Predigt am Karfreitag in St. Marien zu Berlin

18. April 2003

Die Gnade unseres Herrn Jesus Christus und die Liebe Gottes und die Gemeinschaft des Heiligen Geistes sei mit euch allen. Amen.

I.
„Sei gegrüßt, Kreuz, du einzige Hoffnung“ _ „Ave crux unica spes“: mit diesem Gebetsruf hat die Christenheit über die Jahrhunderte die Bedeutung des Kreuzes Jesu angerufen. Einmalig ist die Bedeutung des Kreuzes. In vielfältigen Formen ist es deshalb in unsere Kultur eingewandert. Selbst dort noch, wo es zum bloßen Schmuckstück banalisiert wird, blitzt etwas davon auf, dass es unsere einzige Hoffnung ist.

Eine junge Frau begegnete mir neulich mit einem schlichten und schönen silbernen Kreuz um den Hals. Ich freute mich darüber und sagte, damit bekenne sie sich ja deutlich zu ihrem christlichen Glauben. Nein, antwortete sie, das trage sie nur zum Schmuck.

Wie viele Menschen tragen wohl das Kreuz zum bloßen Schmuck? Von dem Radrennfahrer Jan Ulrich wird berichtet, er habe sich bekreuzigt, als er erfolgreich über die Ziellinie radelte. Er glaube wohl an Gott, fragte ihn ein Reporter. Nein, antwortete er, er sei nur abergläubisch.

Aber all das kann dem Kreuz seine Bedeutung nicht rauben. Seit alters wurde es in Kirchen errichtet und an Weggabelungen, auf Friedhöfen wurde es angebracht und in Gerichtssälen. Darüber, ob es in Schulzimmern hängen dürfe, entbrannte heftiger Streit. Ob es Kindern zuzumuten sei, „unter dem Kreuz zu lernen“, so wurde gefragt. Dabei unterdrückt das Kreuz nicht, es richtet auf.

„Ave crux unica spes“ – „sei gegrüßt, Kreuz, du einzige Hoffnung“: so wird in alten Liturgien gesungen und gebetet. Das Kreuz Christi ist die einzige Hoffnung, die trägt. Vom Kreuz Christi kommt all unsere Hoffnung her und auf das Kreuz Christi läuft sie hin. Darum haben wir Kreuze in unseren Kirchen und Häusern, ja sogar um den Hals. Darum bekreuzigen sich Menschen; auch unter Evangelischen kann man das wieder, oft noch etwas zögernd, beobachten. Das Kreuzeszeichen, sich selbst oder einem anderen zugedacht, macht uns gewiss, worin unsere einzige Hoffnung liegt – im Leben und im Sterben. Das Kreuzeszeichen erinnert uns daran,  dass alle Zuversicht und alles Vertrauen ihren Grund und ihren Bezugspunkt im Kreuz Christi haben. Die verwirrenden Wege unseres eigenen Lebens: dort kommen sie zur Klarheit. Die Lebenslinien, die wir selbst nicht deuten können: dort laufen sie zusammen. Wer das Kreuz im Blick hat, der kennt Grund und Ziel seines Lebens.

Es gibt, soweit ich sehen kann, kein Symbol in unserer Welt, das beides so vereinigt: Leid und Hoffnung, Verzweiflung und Trost, Klage und Dank, Schmerz und Geborgenheit. Hinter den unendlich vielen Kreuzen, die wir selbst errichten oder ertragen, die wir selbst erleben oder mit unseren Händen nachzeichnen, steht das eine Kreuz Christi, von Gott in unsere Welt gestellt. Wer sich an dieses Kreuz hält, wird leben.

II.
„Es ist vollbracht“. Nach dem Johannesevangelium sind dies die letzten Worte des Gekreuzigten. Nicht der Ruf der Verzweiflung steht am Ende: „Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?“ Sondern der Ruf der Erleichterung beschließt den Weg ans Kreuz: „Es ist vollbracht“. Über das Kreuz hinaus ist nichts zu sagen oder zu tun. Jesu Verkündigung ist durch die Tat bekräftigt; nichts fehlt daran. Sein Weg ist am Ziel; er ist vollbracht.

Befremdlicher lässt sich nicht reden. Was ist das für eine Verkündigung, die am Kreuz zur Vollendung kommt? Was ist das für ein Weg, dessen Ziel das Kreuz ist? Was ist das für ein Mensch, für den es eine „Erhöhung“ ist, wenn er ans Kreuz genagelt wird, hingerichtet auf die schmählichste Art, die sich denken lässt?

Immer wieder gab es Menschen, die wollten sich nur an der Lichtgestalt des Auferstandenen halten und an ihr erbauen. Aber das Kreuz bleibt das endgültige Zeichen für Jesu Weg. Nur wenn wir den Weg begreifen, den er als Mensch unter Menschen ging, ergreifen wir auch Gottes Liebe, die uns in ihm begegnet. Mit diesem Tod bricht nicht etwas ab, was zunächst so hoffnungsvoll begann; mit ihm kommt zur Erfüllung, was diesen Weg von Anfang an bestimmt: „Denn Gott hat die Welt so sehr geliebt, dass er seinen einzigen Sohn hingab, damit jeder, der an ihn glaubt, nicht zugrunde geht, sondern das ewige Leben hat“ (Joh. 3,16). Die Hingabe um der Liebe willen: dafür steht das Kreuz. „Ave crux unica spes“ – „sei gegrüßt, Kreuz, du einzige Hoffnung“.

Gottes Liebe ist es, die Jesus ans Kreuz bringt. Jesus, so hat es einer gesagt, „wollte in die Welt des ewigen Eises den Frühling bringen. Das war seine ‚Revolution’. Sie griff alle an. Eben weil sie niemanden angriff. Sie stellte alle in Frage. Eben weil sie sich an jedermanns Seite stellte. Sie ging allen zu weit, eben weil sie auf alle zuging“ (E. Drewermann). Jesus machte sich zum Fürsprecher der göttlichen Barmherzigkeit. Sie aber galt als unerträglich. Denn wo sollte noch oben und unten sein, wo blieben die Ersten und die Letzten, wenn die Barmherzigkeit zur Herrschaft kam? Als „König der Juden“ wurde Jesus bezeichnet; und er ließ es geschehen. Doch die Insignien seines Königtums waren alles andere als herrscherlich: Dornenkrone und Kreuz.

Jesus stirbt nicht, weil die göttliche Gerechtigkeit ein Opfer fordert. Er stirbt, weil die göttliche Barmherzigkeit ein Zeichen braucht – ein Zeichen, das unsere arme Welt verstehen kann, das Zeichen des Kreuzes. Für eine Barmherzigkeit steht Jesus ein, die keine und keinen ausschließt; um dieser Barmherzigkeit willen wird er selbst ausgeschlossen und hinausgedrängt. Einsam stirbt er am Kreuz. Sein Kreuz wird zum Zeichen dafür, dass wir niemanden mehr allein lassen dürfen mit seinem Kreuz, keinen aussondern, der leidet, niemanden ausgrenzen aus dem Herrschaftsbereich dieses Königs, des Königs der Barmherzigkeit. Gottes Barmherzigkeit meint jeden Menschen gleich. Seine Liebe gilt ungeteilt. Sie ist an keine Bedingungen geknüpft.

III.
Können wir heute diese Art von Herrschaft zulassen? Oder müssen wir sie genauso verurteilen wie die Herrschenden jener Zeit, die Jesus ans Kreuz brachten? Sind wir bereit, Gottes bedingungslose Barmherzigkeit gelten zu lassen, seiner ungeteilten Liebe Raum zu geben?  Wenn wir sie anerkennen - was bedeutet das in diesen Tagen des zu Ende gehenden Irakkriegs? Seine Folgen und Auswirkungen sind für uns alle noch unabsehbar – in der ganzen Spannweite zwischen hemmungslosem Jubel und hemmungslosem Plündern, zwischen der Freude der Menschen über das Ende der Diktatur und der mutwilligen Zerstörung unvorstellbarer Kulturschätze im Bagdader Museum und anderswo. Was wiegt der einzelne Mensch in diesem Geschehen? Gilt das Gesetz der Barmherzigkeit, nach dem jeder Mensch gleich wertvoll ist?

Menschen sind unterschiedlich viel wert, konstatiert der englische Schriftsteller Julian Barnes, auch in dem Krieg dieser Wochen. Im Tod wie im Leben werden sie nicht gleich geachtet. Ein einfacher irakischer Soldat gilt weniger als ein Mitglied der Republikanischen Garde. Ein Mitglied der irakischen Führung zählt mehr als ein Mitglied der Fedajin Saddam. Und ein toter irakischer Diktator wäre mehr wert als sie alle zusammen. Nachdrücklich wurde in diesen Wochen des Krieges der Schutz der Zivilbevölkerung gefordert. Deshalb zieht man nach der Rechnung des englischen Schriftstellers getötete Zivilisten von der Erfolgsbilanz wieder ab; im Unterschied zu getöteten Soldaten schlagen sie negativ zu Buche. Dabei gilt der Tod von Männern geringer als der von Frauen, der Tod von Erwachsenen zählt weniger als der Tod von Kindern. Weit höher aber wird in der westlichen Welt der Tod eines Soldaten aus der kriegführenden Koalition gewertet oder auch der Tod eines Journalisten – es sei denn, sein Schicksal taugt für einen gefühlvollen Hollywoodfilm.

Das klingt alles sehr makaber. Ja, die Rechnung von Julian Barnes tönt zynisch in unseren Ohren. Wir wollen das nicht hören. Doch bevor wir uns abwenden, fragen wir uns vielleicht selbst, ob wir denn die gleiche Achtung jedes Menschenlebens durchhalten – auch im Krieg. Auch der weiteren Frage können wir nicht ausweichen: der Frage nach den Opfern, die das irakische Regime wie die Politik der wirtschaftlichen Sanktionen gegen das Regime im letzten Jahrzehnt schon gefordert haben. Hatten wir die 500 000 Kinder überhaupt im Sinn, die in den vergangenen Jahren ohnmächtige Opfer dieses Konflikts wurden – ein angemessenes Opfer, wie eine amerikanische Politikerin sogar dazu erklärte?

„Ich kenne den Menschen nicht.“ So sagt Petrus, der Jesus dreimal verrät, ehe der Hahn kräht. Mir klingt dieser Verrat schrill in den eigenen Ohren.

Nun werden Wege zum Frieden gesucht. Christinnen und Christen sind bei dieser Suche nicht von sich aus klüger als andere Menschen. Aber sie können die Gewissheit einbringen: Der, der ans Kreuz geht, gibt einen Frieden, wie die Welt ihn nicht geben kann. In diesem Frieden können wir lernen, den Menschen zu kennen, weil wir ihn kennen, den Gekreuzigten. Wir werden nicht einfach politische Parteigänger, sondern Fürsprecher der Menschen, wenn wir uns an ihn halten. Wenn wir zu Jesus stehen, auch wenn es etwas kostet, werden wir für die gleiche Würde aller Menschen eintreten, unabhängig von Nationalität und Stellung, seien sie Soldaten oder Zivilisten, jung oder alt, Frauen oder Männer.

Dass wir für diesen Frieden eintreten, erwarten die Menschen von uns. Und damit haben sie Recht. Denn dann halten wir uns dort auf, wo wir hingehören: im Schatten des Kreuzes.

IV.
Eine Geschichte zum Schluss: Ein Mann wollte seinen Schatten loswerden, aber, wie er es auch versuchte, es gelang ihm nicht. Er wälzte sich auf dem Boden, stürzte sich ins Wasser, versuchte, über den Schatten hinweg zu springen. Alles war vergeblich. Ein weiser Mann, der von diesen hilflosen Versuchen hörte, meinte dazu: „Es wäre doch ganz einfach gewesen, den Schatten loszuwerden!“ „Wieso einfach?“ fragten die Umstehenden neugierig, „was hätte er denn machen sollen?“ Der weise Mann gab zur Antwort: „Er hätte nur in den Schatten eines Baumes treten müssen.“

Warum wollte der Mann seinen Schatten los werden? Der Schatten ist die Schuld, die uns von Gott und seiner Barmherzigkeit trennt. Wir erfahren den lähmenden Abstand von Gott. Wir stehen im Schatten unserer eigenen Karfreitagserfahrungen, unserer eigenen Karfreitagsexistenz. Wir         wissen, wie uns das zusetzen kann. Was sagt jener Weise? „Du brauchst       nur in den Schatten eines Baumes zu treten.“

Wir brauchen nur in den Schatten des Baumes, des Kreuzes Jesu zu treten,         dann werden wir die Schuld los. Unser Schatten ist in seinem Schatten aufgehoben. Im Schatten dieses Kreuzes werden wir nicht alleine stehen. Dort stoßen wir auf andere mit ihrer Karfreitagserfahrung, ihrer Schuld und ihrem Leiden. Dort stoßen wir auf die Soldaten, die um seinen Rock würfeln, dort stoßen wir auch auf die Frauen, den Jünger und Maria, Jesu Mutter. Wir stoßen auf Täter und Opfer von Unrecht im Großen und im Kleinen. Miteinander erleben wir: Der für Gottes Barmherzigkeit sein Leben gab, befreit uns. Der Karfreitag bleibt kein Trauertag. Er schenkt uns Gewissheit über Gottes Liebe zu unserer leidenden Welt. Wir erfahren Gottes Barmherzigkeit mit denen, die um ihr Leben betrogen wurden.

Das Kreuz ist der Baum, dessen Schatten unsere Schatten birgt. In diesem Schatten wird es hell. Amen