Predigt zu Müntzers Fürstenpredigt - Gedenkjahr: 500 Jahre Bauernkrieg in Mühlhausen
Bischöfin Kirsten Fehrs, amtierende Ratsvorsitzende der Evangelischen Kirche in Deutschland im Gottesdienst in der Divi-Blasii-Kirche in Mühlhausen/Thüringen
Das Gewissen, der Mut und die Freiheit
Predigt zu Müntzers Fürstenpredigt und Römer 13,1-7
„Im Namen unseres Gottes bitte ich Sie um Erbarmen für die Menschen in unserem Land, die jetzt in Furcht leben.“ Es sind diese aufrüttelnden Worte, liebe Gemeinde, die von der Predigt der Bischöfin Mariann Budde zur Amtseinführung von Donald Trump um die Welt gegangen sind. Sie redet der Wahrheit und Gerechtigkeit das Wort und beharrt auf Menschenwürde und Nächstenliebe. Budde bittet einen der mächtigsten Menschen auf der Welt um Milde für die Verängstigten, spricht ihn direkt an – ein leiser, demütiger Appell.
Es ist der 21. Januar 2025 und es fühlt sich nach Weltverschiebungen an. Die Wahl – ein historisches Ereignis. Die Predigt – allemal. Eine eindringliche Rede ins Gewissen mit geistlicher Tiefe, ohne sich selbst zu überheben. Trump weicht den mutigen Worten der Bischöfin nicht aus. Mal schaut er sie an, dann schaut er zur Seite. Er wirkt konsterniert.
Ob der spätere Kurfürst Johann von Sachsen und sein Sohn Johann Friedrich auch so konsterniert geschaut haben, als sie Müntzers Predigt hörten? Wohl kaum, denn die beiden hohen Herren hörten sie beiläufig beim Frühstück in der Hofstube mit ihrem kleinen Gefolge.
Es ist der 13. Juli 1524 im Schloss Allstedt. Müntzer durfte diese später sogenannte „Fürstenpredigt“ nicht in seiner Kirche, nicht einmal in der Schlosskapelle halten. Er wurde immer wieder vertrieben, war in einem Jahr hier, im anderen Monat dort, stets bedroht. Leicht machte er es mit seinen radikalen Ansichten weder seiner Kirche noch den Obrigkeiten.
In seiner Predigt geht Müntzer die beiden sächsischen Fürsten stellvertretend für „die Obrigkeit“ direkt an. Kein bisschen leise, sondern äußerst vehement redet er den Fürsten und Bischöfen ins Gewissen. Wacht auf! Das Ende der Welt ist nahe, merkt ihr es nicht? Zeit umzukehren!
Allesamt würden sie willkürlich handeln, Gottes Willen nicht achten und keinerlei Reformwillen zeigen. Der aber sei bitter nötig, weil man gerade in der Megakrise der Geschichte lebe. Und die findet Müntzer in seiner Auslegung des Prophetenbuches Daniel im Alten Testament abgebildet, wo der Herrscher einen Traum von einer Riesenstatue aus verschiedenen Materialien hat, die Daniel als Abfolge von verschiedenen Königreichen deutet, die zugrunde gehen.
Müntzer sah sich als Daniel seiner Zeit. Als Propheten, der in Träumen Gott selbst ansichtig wurde, der ergriffen vom Geist also Gesichte hatte, Visionen, um die Menschen aufzurütteln. Und so legt er nach: Die einfachen Leute, das seien Gottes Auserwählte, zu denen durch den Heiligen Geist und durch ihn, Müntzer, das Gotteswort komme. Damit stehen die Bauern und Bürger über den in ihrer Unmoral und in ihrem Unglauben verworfenen Fürsten. Denen bietet sich – auch beim Frühstück in Allstedt – noch eine letzte Chance: „Drumb, yhr thewren regenten von Sachssen, tretet keck auff Christus als den eckstein,“ schließt euch den aufständigen Bauern an und sorgt mit für eine neue, gerechte Gesellschaftsordnung!
Wir wissen: diese mit Verve vorgebrachten Gedanken fanden später als „frühbürgerliche Revolution“ Friedrich Engels‘ ganze Sympathien. Dem Müntzer-Denkmal am Frauentor hier in Mühlhausen kann man das noch abspüren.
Überhaupt: Was hat man nicht alles aus Thomas Müntzer gemacht: einen Bauernführer, brandschatzenden Fanatiker, Waffenverliebten, Urkommunisten, den einzig wahren Erlöser. Oder – so Martin Luther – den vom Teufel besessenen Allesverderber. Viele Legenden ranken sich um den gewiss charismatischen Prediger Müntzer, der Luther zunächst sehr verehrt, bevor er ihn in eben jener Fürstenpredigt „Bruder Mastschwein“ nennt. Wie immer Luther sich später abgegrenzt hat, sich um der reformatorischen Bewegung willen wahrscheinlich auch abgrenzen musste, zunächst eint beide die Überzeugung, dass Gottes Gewissenswort bei der Reform der Kirche und der Gesellschaft mitzureden habe. Und zwar klar und in Deutsch, nicht Latein.
Und so übersetzt Luther eindringlich unseren Predigttext mit feinem Zwischenton: Das entscheidende griechische Wort exousia nämlich, das strenggenommen „Macht“ oder „Gewalt“ bedeutet, übersetzt er mit „Obrigkeit“. Warum? Weil er dankbar ist, dass es einen Kurfürst Friedrich den Weisen gab, der sich schützend vor ihn gestellt hat. Und dann hört sich der Text also so an:
„Jedermann sei untertan der Obrigkeit, die Gewalt über ihn hat. Denn es ist keine Obrigkeit außer von Gott; wo aber Obrigkeit ist, ist sie von Gott angeordnet. Darum: Wer sich der Obrigkeit widersetzt, der widerstrebt Gottes Anordnung; die ihr aber widerstreben, werden ihr Urteil empfangen. […] Tust du Böses, so fürchte dich; denn sie trägt das Schwert nicht umsonst. […] Darum ist es notwendig, sich unterzuordnen, nicht allein um der Strafe, sondern um des Gewissens willen.“
Luther findet den Text gut. Und er fertigt einen Sonderdruck an, um ihn zu Beginn seiner Römerbriefvorlesung an seine Studenten zu verteilen, und zwar mit extra großem Abstand zwischen den Zeilen für Notizen und Anmerkungen.
Ich finde das ein starkes Bild: Dieser Raum zwischen den Zeilen. Freier Raum zwischen den biblischen Worten, damit sie atmen können und lebendig bleiben unter uns, unsere Gedanken anstoßen und unsere Gespräche. Vermutlich waren für Müntzer selbst solche Freiräume immer noch zu eng, zu sehr eingezwängt zwischen den Bleilettern. Der Geist, der ihn antrieb und den er für den Heiligen Geist hielt, begnügte sich nicht mit Zeilenzwischenräumen. Sein Geist neigte mehr zum Groß- und Fettdruck, schob sich vor, sprang heraus, drängte, ja drängte auf radikale und rasche Veränderung. Auf Ausrufungszeichen!
Paulus hingegen, der Verfasser des Römerbriefes, hat ein anderes Gemüt, ein anderes Timbre. Wo Obrigkeit ist, ist sie von Gott angeordnet. Was für ein Satz – und hört man ihn nur für sich, lässt er doch angesichts heutiger Autokraten schnell befürchten, dass er für die eigene Machtdemonstration missbraucht wird, und Gott dazu. Doch bei Paulus liest man zwischen den Zeilen vor allem Vertrauen in die staatliche Macht. Die Obrigkeit als Gottes Dienerin bestraft das Böse, stärkt das Gute. Verlässlich. Paulus weiß, wovon er spricht. Als römischer Bürger erlebte er hautnah, wie der Staat ihm Leib und Leben rettete – seine Bürgerrechte nämlich verhinderten eins ums andere Mal, dass er willkürlich verhaftet und verurteilt wurde.
Vertrauen also, liebe Gemeinde, das hält Paulus uns hin. Und ich füge in die Zeilen ein: Gott sei Dank können wir vertrauen! Vertrauen in einen Staat, der uns und die Menschenrechte schützt. Einen Rechtsstaat, der mit einem Grundgesetz gesegnet ist, dem zuallererst vorsteht: Die Würde, die unverlierbare, Gott gegebene Würde des Menschen ist unantastbar. Vertrauen aber auch in die, die unser Land regieren. Demokratisch, auf der Suche nach Kompromissen, mit Mehrheiten. Alles nicht einfach im Moment, ich weiß. Aber über uns herrschen eben keine Kaiser mehr. Wir dürfen selbst wählen. Geheim, gleich und frei. Wir leben in einem Staat, der uns diese Freiheit garantiert – davon können die meisten Menschen auf dieser Welt nur träumen. Und auch wenn die Demokratie im Moment manchen Stresstest zu bewältigen hat, bleibt sie laut Grundgesetz immer noch die Staatsform, bei der die exousia, von der Paulus spricht, bei der alle Staatsgewalt vom Volke ausgeht.
Wir wissen, das war in unserem Land nicht immer so. Wir schauen auf eine gebrochene Geschichte, die in den Dreißigerjahren des vergangenen Jahrhunderts genau mit der Einschränkung der Freiheit einzelner begann. Und das Gewissen nur weniger regte sich, leider.
Zugleich ist heute wichtig, mit Römer 13 darauf zu schauen, wie die Mütter und Väter des Grundgesetzes nach der Katastrophe von nationalsozialistischer Diktatur und einem mörderischen Weltkrieg Haltung zeigten mit einer neuen Ordnung der Mitmenschlichkeit. Auferstanden aus Zerstörung, Menschenverachtung und Amoralität. Deshalb: Unantastbar ist die Würde des Menschen! „Alle Menschen sind vor dem Gesetz gleich.“, „Eine Zensur findet nicht statt.“, „Politisch Verfolgte genießen Asylrecht.“ – alles Grundrechte. Was für gerade Sätze, die ähnlich wie die Zehn Gebote in ihrer Klarheit bestechen!
Inmitten all der Weltverschiebungen, liebe Geschwister, wo Machtmenschen derzeit so vieles außer Kraft setzen, was Recht und Freiheit schützt, können solche gültigen Texte gar nicht oft genug zwischen die Zeilen geschrieben und gehört werden. Sich der Obrigkeit unterzuordnen, das gilt eben für jedermann. Auch für Regierende und für Regierungshandeln. Sie dürfen niemals totalitär werden und müssen sich – so glauben wir‘s als Christenmenschen – letztlich vor den Menschen und vor Gott verantworten. Jedermann, jedefrau muss sich der Obrigkeit unterordnen, das heißt im Klartext: Kein Mensch steht über dem Gesetz. Weder ein Präsident noch ein Unternehmen, weder eine Institution noch eine Aktivistin, für welche gute Sache auch immer. Niemand.
Was ist damit nun in diese Zeit hineinzupredigen – in einer wunden Welt mit einer Politik, die nicht nur in unserem Land um den richtigen Weg ringt? Was ist unsere Aufgabe als Christenmenschen? Wie dienen wir Christus in diesen Tagen, wo so viele Menschen verunsichert sind und verstört durch so viel Irrsinn? Wohin führen uns die Gedanken zu Müntzer, Luther, Paulus, die Fürstenpredigt und den Römerbrief? Alles ja spielt heute bei der Ouvertüre der Predigtreihe eine Rolle!
In jedem Fall nicht von der Seitenlinie „klugschnacken“, wie wir Norddeutschen sagen. Aber Mitdenken, sich auseinandersetzen, um Lösungen ringen, reden und nicht schweigen, die Zehn Gebote hineinweben. Es also halten mit Luther, der mit seinen großen Abständen zwischen den Zeilen Raum ließ für Wortstreit und Debatte, für Unterschiede, Freiheitsraum für politisches Argument und religiöses Innehalten. Und es eben nicht Müntzer gleichtun, der im Geist der Ausrufungszeichen gar nicht erst ins Diskutieren kommt.
Schlicht, so kennen wir‘s ja heute nur zu gut als Polarisierung, schlicht weil der eine den Geist und damit Recht hat und die anderen uneinsichtige, bösartige Gegner bleiben. Nein, ich empfinde es von Römer 13 her für uns als Auftrag, dieser Polarisierung etwas entgegenzusetzen. Es geht jetzt um viel, liebe Geschwister: Demokratie zu leben. „Lasset die Geister aufeinanderplatzen, nicht die Fäuste!“ dieses Wort Luthers passt in diese Zeit und in dieses Land. Und es passt ebenso zu der Initiative der EKD und Diakonie in Deutschland, die ich mit großer Überzeugung vertrete: Es braucht jetzt #Verständigungsorte, konkrete Orte des Dialogs über die gesellschaftlichen Krisen und Konflikte. Als organisierte Begegnung der Verschiedenen – kontrovers, leidenschaftlich, mit dem Atem der Geduld. Allen Radikalisierungen zum Trotz. Nützt ja nix, wir müssen reden!
Und Müntzer nun, der hatte die Geduld dafür nicht mehr. Wenn die Fürsten, sagt er, nicht mithilfe des Schwertes Gottes Reich auf Erden verteidigen, soll ihnen eben jenes Schwert „in der Scheide verrosten“. Dann muss ihnen die weltliche Macht genommen werden – und sei es von den Bauern, mit Aufständen, Gewalt und Kampf.
Und so regierten dann doch die Fäuste und die Waffen. Fäuste und Waffen, die die Bauern und ihren Propheten Müntzer mit voller Wucht trafen, besonders auch hier in Mühlhausen. Was für ein fataler Irrtum für Müntzer und seine Anhänger. Was für ein Fanal der Verzweiflung!
Und wie gut, dass mit der Enthüllung des Denkmals gestern gemeinschaftlich so viele Menschen Anteil genommen – und in aller Ambivalenz auch des leidvollen Freiheitsmutes der Bauern damals gedacht haben.
Mut ist ein Lebensweg. Auf diesem Weg gibt es entscheidende Momente, ja, aber Mut muss kein Heldenmut sein. Mariann Budde hat das eindrücklich vor Augen geführt. Verantwortung zu übernehmen und der Barmherzigkeit und Nächstenliebe auf die Welt zu helfen, all der Gewalt zum Trotz, das ist nicht nur die Pflicht, es ist die Freiheit von uns Christenmenschen. Aus eben dieser Freiheit entsteht der Mut, den Mächtigen der Welt die Bitte der Verängstigen immer wieder entgegenzuhalten. Mit genau dem Mut, der in der Demut liegt.
Bei Müntzer wurde es im Laufe der Zeit der Mut der Verzweiflung. Oder besser: die Wut der Verzweiflung. Eine traurige und tragische Geschichte. Aber gerade deshalb ist wichtig, sich seiner zu erinnern – seiner frommen Leidenschaft jenseits aller Geduld, die so viel Gutes wollte und dennoch so friedlos endete. Nehmen wir uns das zu Herzen – und schenken um der Barmherzigkeit willen dem friedvollen Wortstreit unsere Kraft. Dazu segne uns Gott mit seinem Frieden, höher als alle Vernunft. Er bewahre unsere Herzen und Sinne in Christus Jesus. Amen.