Predigt - Ökumenischer Gottesdienst zum Staatsakt 75 Jahre Grundgesetz
Predigt von Bischof Dr. Michael Gerber, stellvertretender Vorsitzender der Deutschen Bischofskonferenz
Sehr geehrten Damen und Herren! Liebe Schwestern und Brüder!
„Im Bewusstsein seiner Verantwortung vor Gott und den Menschen, von dem Willen beseelt, als gleichberechtigtes Glied in einem vereinten Europa dem Frieden der Welt zu dienen, hat sich das Deutsche Volk kraft seiner verfassungsgebenden Gewalt dieses Grundgesetz gegeben.“
Was vor 75 Jahren angesichts der furchtbaren Katastrophe von Nationalsozialismus und Zweitem Weltkrieg formuliert wurde, ist gerade heute Fundament für die Zukunft unseres Landes und – weiter gefasst – unseres Kontinents.
Der Begriff der „Verantwortung“ spielt hier eine zentrale Rolle. In unserem Glauben steht zuvorderst das Vertrauen auf Gott und Gottes Sicht auf uns Menschen, auf seine Geschöpfe: Jüdinnen und Juden, Christinnen und Christen teilen die Überzeugung, das eigene Handeln als Antwort zu begreifen. Die heiligen Schriften Israels und der Kirche sprechen an vielen Stellen von einer wiederkehrenden Grunderfahrung: Da haben Menschen oder auch ganze Gruppen, insbesondere die Eliten des Volkes, aufs Schlimmste versagt, mit allen Konsequenzen, die das haben kann. Und doch wird – oft nach vielen Mühen und großem Leid – dem Volk ein Neuanfang ermöglicht. Gemessen an dem, was zuvor an Verfehlungen durch Verantwortliche des Volkes geschah, wird dieser Neuanfang als unverdientes Geschenk interpretiert. Die Glaubenden deuten es als Gnade.
Ein unverdienter Neuanfang mit der Ermöglichung eines Lebens in Frieden und Freiheit wurde uns nach 1945 auf dem Gebiet der späteren Bundesrepublik Deutschland geschenkt. Angesichts des unsagbaren Grauens, das Deutsche unmittelbar zuvor verübt hatten, war dies alles andere als selbstverständlich. Gerade die Entwicklungen in der damaligen sowjetischen Besatzungszone zeigten den Deutschen im Westen, wie wenig selbstverständlich die neu erlangte Freiheit und der wirtschaftliche Aufschwung waren. Gerade die Regierungen der Völker in Westeuropa, die in zwei Weltkriegen unsägliches Leid durch Deutsche erfahren hatten, schenkten einander sehr bald nach Kriegsende uns einen immensen Vertrauensvorschuss. So fand beides zusammen: zum einen die große Herausforderung der deutschen Bevölkerung, das eigene Land politisch, wirtschaftlich und kulturell wieder aufzubauen – zum anderen das Vertrauen und die tatkräftige Hilfe der westlichen Siegermächte und baldigen Verbündeten dies- und jenseits des Atlantiks.
Angesichts der gesellschaftlichen Dynamiken unserer Tage sind wir herausgefordert, in der Spur der Mütter und Väter des Grundgesetzes, in der Spur des Glaubens Israels und der Kirche, die Freiheit und den Frieden in unserem Land als Geschenk und als Verpflichtung zu begreifen. Was wir haben, wurde uns zu einem großen Teil geschenkt und verpflichtet uns zugleich, es zu wahren. In diesem Sinne interpretiere ich den zweiten Teil des ersten Satzes der Präambel, der lautet: „… als gleichberechtigtes Glied in einem vereinten Europa dem Frieden der Welt zu dienen …“ Jede Gesellschaft zeigt dort ein wahrhaft menschliches Profil, wo sie jene in den Blick nimmt, die innerhalb und außerhalb ihrer Grenzen nicht angemessen für sich selbst sorgen können. Genau diese Sorge anderer um unser Land prägte die Geburtsstunde der Bundesrepublik, und so gehört das Bewusstsein unserer Verantwortung für jene, die innerhalb und außerhalb unserer Grenzen der Hilfe bedürfen, zur DNA des Grundgesetzes und unseres Landes.
Der Neuanfang nach 1945 verstand sich allerdings gerade nicht als Schlussstrich unter die Geschichte. Das „Bewusstsein der Verantwortung“ müssen wir – wie einst die Mütter und Väter des Grundgesetzes – als Verantwortung vor der Geschichte verstehen und in unserem Fall gerade als Verantwortung angesichts der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft und des von Deutschland initiierten Weltkriegs. Auch hier finden wir eine bemerkenswerte Parallele in den Schriften, die Juden und Christen zu einem großen Teil miteinander teilen. Die Verantwortlichen des Volkes werden sehr kritisch beleuchtet und Folgen ihres Versagens werden deutlich benannt. Juden und Christen verstehen die Geschichte, wenn sie nicht abweichen von ihrem eigenen Erbe, nie als bloße Sieger- und Erfolgsgeschichte. Es ist immer auch eine Geschichte des Leidens und der Schuld, die sie nie gänzlich loslässt.
Unsere Verfassung und die Jahrzehnte seit dem Inkrafttreten des Grundgesetzes sind nicht denkbar ohne diesen kritischen Blick auf die eigene Geschichte. Wir haben es leidvoll gelernt, diesen kritisch-differenzierten Blick auf die eigene Geschichte zu richten. Anders die Art und Weise, wie etwa im Russland Wladimir Putins Geschichte umgeschrieben wird und dunkle Episoden sowie eigene Verbrechen negiert werden: Dadurch wird uns neu bewusst, dass es fatale Konsequenzen hat, wenn der Blick auf die eigene Geschichte manipuliert wird. Wo Geschichte als nicht im Nachhinein manipulierbar, sondern als unverfügbar, ja in ihrer Aussagekraft kritisch-prophetisch begriffen wird, kann sie wesentliche Wegweisung in die Zukunft sein. Die Stimmen hierzulande werden wieder lauter, die unsere heutige
Verantwortung angesichts der Geschichte von 13 Jahren NS-Schreckensherrschaft heute relativieren wollen. Dem steht die eindrückliche Mahnung im Buch Deuteronomium entgegen:
„Denk an die Tage der Vergangenheit, lerne aus den Jahren der Geschichte! Frag deinen Vater, er wird es dir erzählen, frag die Alten, sie werden es dir sagen.“ (Dtn 32,7)
Hier stehen wir in Deutschland vor einer besonderen Herausforderung. Denn bald werden die letzten Stimmen der Zeitzeuginnen und -zeugen des NS-Schreckens für immer verstummen. Damit wächst zum ersten Mal seit dem Zweiten Weltkrieg in unserem Land eine Generation junger Menschen heran, die keine Möglichkeit mehr hat, den unmittelbaren Kontakt mit den primären Zeitzeugen zu haben. Es macht einen Unterschied, ob mir diese Verantwortung vor der Geschichte ausnahmslos in Daten und Dokumenten gegenübertritt, oder ob diese Geschichte mir auch in Gesichtern, in Emotionen, in lebendigen zwischenmenschlichen Beziehungen begegnet.
Unsere Verfassung gibt Zeugnis davon, dass Verantwortung vor der Geschichte nicht nur eine individuelle, sondern auch eine strukturelle, eine institutionelle Dimension hat. Die Frage nach der persönlichen Verantwortung der Täter des NS-Regimes hat die junge Bundesrepublik über Jahrzehnte herausgefordert. Zugleich haben die Mütter und Väter des Grundgesetzes bei der Ausarbeitung kritisch reflektiert, wo in der Weimarer Reichsverfassung auch strukturelle Ursachen lagen, die die Katastrophe des sogenannten Dritten Reiches mit ermöglicht haben. Die Frage von Macht und Gewaltenteilung ist ähnlich wie die Frage der sozialen Gerechtigkeit nicht nur eine Frage der Individualethik, sondern hat wesentlich eine strukturelle und eine soziale Komponente. So flossen wichtige Impulse der Soziallehre der beiden Kirchen in die Schaffung der rechtlichen Voraussetzungen dessen ein, was wir als soziale Marktwirtschaft betrachten. Das scheint unsere Kultur tief geprägt zu haben. Damit wir in Gesellschaft und Kirche auf internationaler Ebene das leisten können, was uns die Präambel des Grundgesetzes als bleibende Verpflichtung mit auf den Weg gegeben hat, nämlich „in einem vereinten Europa dem Frieden der Welt zu dienen“, müssen wir unsere Stimme vor dem Hintergrund unserer Erfahrung, ob im zivilen oder religiösen Bereich, gerade da einbringen, wo wir strukturelle Ursachen von Unterdrückung, Benachteiligung und Leid ausmachen. Hierzu sind wir sowohl im nationalen als auch im internationalen Diskurs gefordert.
„In Verantwortung vor Gott …“ – so lauten die ersten Worte unserer Verfassung. Im Sinne dessen, was wir eben bedacht haben, können die ersten Worte des Grundgesetzes uns aufmerksam machen auf unsere gemeinsame Verantwortung in unserem Land, unabhängig davon, ob wir einer Religion angehören oder welche politische Überzeugung wir teilen. Es ist die Verantwortung vor der Unverfügbarkeit der Würde des Menschen, die Verantwortung vor der prophetisch-kritischen Dimension unserer Geschichte und die Herausforderung, individuelle und gemeinschaftlich-strukturelle Verantwortung in angemessener Weise einander zuzuordnen. Stellen wir uns dieser Aufgabe, und möge der Herr dazu unsere Schritte lenken auf Wege des Friedens (vgl. Lk 1,79). Amen.