"Gewissheit aus der Anfechtung". Predigt über Psalm 46 („Ein feste Burg ist unser Gott“) zum Reformationsfest
Robert Leicht im Dom zu Naumburg
Ach, was waren das noch für Zeiten – als uns der noch in düsterem Schwarz-Weiß aufgenommene Schulfilm im damals noch nicht so richtig geteilten Deutschland zeigte, wie der Mönch Martin Luther mit grimmiger Miene heldenhaft seine Thesen an die Tür der Wittenberger Schlosskirche hämmerte (eine Legende, wie wir heute wissen) – und bald darauf vor dem Stadttor die päpstliche Bannbulle in die Flammen warf...
Ach, was waren das noch für Zeiten, als wir protestantischen Kinder triumphierend sangen, wie man uns gelehrt hatte: „Und wenn die Welt voll Teufel wär“ – und als wir dabei nicht nur insgeheim an die Katholiken im Nachbardorf dachten, mit denen man sich ja auch nicht verheiratete.
Heute hingegen ziehen wir Protestanten einen kindischen Flunsch, wenn der katholische Papst nach Erfurt kommt, ohne ein „ökumenisches Gastgeschenk“ dabeizuhaben.
Ach, was waren das noch für Zeiten - als Heinrich Heine, ohne auf Widerspruch zu stoßen, des Lied „Ein feste Burg ist unser Gott“ als eine Art protestantische Marseillaise bezeichnen konnte - als protestantisches, um nicht zu sagen: national-protestantisches Gegenstück zu der blutrünstigen französischen Revolutions- und schließlich Nationalhymne. Heute ist von Weltumsturz und Siegesgewissheit im deutschen Protestantismus nicht mehr zu reden, schon gar nicht in den ursprünglich hochprotestantischen Regionen, in denen gegenwärtig nur noch um die 15 Prozent der Leute sich zur evangelischen Kirche zählen, wie in Sachsen-Anhalt etwa. Wer unter solchen Umständen am Reformationstag eine protestantische Heerschau abhalten wollte, täte besser daran, das Lied Nummer 249 anzustecken: „Verzage nicht, du Häuflein klein...“
Ja, was waren dies für Zeiten! Aber waren es bessere Zeiten? Im Rückblick will es mir vorkommen, als müsste auch für unsere Stilisierung der Reformationsgeschichte das “Abendlied“ des Dichters Matthias Claudius gelten – sogar am hell-lichten Tage:
Wir stolzen Menschenkinder
Sind eitel arme Sünder
Und wissen gar nicht viel.
Wir spinnen Luftgespinste
Und suchen viele Künste
Und kommen weiter von dem Ziel.
Denn: „Verzage nicht, du Häuflein klein“ - , liebe Gemeinde, genau damit stünden viel wir näher bei Martin Luther, dem Dichter und Komponisten des Liedes „Ein feste Burg ist unser Gott“, stimmten wir näher überein mit seinen reformatorischen Buß-Thesen und seiner Theologie – als mit allen uns überlieferten so stolzen, aber doch auch so hohlen Triumph-Gesängen.
Dieser Weg vom bescheidenen Anfang zum auftrumpfenden Gehabe lässt sich auch musikalisch nachzeichnen an der Geschichte des Liedes, das uns heute durch diesen Gottesdienst leitet.
Als Martin Luther dies Liedlein 1529 dichtete und komponierte, hatte es noch seine bewegte, etwas kompliziertere rhythmische Gestalt, in der er es mit der Laute in der Hand vor sich hinsummte, – diese Fassung mir eigentlich immer noch am liebsten! – da hatte es noch einen so beschwingten Beat, fast taugte es auch als Rap.
Als Johann Sebastian Bach dieses Lied dann fast 200 Jahre später in Weimar erstmals einer Kantate zugrundelegte, geschah dies auf den Sonntag Oculi, auf einen der stilleren Sonntage der Fastenzeit und Passionsvorbeitung – also als ein Buß-Lied in Zeiten der Anfechtung.
Später, in Leipzig hingegen musste die kunstvolle Kirchenmusik in der Passionszeit schweigen, also auch am Sonntag Oculi, so dass Bach diese Kantate mit einem Eingangs-Chor versah und sie auf den Reformationstag verlegte, der beginnend erst mit dem Jahr 1667, also mit dem 150. Jahrestag der Thesen Luthers, nach und nach am 31. Oktober begangen wurde. Aber auch damals hatte diese Kantate noch einen verhaltenen Klang, ganz ohne triumphale Pauken und Trompeten.
Die Trompetenstimmen wurden erst nach dem Tode Johann Sebastian Bachs von seinem Sohn Wilhelm Friedemann hinzugefügt.
Von der stillen Laute zur lauten Trompete, vom nach innen gekehrten Buß-Lied zum nach außen und gegen die Katholischen gekehrten Triumphgesang – ein merkwürdiger Weg!
Nun haben wir diese Kantate soeben in ihrer prallen Endfassung gehört und wir brauchen uns dies auch nicht zu missgönnen, solange wir nun anschließend bereit sind, uns auf den Ursprung all dessen einzulassen, also auf Martin Luthers Reformation und ursprüngliches Lied – und damit auf dem Psalm 46, unseren Predigttext, der diesem Lied zugrundeliegt:
Gott ist unsere Zuversicht und Stärke,/
eine Hilfe in den großen Nöten, die uns getroffen haben.
Darum fürchten wir uns nicht, wenngleich die Welt unterginge/
und die Berge mitten ins Meer sänken,
wenngleich das Meer wütete und wallte/
und von seinem Ungestüm die Berge einfielen.
Der Herr Zebaoth ist mit uns,/
der Gott Jakobs ist unser Schutz.
Der Strom mit seinen Bächen erfreut die Stadt Gottes,
die heiligen Wohnungen des Höchsten.
Gott ist bei ihr drinnen, darum wird sie fest bleiben....
Liebe Gemeinde!
Wer so stark von Zuversicht redet, der hat es - wie uns jeder Psychologe belehren kann – nötig. Martin Luther wusste es sehr wohl, dass er es nötig hatte. Aber wissen wir es? Empfinden wir, wie der Reformator, die großen Nöte, die uns getroffen haben, und zwar so stark, dass uns Zuversicht etwas zu bedeuten vermag? Oder sind wir in der modernen, säkularisierten Epoche theologisch schon derart entspannt und lahm geworden, dass uns ein religiöses Krisenbewusstsein gar nicht zu erreichen vermag? Wenn unsere Zeitgenossen überhaupt noch wissen, was es mit Gott und „der Religion“ auf sich haben kann...
Sind wir in der technischen Beherrschung und der Durch-Rationalisierung unserer kapitalistischen oder sei’s drum: sozialistischen Welt schon so selbstsicher geworden, dass wir den lieben Gott einen guten Mann sein lassen können, einen Erinnerungsposten und Lückenbüßer am Rande?
„Wenn alles fällt und alles bricht, so bin ich doch in Ruhe“ - so heißt es in einer anderen Bach-Kantate, in der auf das Michaelisfest. Aber diese Ruhe ist nicht etwa die Ruhe der Ahnungslosen, die nicht wissen, was auf dem Spiele steht, sondern diese Ruhe ist das Gegenstück zu dem Bewusstsein der existenziellen Bedrohung, der Möglichkeit des Weltuntergangs für alle (– wenngleich die Welt unterginge, so Ps 46 – ) und der Möglichkeit für uns selber, dass unsere eigene persönliche Existenz ins ewige Nichts fällt. In der alten Sprache redete der Reformator hier von der Anfechtung.
Und der Tübinger Theologe Oswald Bayer erläutert heutzutage: „Anfechtung ist ... mächtiger als der radikalste intellektuelle Zweifel, tiefgreifender als die Furcht vor der Erschütterung der Fundamente des Seins, tiefgreifender auch als die Erfahrung der Gefährdung und des Verlustes des Selbst- und Weltvertrauens.“
Eine gewisse Ahnung von der Tiefe des Absturzes bekommen wir, wenn wir Menschen – oder uns selber – im Zustand der Depression begegnen. Aber auch die Depression haben wir inzwischen klinisch erfasst und in den populären Zeitschriften beinahe schon als eine Art Modekrankheit verarztet.
Vor der Möglichkeit der atomaren Vernichtung und den Möglichkeiten und Gefährdungen der Gentechnik sowie vor der Klimakatastrophe entwickeln wir immerhin ein politisches und kollektives Krisenbewusstsein. Aber wie steht es mit unserem individuellen Krisenbewusstsein, mit der Ahnung, dass der Teufel im Detail – und deshalb in uns selber – steckt und wüten kann, wovon Martin Luther in immer neuen Wendungen zu reden genötigt ist?
Wenn wir aber uns von Martin Luther an der Hand nehmen und zeigen lassen wollen, was er mit Zuversicht einerseits und Anfechtung andererseits meint, müssen wir uns etwas tiefer einlassen auf dieses Begriffspaar von Versuchung und Anfechtung.
Wir beten zwar am Ende eines jeden Gottesdienstes im Vaterunser „und führe uns nicht in Versuchung“, aber solange wir dabei nicht an mehr denken als an das sechste Gebot (und andere lässliche Sünden), entgeht uns die eigentliche Dimension der Bedrohung – wie des Gebets.
Für die scheinbar so gegensätzlichen Begriff „Versuchung“ und „Anfechtung“ gibt es im Neuen Testament und im Griechischen nur ein einziges Wort: peirasmos. Und niemand bleibt davon verschont.
Selbst Jesus von Nazareth wird vom Teufel in der Wüste in Versuchung geführt.
Versuchung und Anfechtung, dies ist ein merkwürdiger Begriffszwilling. Die Versuchung will uns anstiften, uns selbstherrlich über uns hinaus zu erheben: „Das alles – also die Herrschaft über die ganze Welt“ – über ihre Macht und Herrlichkeit – (und Ökonomie) – „will ich dir geben, wenn du niederfällst und mich anbetest“, sagt der Teufel zu Jesus von Nazareth. Die Anfechtung hingegen ist im Gegenteil die Gefahr, in sich selber depressiv zusammenzusinken und abzufallen, auch vom Glauben. Die manische Versuchung und die depressive Anfechtung, man könnte geradezu von einem manisch-depressiven Komplex sprechen!
Stehen wir Heutigen nun besser da, weil uns eine allgemeine religiöse Gleichgültigkeit oder Harmlosigkeit jenes Gefahren-Bewusstsein längst eingeschläfert hat, das Martin Luther derart umgetrieben hatte, dass darüber die damalige religiöse Welt in den Umsturz geriet?
Im ersten Religionsunterricht, sofern wir einen solchen überhaupt noch genossen haben, ist uns wahrscheinlich gesagt worden, im Zustand der Verzweiflung sollten wir uns vom Abgrund abwenden und einem kindlichen Gottvertrauen zuwenden. Ganz falsch muss das ja nicht sein.
Aber die Pointe bei Luthers Lied und Theologie ist nun diese: Das Gottvertrauen ist Martin Luther nicht das bloße Gegenteil der Anfechtung, sondern geradezu die anders nicht mögliche Frucht der fürchterlichsten Anfechtung. Die Anfechtung ist ihm die unumgängliche Voraussetzung, Gottes Wort und Zuspruch überhaupt erst richtig zu verstehen - man würde heute auf neu-hochdeutsch sagen: Die Anfechtung ist der hermeneutisch notwendige Schlüssel zum Gottvertrauen. Und deshalb konnte Luther in der Vorrede zum 1. Band der deutschen Schriften schreiben: Die Anfechtung „ist der Prüfstein, der dich nicht allein wissen und verstehen lehrt, sondern auch erfahren, wie recht, wie wahrhaftig, wie süß, wie lieblich, wie mächtig, wie tröstlich Gottes Wort sei, Weisheit über alle Weisheit.“
Das heißt nun nichts anderes – auch für uns, als diese dreifache Erkenntnis:
Zum ersten: Von Gott als unserer Zuversicht und Stärke kann niemand im Ernst reden, der nicht zuvor erfahren hat, wie sehr wir ihrer bedürfen – und welche Nöte und Anfechtungen uns bedrängen.
Zum zweiten: Erst aus dieser Zuversicht und Stärke, können wir uns einlassen auf den Blick in die Abgründe, die uns bedrohen – die sich auftun: in uns und um uns herum.
Im Westlettner dieser Kirche haben wir – wie die Bild-Meditation vorhin zu Beginn des Gottesdienstes zeigte – ein anschauliches Bild für diesen Sachverhalt vor uns vor uns: Niemand kommt hinein in den Westchor (und – wie es das Neue Testament sagt – ins Himmelreich) – es sei denn unter dem Kreuz Christi.
Heute ist es populär geworden zu sagen: „Wir können nicht tiefer fallen als in Gottes Hand.“ Wohl wahr – solange wir darüber nicht vergessen, wie unendlich tief wir für unsere Verhältnisse fallen können, bevor wir seine rettende Hand zu spüren bekommen! Jesu Schrei am Kreuz „Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen“ muss uns im Ohr gellen, bevor wir diesen frommen Spruch vor uns hin sagen.
Zum dritten schließlich: Leben wir aber nur so weiter in den Tag hinein, existenziell ahnungslos, dann entgeht uns beides - das Krisenbewusstsein einerseits, die Rettungs-Möglichkeit andererseits.
Nur wenn wir also zu singen verstehen: „Verzage nicht, Du Häuflein klein...“ können wir auch ohne falschen Zungenschlag singen: „Ein feste Burg ist unser Gott“.
Und deshalb können wir das Reformationsfest nie feiern als stolze Heerschau des Protestantismus, oder gar als Leute, die sich religiös oder konfessionell überlegen dünken. Nicht unser Kirchentum ist eine feste Burg, sei es nun ein protestantisches oder ein katholisches. Auch die Stadt Zion ist lt. Psalm 46 nur eine feste Burg, soferne und weil Gott in ihr wohnt. Das aber kann keine Burg, keine Kirche von sich selber behaupten – nicht einmal die Stadt Zion. Wir setzen unser Vertrauen nicht in all die Burgen, deren Ruinen wir dann später besuchen können – vor allem hier im Burgenlandkreis, auch nicht in all die Rettungsschirme, die wir uns gegenwärtig basteln. Nein, es geht nicht um versteinertes Burgvertrauen, sondern um lebendiges Gottvertrauen. Hinweg also mit allen konfessionellen und klerikalen Selbstsicherheiten, seien sie nun wittenbergisch oder römisch. Nur aus der Anfechtung, lehrt uns Martin Luther mit seiner reformatorischen Theologie, finden wir zu Gott.
Und nur als stets angefochtene Menschen können wir das Reformationsfest feiern und dabei etwas vom Gottvertrauen erfahren – so wie Martin Luther dies auf seinem Sterbebett gesagt hat: „Wir sein pettler. Hoc est verum. „Wir sind Bettler. Das ist wahr.“
Dankbare Bettler.
Amen.