Predigt Radiogottesdienst rbb radio3
16.2.25, Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche Berlin Prälatin Dr. Anne Gidion, Bevollmächtigte des Rates der EKD bei der Bundesregierung Deutschland und der Europäischen Union
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Prälatin Anne Gidion, Bevollmächtigte des Rates der EKD bei der Bundesrepublik Deutschland und der Europäischen Union.
Predigttext: Jeremia 9, 22f.
Drei Worte begleiten die Kampagne der evangelischen und katholischen Kirche jetzt zur Bundestagswahl in sieben Tagen: Menschenwürde – Nächstenliebe- Zusammenhalt.
Drei ganz ähnliche Worte tragen die Botschaft, mit der der Prophet Jeremia vor mehr als 2500 Jahren auf die Straße ging: Güte – Recht – Gerechtigkeit.
Der Prophet Jeremia lebt in wilden Zeiten: Er soll Menschen den Spiegel vorhalten. Sie haben es nötig. Und Jeremia findet drastische Worte und Bilder für die Lage des Landes: Ein treuloser Haufen sind die Herrschenden. Lüge herrscht statt Wahrheit. Die Zungen der Menschen sind tödliche Pfeile. Ein Freund täuscht den anderen. Auch die Tiere leiden mit. Die Vögel des Himmels und das Vieh auf der Erde – sie fliehen, weil sie es nicht mehr aushalten.
Und was ist mit den anderen Menschen? Die Menschen sind erschöpft. Sie hören gar nicht mehr richtig hin. Sie fühlen nur, hier werden vor ihren Ohren Wahrheiten zerstört, Worte verdreht, und Fakten zählen nicht mehr.
Dagegen spricht Jeremia an und er wählt bewusst drastische Worte. Denn für alle anderen Worte, für die sanften, leisen, erwartbaren und einfachen, ist es zu spät. Für Jeremia ist seine Aufgabe groß, manchmal zu groß. Aber er traut sich. Er nimmt die Rolle des Propheten an. Und Gott erwartet eine andere Art Prophetensein von Jeremia. Denn die Propheten seiner Zeit haben sich den Kopf verdrehen lassen, sie „heilen den Schaden nur obenhin“, in dem sie sagen „Friede! Friede!“ und es ist doch kein Friede.
Jeremia wirft sich dagegen an. Appelliert und provoziert. Er weiß: Wenn öffentliche Rede erst einmal verklebt ist, wird sie hart und fest, es braucht unfassbare, oft frustrierend erfolglose Anstrengungen, um sie mit etwas Glück und Geschick wenigstens etwas wieder aufzubrechen.
In diese Lage, die nach heute klingt, kommen die Verse für diesen Sonntag, für diese Zwischentage. Wir sind zwischen Weihnachtslicht und Fastenzeit, zwischen Winter und Frühling, vor den Bundestagswahlen und mitten in einer hoch angespannten, hoch emotionalen Zeit. Menschen gehen auf die Straßen, um zu protestieren, andere streiten drinnen um den richtigen Weg, medial kann jedes Wort einen Brand entfachen, und wer sich exponiert, spürt den harten Wind von vorn und von hinten. Immer mit dabei der Drang, mit immer noch drastischeren Bildern und Worten und Vergleichen in der verrohenden öffentlichen Kommunikation überhaupt noch Gehör zu finden – eine Spirale der Verbalgewalt, die zielsicher in physische Gewalt mündet. Damals, heute.
Die Jeremia-Worte für diesen Sonntag haben einen erfrischend anderen Klang als die aufgeheizte Stimmung damals und heute in unserem Land. Diese Stimme, die hineinspricht in Streit und Eskalation, bringt neue Kriterien mit. Ändert Werte und Wertigkeiten. Sie klingt so:
„So spricht der Herr: Der Weise sei nicht stolz auf seine Weisheit. Der Starke sei nicht stolz auf seine Stärke und der Reiche nicht auf seinen Reichtum. Wer sich rühmen will, soll sich nur deswegen rühmen: dass er wirklich klug ist und mich kennt. Dass er weiß, dass ich der Herr bin, der auf Erde Güte, Recht und Gerechtigkeit schafft. Denn diese machen mir Freude. – So lautet der Ausspruch des Herrn.“ (Jer 9,22-23, Basisbibel)
Es geht Jeremia um das „Rühmen“. Rühmen im Sinne von: sich über einen anderen mit Worten erheben und zugleich stolz sein auf das Eigene. Sich für mehr wert erachten als Andere: erfolgreicher, klüger, fortschrittlicher. Nach dem Motto: mehr Ruhm, mehr Likes, mehr Präsenz, mehr mediale Sichtbarkeit. Das rückt der Prophet zurecht und gibt dem menschlichen Rühmen eine andere Richtung. Richtet aus auf Güte, Recht und Gerechtigkeit und richtet damit aus auf Gott.
Denn: In der Jeremia-Logik sind Weisheit, Stärke und Reichtum Geschenke von Gott. Sie haben damit einen Sinn und einen Zweck: Gott zu vertrauen, zu Gerechtigkeit beizutragen für alle, egal welcher Meinung sie sind.
Paulus, der große Verbinder von alttestamentlicher Weisheit und christlicher Deutung, greift das auf in seinen Briefen, wenn er schreibt: Gott stellt die „Weisheit der Welt“ auf den Kopf, dreht die Gesetze um und macht die Schwachen stark. „Was gering ist vor der Welt, das hat Gott erwählt (…), was verachtet ist, damit sich kein Mensch vor Gott rühme“ (! Kor 1,28-29).
Ja, es ist unruhig – auch heute auf den Straßen gerade. Und mancher hetzt dann selber gegen Hetze und hasst gegen Hass – und dadurch verlieren alle gemeinsam. Dann ist mir und manch anderem Bange um unsere Seelen, aufgescheucht ohnehin durch die letzten Jahre, mit pandemiedünner Haut, Sorgen vor Krieg gleich nebenan und preisgegeben in Netzwerken, denen es egal ist, was Fakten sind und was nicht.
Wer in diesen Tagen mit offenen Augen durch unser Land geht oder durch kirchliche Posts scrollt, der sieht hier und da nicht nur Wahlplakate. Er sieht in weiß-gelb-lila drei starke Worte, Jeremia-Worte:
Nächstenliebe, Menschenwürde, Zusammenhalt. Das ist der Aufruf der Kirchen zur Bundestagswahl. Gemeinsam, die anderen im Blick, mit Würde, von Gott geschenkt. Und Zusammenhalt: das ist kein Selbstläufer. Wer Zusammenhalt will. blendet die Probleme nicht aus, guckt genau hin, sieht auch Überforderung und Angst, mahnt dabei aber die Regeln an, die jedes Zusammenleben braucht. Und die durchgesetzt werden müssen, damit nicht alles auseinanderfliegt.
Nächstenliebe, Menschenwürde, Zusammenhalt – dessen sich zu rühmen, darauf stolz zu sein – wie im Besuchsdienst in der Gemeinde. Niemand soll allein sein müssen an seinem Geburtstag. Wie die Stadtmission hier in Berlin die Menschen aus der Kälte holt, Kleidung verteilt, Brot und Seife und ein Lied am nächsten Morgen. Und wie die Initiative #verstaendigungsorte im Osten und im Westen und in der Mitte dieses Landes – wo Kirche und Diakonie einladen zum Ausreden lassen, zum Anhören von Argumenten, zum Sorgen Teilen und zu Tee und Kaffee sowieso.
Nächstenliebe, Menschenwürde, Zusammenhalt. Das ist mühsam, das geht nur liebevoll, das braucht Hartnäckigkeit. Aber Gott gefällt das, genau das – übersetzt Martin Luther.
Das Leben ist kurz und die Tage lang, so fühlt es sich gerade an. Wie gut es tut, wenn einer in der Diskussion mit dem politischen Gegner mal sagt: Da haben Sie recht. Das hat mich überzeigt. Das muss ich mir sagen lassen und nehme es mir zu Herzen. Ein erfrischend anderer Ton wie der des Propheten Jeremia. Wertschätzend. Das braucht´s für alle – in der Politik und in der Kirche auch: einen erfrischend anderen Ton. Sich selber nicht reinsortieren zu lassen in die Freund-Feind-Schemata dieser Tage – auch wenn das einen immensen Aufwand bedeutet. In der Hoffnung, dass wir gemeinsam den erhärteten Hass und Egoismus erweichen können. Wie zu Jeremias Zeiten sind Herabsetzung und Hass und das sich selbst rühmen ein sehr einträgliches Geschäftsmodell zum eigenen Nutzen - und zum Schaden der Seele des Einzelnen und der ganzen Gesellschaft. Zugleich sehnen sich aber so viele nach Frieden und Verständigung. Sollte beides denn gerade darum nicht auch möglich sein?
Denn das ist die alte Frage, aus biblischen, aus modernen, aus spätmodernen Zeiten: Will ich selber Recht behalten - oder will ich in Verbindung bleiben mit anderen Menschen? Will ich mich selber rühmen oder Gott und seine Güte zu uns Menschen? Manchmal gelingt beides zusammen. Mit Gottes Hilfe. Und solches Rühmen gefällt mir, spricht der Herr.
Amen.
„Er weckt mich alle Morgen“: Wir singen aus dem Evangelischen Gesangbuch das Lied Nr. 452