ist vergangen."
Amen.
"Höre mein Gebet, Herr, und vernimm mein Schreien; schweige nicht zu meinen Tränen!" Nach einem solchen Aufschrei ist uns zu Mute an diesem Tag. Langes Bangen, unermüdliches Suchen, Weinen und Hoffen haben ein erschreckendes Ende gefunden: Ulrike ist nicht mehr unter uns.
Ein solcher Schmerz übersteigt unsere Kraft. Wir erleiden, was geschehen ist, und müssen ertragen, was wir nicht begreifen können. Wir hängen an dem verzweifelten Wunsch, es möge nicht Wirklichkeit sein, was wir doch nicht mehr leugnen können. Zwei Wochen waren zerrissen zwischen Hoffnungen und Enttäuschungen, vierzehn Tage waren erfüllt von intensivster Suche bei Tag und bei Nacht. Und nun sind die schlimmsten Befürchtungen zur Gewissheit geworden: Ulrike ist tot.
Wir alle, die wir hier versammelt sind, und ungezählte Menschen im ganzen Land sind erschrocken und betroffen von diesem furchtbaren Mord. Es ist nicht nur ein Geschehen in einer Familie; es ist eine Gewalttat, die bei uns allen Erschütterung und Empörung auslöst. Es ist ein Verbrechen, das uns alle aufrüttelt.
Aber ganz besonders für Sie, die Eltern, für Ulrikes Schwester Susanne, für die Großeltern, für die Verwandten und Freunde ist nichts mehr wie zuvor. Sie haben nun die schreckliche Gewissheit darüber, was Ulrike geschehen ist. Aber darin, dass die Unsicherheit zu Ende ist, liegt kein Trost. Noch wenige Stunden, bevor Ulrike gefunden wurde, haben die Eltern Flugblätter in verschiedenen Sprachen weiträumig verteilen lassen und, wie die Tage zuvor auch, sich selbst aktiv an der Suche beteiligt. Hunderte von Polizisten, Mitarbeiter von Hilfsorganisationen, Bundeswehrpiloten und zahlreiche Menschen aus Eberswalde-Finow und der ganzen Region haben gesucht. Eine außerordentliche Hilfsbereitschaft hat sich gezeigt, die dankbar stimmt. Aber eine der größten Suchaktionen im Land Brandenburg hat Ulrike nicht retten können. Alle, die sich an der Hilfe und dem Suchen beteiligt haben, sind bitter enttäuscht und ratlos. Viele haben das Gefühl, in ein großes Loch zu fallen.
Was bleibt von diesem schrecklichen Geschehen?
In uns regen sich Trauer, Zorn und Ohnmacht gegen diesen sinnlosen und furchtbaren Tod. In uns regen sich der Wunsch und die Forderung, dass unsere Kinder aufwachsen dürfen, ohne sich vor solcher verbrecherischer Gewalt fürchten zu müssen. Auch aus diesem Grund ist es wichtig zu wissen: Die Polizei wird ihre intensive Suche nach dem Täter fortsetzen. Sie als Bewohnerinnen und Bewohner des Barnimer Landes werden besonders aufmerksam sein und diese Suche unterstützen.
Aber zugleich sind gute und dankbare Erinnerungen lebendig an gemeinsame Jahre, Tage und Stunden.
Ich denke vor allem an Sie, die Eltern, und an die Schwester Susanne, die Sie Ulrike so sehr geliebt haben. Ich denke an die Angehörigen, Nachbarn, Lehrerinnen und Lehrer, die gesehen haben, wie Ulrike heranwuchs und lernte, größer und selbständiger wurde. Ich denke an die Kinder und Jugendlichen, die mit Ulrike zur Schule gegangen sind, mit ihr gespielt und zusammen Sport getrieben haben.
Für Sie und uns alle ist Ulrike nicht mehr da. Es bleiben Erinnerungen - tröstlich und schmerzvoll zugleich. Viele haben Ulrike vor Augen: das hübsche zwölfjährige Mädchen, das selbst auf den Fotos, mit denen nach ihm gesucht wurde, fröhlich lächelte. Es fehlt die Tochter, die Schwester, die Enkelin und Freundin. Bei allem Schmerz dürfen wir an diesem Ort Dank sagen für jeden Tag mit Ulrike, für jedes Ereignis mit ihr. Ihr Leben ist vor der Zeit abgebrochen, aber nicht vernichtet. Die Erinnerung an jeden Tag ihres Lebens bleibt auf besondere Weise kostbar.
In diesem Trauergottesdienst wollen wir in liebevoller Zuneigung die tiefe Achtung vor dem Leben dieses unverwechselbaren und unwiederholbaren Menschen Ulrike Brandt bekunden. Wir wollen Gott anvertrauen, was wir nicht loslassen wollen und doch abgeben müssen.
Aber wir werden uns auch fragen müssen, was dieser Tod von Ulrike für uns verändert.
Oft glauben wir, alles in der Hand zu haben, unser Leben selbst zu bestimmen, nur auf das Sichtbare und Greifbare angewiesen zu sein; jetzt stellen wir neue Fragen, suchen nach Antworten, halten Ausschau nach Hoffnung und Trost.
So schnell wir alle sonst Auskunft geben - jetzt wissen wir nicht mehr, was wir sagen sollen. Und wir, die wir auf Gott vertrauen, fragen: Wo warst du, Gott, an diesem 22. Februar?
Das Leben ist ärmer geworden. Aber auch unser aller Vertrauen, dass ein Menschenleben nicht verletzt und keinem Menschen Gewalt angetan werden darf, ist schwer erschüttert: Wer kann so etwas tun? Wie gestört, wie krank muss jemand sein, der auf so grausame Art Gemeinschaft zerstört und ein junges Leben gewaltsam beendet?
Den Respekt vor dem Leben jedes einzelnen Menschen lassen wir uns nicht zerstören, auch nicht durch den gewaltsamen Tod. Nein, wir wollen diesen Respekt erneuern und miteinander dafür eintreten, dass das Leben jedes einzelnen Menschen geachtet und gewahrt wird, ob alt oder jung. Die Erinnerung an dieses verheißungsvolle junge Leben muss uns alle empfindsam dafür machen, wie Leben beschädigt und verletzt wird. Miteinander wollen wir uns fragen, was wir zur Bewahrung und zum Schutz des Lebens tun und wie wir gerade das Aufwachsen von Kindern unter uns sichern und fördern können
Wer das menschliche Leben achtet und die Einmaligkeit jedes Menschen respektiert, der achtet die Menschenwürde auch, ja gerade im Tod. Wer mitfühlt, was die Familie von Ulrike in den letzten Wochen zu ertragen und zu erleiden hatte, wird auch in diesen Tagen des erzwungenen Abschieds und über diese Tage hinaus gerade dieser Familie mit Respekt und Rücksichtnahme begegnen. Kostbare Erfahrungen der letzten Tage sollen nicht verloren gehen: Neue Gemeinschaft untereinander wurde erlebt, Hilfe gab es von ganz unverhoffter Seite. Es hat sich gezeigt, dass auch Schweigen wohltuend sein kann. Gefühle durften und dürfen gezeigt werden. Wir haben gespürt und wir spüren, dass wir auch eine Seele haben.
Viele Menschen haben hier in der Region in den vergangenen zwei Wochen mitgesucht und mitgefühlt. Diese Erfahrung ist kostbar; sie darf nicht verloren gehen. Mit diesem Geist der Achtsamkeit ist es unvereinbar, ins Private einzudringen und den Schutzraum zu missachten, der jeden einzelnen Menschen umgibt. Aus dem Streben nach vermarktbaren Bildern ist dieser Schutzraum in den letzten Tagen verletzt worden. Eindringlich appelliere ich an die Vertreter der Medien: Lassen Sie nicht den Kampf um Einschaltquoten und Auflagenstärken darüber bestimmen, wie Sie mit der Würde von Menschen umgehen, wie Sie über das Schicksal eines Kindes und seiner Familie berichten. Vor dem Tod dieses Mädchens hat auch die Quote zu schweigen.
Wir sind zu diesem Gottesdienst in einer Gemeinschaft versammelt, die Grenzen des Glaubens und der Konfession überschreitet. Wir haben zu ihm eingeladen als Menschen, die im Glauben an Gott Halt finden. Aber wir begehen ihn ganz bewusst mit denen und für die, denen das Vertrauen auf Gott fremd ist - wie den Eltern von Ulrike. Wir achten ihre Haltung auch in der Bestürzung und der Trauer.
Immer wieder neu haben Menschen mit der Erfahrung des Todes gerungen. Immer wieder haben sie nach der Hoffnung gesucht, die auch dem Schrecken standhält. Immer wieder müssen wir unsere eigenen Antworten finden. Aber frühere Antworten können uns dabei Halt und Hilfe sein.
In der Zeit der ersten Christenheit haben Menschen in tiefer Not ihrer Hoffnung so Ausdruck gegeben, wie es uns in der Offenbarung des Johannes überliefert ist:
"Und ich sah einen neuen Himmel und eine neue Erde; denn der erste Himmel und die erste Erde sind vergangen, und das Meer ist nicht mehr. Und ich sah die heilige Stadt aus dem Himmel herabkommen, bereitet wie eine geschmückte Braut für ihren Mann. Und ich hörte eine große Stimme von dem Thron her, die sprach: Siehe da, die Hütte Gottes bei den Menschen! Und er wird bei ihnen wohnen, und sie werden sein Volk sein, und er selbst wird bei ihnen sein; und Gott wird abwischen alle Tränen von ihren Augen, und der Tod wird nicht mehr sein, noch Leid noch Geschrei noch Schmerz wird mehr sein; denn das Erste ist vergangen."
Liebe Trauergemeinde, in eindrücklicher Bildersprache wird hier eine Hoffnung ausgedrückt, die das Klagen nicht verschweigt und nicht verdrängt. Nicht auf eine andere Welt wird vertröstet. Sondern dieser unserer Erde wird verheißen, dass sie unter einem neuen Himmel auch selbst neu wird. Gott selbst wird zugetraut, dass er unsere Tränen abwischt und das Leid überwindet. Auf den Gott richtet sich dieses Vertrauen, der in Jesus Christus selbst das tiefste Leiden auf sich genommen hat.
Dieser Gott steht auf der Seite des Lebens. Ganz besonders steht er auch auf der Seite derer, die ihr Leben beginnen und es noch zu großen Teilen vor sich haben. Von Jesus wird berichtet, dass er die Kinder in seine Nähe holte. Gerade mit dem unzeitigen Tod von Kindern wollte und konnte er sich nicht abfinden. Bewegend wird das im Neuen Testament geschildert.
In der Bibel wird Gott immer wieder als Anwalt der Gedemütigten und Unterdrückten, als Fürsprecher der Opfer von Gewalt beschrieben. Auf ihn richtet sich auch die Hoffnung, dass all das Grauen, das Menschen anderen Menschen angetan haben, nicht ohne Folgen bleibt.
Gott ist ein Anwalt derer, die um ihr Leben, ihr Lebensrecht und ihre Zukunft gebracht worden sind.
Auf diesen Gott vertrauen wir, auf diese Gerechtigkeit warten wir.
Gerechtigkeit gibt es nicht ohne die Achtung vor dem Leben des andern. Diese Achtung vor dem Leben und das Verbot mörderischer Gewalt stehen deshalb auch im Zentrum der zehn Gebote: "Du sollst nicht töten" heißt das Gebot, das die Mitte der zehn Gebote bildet. Noch einmal sage ich: Es ist an der Zeit, dass in unserer Gesellschaft die Unantastbarkeit des Lebens wieder geachtet und gewürdigt wird. Auch das gehört zu der Hoffnung auf den Gott, der die Tränen abwischt.
Es ist ein Trost, dass wir uns in Not und Klage an Gott wenden und uns auch in Dank und Freude an ihn halten können. Aber nötig ist auch, dass wir seinem Gebot wieder Raum geben und nicht zulassen, dass Gleichgültigkeit gegenüber dem Leiden und ein sensationsgieriges Interesse an der Gewalt sich ausbreiten.
Im Aufbegehren und in der Trauer dieses Tages dürfen wir bekennen: Auch wenn wir tief fallen, so fallen wir doch nicht tiefer als in Gottes Hand. In diesem Vertrauen können wir uns dafür öffnen, wie Gott uns auch in den Menschen begegnet, die uns stützen, und wie er in uns wirkt als die Kraft, die uns vor dem Zerbrechen bewahrt.
Wir dürfen darauf vertrauen, dass wir alle über die Grenze unseres Lebens hinaus in Gottes Liebe geborgen sind. Unser Sterben ist nicht nur ein Ausgang; es wird auch zu einem Übergang, einem Neuanfang. Wohin wir geführt werden, bleibt ein Geheimnis. Mit einem Geheimnis kann man leben, wenn man Vertrauen hat. Dieses Geheimnis dürfen wir anschauen wie Kinder, die von ihren Eltern wissen, dass sie es gut mit ihnen meinen. Gott selbst kann uns begegnen wie eine bergende Mutter. Der Weg zu ihm führt durch Dunkelheit, vielleicht auch durch Kälte. Aber am Ende wird es hell und warm sein. Gottes bergende Treue ist der Grund unserer Hoffnung über den Tod hinaus, unserer Hoffnung auf das ewige Leben.
"Gott wird abwischen alle Tränen von ihren Augen, und der Tod wird nicht mehr sein, noch Leid noch Geschrei noch Schmerz wird mehr sein; denn das Erste ist vergangen."
Amen.