Andacht zum Gedenken an Bischof Dr. Gottfried Forck

06. Oktober 2003, St. Marien zu Berlin

Es gilt das gesprochene Wort.

„Christus spricht: Ich bin die Tür zu den Schafen; wenn jemand durch mich hineingeht, wird er selig werden und wird ein- und ausgehen und Weide finden.“

1.
Am berlin-brandenburgischen Bischofsamt hat Gottfried Forck stets gerühmt, dass es vor allem anderen ein Predigtamt sei. Der Bischof, so erklärte er, predige im Jahresdurchschnitt nicht weniger als andere Pfarrer dieser Kirche auch. Ich kann das aus eigener Erfahrung bestätigen. Der Dienst an Gottes Wort prägt das Leben des Bischofs wie das Leben jeder Pfarrerin und jedes Pfarrers. Ich empfinde das als Segen.

Deshalb versammeln wir uns heute abend unter Gottes Wort. An dem Tag, an dem Gottfried Forck achtzig Jahre alt geworden wäre, sind wir in St. Marien zusammen, der Predigtkirche des Bischofs. Hier wurde Gottfried Forck am 14. November 1981 in sein Bischofsamt eingeführt; hier hatte er als Bischof seine ständige Predigtstätte; hier hat er am 30. September 1991 seine letzte Predigt im Bischofsamt gehalten; und hier haben wir am 3. Januar 1997 von ihm als unserem Bruder Abschied genommen.

Wir hören an diesem Abend auf Gottes Wort, wie es uns im neutestamentlichen Losungswort für den heutigen Tag entgegentritt. Es ist eines der Ich-bin-Worte, die dem Johannesevangelium seine unverkennbare Prägung geben. Unter diesen Ich-bin-Worten ist es nicht gerade das bekannteste.

Ich bin das Brot des Lebens, ich bin das Licht der Welt, ich bin der gute Hirte, ich bin die Auferstehung und das Leben, ich bin der Weg und die Wahrheit und das Leben, ich bin der Weinstock. Einprägsam sind die Bilder, die sich mit den Ich-bin-Worten des Johannesevangeliums verbinden. Manche von ihnen sind überaus eingängig: „Ich bin der Weinstock; ihr seid die Reben“(Joh,15,5). „Ich bin der gute Hirte; der gute Hirte lässt sein Leben für die Schafe“ (Joh.10,11). Verglichen damit ist das Wort von Christus als der Tür vergleichsweise spröde. Kaum jemandem würde es als erstes einfallen, wenn von diesen Selbstvorstellungen Christi im Johannesevangelium die Rede ist.

2.
Dabei taucht dieses Wort in der Bekenntnisgeschichte unserer Kirche an herausragender Stelle auf. Es gehört zu denjenigen biblischen Worten, mit denen die Thesen der Barmer Theologischen Erklärung von 1934 eingeleitet werden. Jedem der sechs Sätze der Barmer Theologischen Erklärung sind ja jeweils biblische Zitate vorangestellt. Dadurch wollte die Bekennende Kirche deutlich machen, dass es sich bei den Aussagen der Theologischen Erklärung nicht um selbst gewählte oder selbst gefundene Einsichten, sondern um evangelische Wahrheiten handelte.

Unter den sechs Thesen der Barmer Theologischen Erklärung ist die erste These die einzige, der zwei biblische Zitate vorangestellt sind. Es handelt sich um zwei johanneische Ich-bin-Worte. „Ich bin der Weg und die Wahrheit und das Leben; niemand kommt zum Vater denn durch mich“ (Joh.14,6). Das ist das erste biblische Wort, dem als zweites dies zur Seite tritt: „Wahrlich, wahrlich, ich sage euch: Wer nicht zur Tür hineingeht in den Schafstall, sondern steigt anderswo hinein, der ist ein Dieb und ein Mörder. Ich bin die Tür, so jemand durch mich eingeht, der wird selig werden“ (Joh.10,9).

Mit diesen beiden biblischen Worten wird die erste und grundlegende These der Barmer Theologischen Erklärung eingeleitet, die selbst folgendermaßen heißt: „Jesus Christus, wie er uns in der Heiligen Schrift bezeugt wird, ist das eine Wort Gottes, das wir zu hören, dem wir im Leben und im Sterben zu vertrauen und zu gehorchen haben. Wir verwerfen die falsche Lehre, als könne und müsse die Kirche als Quelle ihrer Verkündigung außer und neben diesem einen Wort Gottes auch noch andere Ereignisse und Mächte, Gestalten und Wahrheiten als Gottes Offenbarung anerkennen.“

„Ich bin die Tür“: Auf dem Weg über die Barmer Theologische Erklärung führt uns dieses Wort des Johannesevangeliums ins Zentrum des Wirkens und der Theologie von Gottfried Forck. Denn es ist kein Zufall, dass die Barmer Thesen sich im Anhang zu dem Buch abgedruckt finden, das Bischof Forcks Denken zusammenfassend darstellt. „Glauben ist Ermutigung zum Handeln“: So heißt der charakteristische Titel dieses Buchs. Die Einsichten sind hier gebündelt, die sich schon anbahnten, als der Student der Theologie sich dagegen auflehnte, dass Luthers Theologie im Sinn einer neuprotestantischen Zwei-Reiche-Lehre ausgelegt und gegen die Vorstellung von der Königsherrschaft Christi in Stellung gebracht wurde. Forck wurde nicht müde, nach Belegen für die Vorstellung von einer Königsherrschaft Christi bei Martin Luther selbst zu suchen. Er fühlte sich dazu vor allem durch die zweite Barmer These motiviert, die sich wie ein Cantus firmus durch seine ganze Theologie und sein gesamtes Wirken zieht: „Wie Jesus Christus Gottes Zuspruch der Vergebung aller unserer Sünden ist, so und mit gleichem Ernst ist er auch Gottes kräftiger Anspruch auf unser ganzes Leben; durch ihn widerfährt uns frohe Befreiung aus den gottlosen Bindungen dieser Welt zu freiem, dankbarem Dienst an seinen Geschöpfen. Wir verwerfen die falsche Lehre, als gebe es Bereiche unseres Lebens, in denen wir nicht Jesus Christus, sondern anderen Herren zu eigen wären, Bereiche, in denen wir nicht der Rechtfertigung und Heiligung durch ihn bedürfen.“

Jesus Christus mit gleichem Ernst als Zuspruch der Vergebung und als Gottes kräftigen Anspruch auf unser ganzes Leben zu verstehen, das setzt voraus, in ihm allein die Tür und den Weg, die Wahrheit und das Leben zu sehen. Die Art, in der Gottfried Forck sich wieder und wieder auf die zweite These von Barmen berief, setzt die erste, grundlegende, alles andere entscheidende These voraus. Das muss man sich auch heute klar machen, wo nicht selten die Neigung zu beobachten ist, zwar im Namen des christlichen Glaubens einen umfassenden Anspruch zu artikulieren, aber dabei im Unbestimmten zu lassen, woher dieser Anspruch stammt. Dabei hängt alles daran, dass es sich nicht um einen eigenen Anspruch oder einen Anspruch der Kirche, sondern um einen Anspruch Jesu Christi selbst handelt.

Ich kann es auch anders sagen: Den Willen, eine falsch verstandene Zwei-Reiche-Lehre zu überwinden, finde ich in unserer Kirche häufig. Dass diese Überwindung allein im Namen Jesu Christi selbst möglich und vertretbar ist, höre ich dagegen eher selten. Stattdessen gilt die „christologische Konzentration“, die Sammlung ganz und gar auf das Christusbekenntnis häufig als etwas, das nicht mehr auf der Höhe der Zeit sei. Sich an Gottfried Forck zu erinnern, heißt demgegenüber, sich das Beispiel eines Menschen vor Augen zu halten, dessen Theologie ganz und gar vom Christuszeugnis bestimmt war und dessen kirchliches Handeln sich ganz und gar am Christusbekenntnis ausrichtetete.

Davon war schon die frühe Entscheidung des Hamburgers Gottfried Forck zum Dienst in der DDR genauso geprägt wie sein Handeln auf den verschiedenen Stationen dieses Dienstes: Als Studentenpfarrer an der Humboldt-Universität, als Pfarrer in Lautawerk, als Direktor des Predigerseminars in Brandenburg, als Generalsuperintendent in Cottbus und als Bischof unserer Kirche vom 1. Oktober 1981 bis zum 30. September 1991. Auf all diesen Stationen lässt sich beobachten, dass Gottfried Forck sich leiten ließ durch die Einsichten der Bekennenden Kirche, durch die evangelischen Wahrheiten der Barmer Theologischen Erklärung, durch das Bekenntnis zu Jesus Christus als „dem einen Wort Gottes, dem wir im Leben und im Sterben zu vertrauen und zu gehorchen haben.“

3.
„Ich bin die Tür“. Der Hinweis auf die Barmer Theologische Erklärung bringt uns dieses Wort näher; aber fremd bleibt es doch. Es weckt unsere Aufmerksamkeit. Ich sehe es mit den aufmerksamen, zugewandten Augen an, die mir an Gottfried Forck immer so besonders aufgefallen sind, bis zum Schluss. Nähe war aus ihnen zu spüren – eine Nähe, die ganz besonders die erlebten, die ihm in seiner Familie vertraut oder durch die tägliche Zusammenarbeit verbunden waren. Bescheidenheit und innere Stärke zugleich waren aus seinem Blick zu spüren.

Mit der Aufmerksamkeit seines Blicks will ich diesem Wort Christi weiter nachsinnen: „Ich bin die Tür.“ Ich will einen Zugang dazu durch einen, wie ich zugebe, gewagten Vergleich suchen. In diesen Wochen findet die große Ausstellung viel Beachtung, die in der Neuen Nationalgalerie der Kunst in der DDR gewidmet ist. In ihr findet sich ein Bild von Willy Wolff mit dem provozierenden Titel: „Lenin zum 100. Geburtstag“. Es stammt – nahe liegender Weise – aus dem Jahr 1970. 99 Leninköpfe sind auf dem Bild zu sehen: der Künstler hat sich extra einen Stempel mit Lenins Porträt geschnitten, um dasselbe Konterfei 99mal reproduzieren zu können. Schräg über das Blatt spannt sich ein stilisiertes Ordensband. Links unten aber ist eine Tür zu sehen. Sie sprengt den Konformismus, der das ganze Blatt prägt; sie macht der ewigen Wiederkehr des Gleichen ein Ende. Die unausweichliche Botschaft dieses Bildes heißt: Durch diese Tür kannst Du nur selbst gehen; ob der Konformismus ein Ende findet, entscheidest Du.

Nach dem Karfreitag, so erzählt das Johannesevangelium, saßen die Jünger Jesu hinter verschlossenen Türen. Ihr Mut war aufgebraucht, sie hatten Angst. Doch Jesus redet sie auch hinter den verschlossenen Türen an. Ihn hindern die verschlossenen Türen nicht. Längst schon hat er gesagt: „Ich bin die Tür.“ Wo er ist, öffnen sich die Türen. Er ist die Tür, die Erde und Himmel miteinander verbindet, Tod und Leben, Vergangenheit und Zukunft, das Persönliche und das Allgemeine, die Welt und Gott. An uns ist es, die Tür, die uns offen steht, auch zu nutzen, sie nicht nur wahrzunehmen, sondern auch durch sie hindurchzugehen.

Gottfried Forck war ein Mensch, der die geöffnete Tür nicht nur betrachten, sondern durch sie hindurchgehen wollte. In seiner unaufdringlichen Brüderlichkeit hat er deshalb manches getan, was andere nicht gewagt hätten. Als die jungen Leute von staatlicher Seite bedrängt wurden, die den Aufnäher „Schwerter zu Pflugscharen“ trugen, hat er sich diesen Aufnäher selbst auf die Aktentasche geklebt und sich auf diese Weise mit den Bedrängten identifiziert. Auch zu einem Termin beim Staatssekretär für Kirchenfragen ging er mit dieser Aktentasche und setzte so ein unübersehbares Zeichen. „Glauben ist Ermutigung zum Handeln“.

Wir gedenken des 80. Geburtstags von Gottfried Forck an dem Tag, an dem Juden in aller Welt den Jom Kippur, den Tag der Versöhnung feiern. Dass wir an Gottfried Forck am großen Versöhnungstag denken, nehme ich als ein Zeichen besonderer Art. Sein Lebenszeugnis war am Dienst der Versöhnung ausgerichtet; er war nicht nur auf besondere Weise ein brüderlicher, sondern auch ein diakonischer Bischof. „Er ist – so hat Johannes Hempel einmal gesagt – der Diakon unter uns Bischöfen in der DDR“. Der Dienst der Versöhnung war die Art von Diakonie, für die er sich einsetzte.  Er wollte nicht nur selbst durch die Tür gehen; er wollte auch andere dazu einladen. Daran erinnern wir uns in Dankbarkeit. Darin bleibt er uns Vorbild.

Der einfache Gruß der Benediktiner könnte auch sein Gruß an uns sein - und vielleicht auch unser Gruß an ihn: „Porta adest, cor maius: Die Tür steht offen, das Herz noch mehr.“ Amen.