Predigt im Festgottesdienst 175 Jahre Gustav-Adolf-Werk in Lützen
Wolfgang Huber
I.
Wohl keiner von uns wäre vor 375 Jahren auf die Idee gekommen, sich freiwillig an diesem Ort zu versammeln. Nebel, so überliefert die Geschichtsschreibung, lag über den Feldern bei Lützen. Der Nebel schien das aufziehende Unheil dieses Tages noch zurückhalten zu wollen, das sich dann aber doch auf grausame Weise Bahn brach. „Der Nebel wird schwarz wie Pulverdampf“ dichtet Theodor Fontane über diesen Moment.
Am Ende jenes 6. November 1632 werden hier, vor den Toren Leipzigs, über zehntausend Menschen ihr Leben gelassen haben; unter ihnen Gustav Adolf, der damalige schwedische König. Jedesmal, wenn wir an diese Schlacht denken, bedrückt uns, dass die Selbstbehauptung der evangelischen Sache damals auf kriegerische Gewalt angewiesen war. Und ebenso, dass der durch konfessionellen Zwist ausgelöste Krieg, der schon vierzehn Jahre währte, auch mit der Schlacht von Lützen noch kein Ende fand, sondern noch weitere sechzehn Jahre andauerte: der „dreißigjährige Krieg“.
Es ist zugleich denkwürdig, dass jener Tag den entscheidenden Anstoß für eines der ältesten und am weitesten verzweigten Hilfswerke des deutschen Protestantismus bildet. Den zweihundertsten Todestag Gustav Adolfs, den 6. November 1832, nahm man zum Anlass, das Gustav-Adolf-Werk zu gründen. Wie es sich seitdem entwickelt hat und trotz aller geschichtlichen Einbrüche, Abbrüche und Aufbrüche am Leben blieb, ist ein Wunder Gottes vor unseren Augen. Mit großer Freude bin ich deshalb von der Synode der Evangelischen Kirche in Deutschland, die gerade in Dresden tagt, zu Ihnen nach Lützen gekommen, um diesem traditionsreichen Diasporawerk unserer Kirche den herzlichen Dank und die herzlichen Segenswünsche der Evangelischen Kirche in Deutschland zu überbringen. Ja, es ist denk-würdig und dank-würdig zugleich, dass heute der mahnenden Erinnerung an die Schlacht bei Lützen und den Tod des damaligen schwedischen Königs der Dank und die Freude anlässlich der Feier des 175jährigen Jubiläums des Gustav-Adolf-Werkes zur Seite treten.
Natürlich starb Gustav Adolf nicht auf dem Schlachtfeld, damit ein protestantisches Hilfswerk einen entscheidenden Impuls erlangen konnte. Sondern das Umgekehrte gilt: Weil es ohne das Engagement Gustav Adolfs diesseits der Ostsee in den Auseinandersetzungen während der ersten Hälfte des Dreißigjährigen Krieges für die Sache der Protestanten nicht gut gestanden hätte, avancierte er rasch zum „Retter des Protestantismus“. Eine Initiative zur Erinnerung an den Tag seines Todes im Jahr 1832 hier an diesem Ort wurde deshalb zum Beginn für eine der eindrücklichsten Hilfsaktionen im deutschen Protestantismus. Bis zum heutigen Tag umfasst sie alle Gliedkirchen der Evangelischen Kirche in Deutschland; vom Engagement vieler evangelischer Christen wird sie getragen; in erstaunlich hohem Maß lebt sie vom ehrenamtlichen Engagement.
Der damalige Superintendent Christian Gottlob Leberecht Grossmann gewann die Überzeugung, die aus Anlass des 200. Todestags geplante Geldsammlung sei besser eingesetzt, wenn sie den bedrängten evangelischen Christen in der Diaspora zugute komme, als wenn sie für die Errichtung eines Gustav-Adolf-Denkmals verwendet werde. Vor Augen stand Superintendent Grossmann dabei das Schicksal der evangelischen Gemeinden im böhmischen Fleißen; diesen war von der österreichischen Regierung verboten, die evangelische Kirche und Schule im benachbarten sächsischen Brambach zu besuchen. Heute staunen wir über die Vielfalt von Projekten, die sich an dieses erste Vorhaben angeschlossen haben. Und wir freuen uns über die Vielfalt der 175 Gottesdienste, die aus Anlass des 175jährigen Jubiläums gefeiert worden sind. Es ist denkwürdig, dass wir am Ort des Beginns für dieses Jubiläumsjahr einen Schlusspunkt setzen.
II.
Als Leitwort über die neu begründete Hilfsinitiative wurde ein Vers aus dem Galaterbrief gewählt; wir haben ihn in der Lesung bereits in seinem Zusammenhang gehört: „Darum, solange wir noch Zeit haben, lasst uns Gutes tun an jedermann, allermeist aber an des Glaubens Genossen.“
Für Unklarheit und Nebel lässt dieser Satz keinen Raum. Er orientiert das eigene Handeln in aller Deutlichkeit am Nächsten und am Glauben. Zunächst aber lässt der Tonfall der Dringlichkeit aufhorchen: „... solange wir noch Zeit haben.“ Wie lange wird noch Zeit sein? Was Paulus der Gemeinde in Galatien gegenüber zu dieser Betonung der Dringlichkeit veranlasste, lässt sich nicht mit letzter Klarheit feststellen. Aber es liegt nahe, dass die übergroße Hoffnung ihn zur Eile mahnte, mit der er das unmittelbar bevorstehende Kommen von Gottes ewigem Reich erwartete.
Wie steht es mit uns? Die Hoffnung, dass Gottes Reich kommt, verbinden wir mit der Gewissheit, dass es unter uns immer wieder neu beginnt, dass es „mitten unter uns“ ist. Aber geben wir ihm Raum? Schaffen wir Platz dafür, dass Gottes Geist sich mitten unter uns entfaltet? Wo es an unserer Bereitschaft und Fähigkeit fehlt, ihn zu empfangen, ist es hohe Zeit zur Tat. Wo Mitchristen am Zeugnis gehindert sind, weil sie dafür weder Räume noch mitarbeitende Menschen haben, ist unser Eingreifen vonnöten. Wo es an Gutem mangelt, ist es hohe Zeit zur helfenden Tat.
Oft werden wir auf die Diskrepanz gestoßen, dass unser Tun hinter unseren Möglichkeiten weit zurückbleibt. Wir nehmen einen Mangel wahr – einen Mangel an Frieden und Gerechtigkeit, an Respekt vor der Würde des Menschen und an Fürsorge für den hilfsbedürftigen Nächsten; und unser Handeln bleibt hinter dieser Wahrnehmung weit zurück. Dass diese Diskrepanz nicht zwangsläufig ist, führt Jesus uns im Gleichnis vom Barmherzigen Samariter vor Augen: Zwei gehen angesichts der Not vorüber; der Dritte aber übt an dem im Straßengraben liegenden, ausgeraubten das, was not tut: Barmherzigkeit. Oft genug steht uns die Not direkt vor Augen; das Leitwort des Gustav-Adolf-Werkes lehrt, dass die Wahrnehmung der Not bereits den dringlichen Impuls zur helfenden Tat in sich trägt.
Der Gründungsaufruf im Leipziger Tageblatt von 1832 erging „zu brüderlicher Unterstützung bedrängter Glaubensgenossen und zur Erleichterung der Not“. Gott sei Dank war der Appell trotz seiner männlich klingenden Sprache keineswegs nur an Männer gerichtet; sondern ihm sind insbesondere auch Frauen in großer Zahl gefolgt, wie die Frauenarbeit im Gustav-Adolf-Werk eindrucksvoll zeigt. Bedrängnis kennt zwar Geduld, aber sie braucht rasche Hilfe – erst recht in der Diaspora. Einer meiner Vorgänger im Amt, der ehemalige EKD-Ratsvorsitzende und Berliner Bischof Martin Kruse, hat dies so ausgedrückt: Wer sich für die Diaspora einsetzt, muss sich sputen, so wie man sich in der Diaspora sputen muss.
Von 175 Jahren dachte man vor allem an eine Diaspora, in der evangelische Gemeinden in einem katholisch geprägten Umfeld lebten. Heute ist die Diaspora vielfältig geworden. Sie schließt evangelische Minderheitskirchen in orthodox geprägten Ländern ebenso wie in muslimisch geprägten Regionen ein; aber durch die Entwicklung des 20. Jahrhunderts hat sich auch eine Minderheitssituation in mehrheitlich glaubensloser Umwelt entwickelt. Es gibt auch Gegenden in unserer Welt, in denen um die Freiheit des Glaubens aufs neue gerungen werden muss. Mit großer innerer Beteiligung nehmen wir deshalb heute all jene Orte in der Welt wahr, an denen Christen Willkür und Verfolgung ausgesetzt sind. Die Evangelische Kirche in Deutschland tritt deshalb für die freie Religionsausübung als universales Menschenrecht ein. Wir finden uns nicht damit ab, dass es insbesondere Christen sind, die in der heutigen Welt unter Einschränkungen und Verletzungen dieses Menschenrechts zu leiden haben. Zu fordern ist in diesem Zusammenhang übrigens auch, dass Muslime, die in unserem Land zum Christentum übertreten, deshalb genauso wenig bedrängt werden wie Christen, die zum Islam übertreten. Es hat durchaus einen neuen, präzisen und uns zugleich in der Tiefe berührenden Sinn, wenn der Apostel Paulus uns auffordert, „Gutes zu tun an jedermann, allermeist aber an des Glaubens Genossen.“
III.
Die Initiative des Jahres 1832 hatte eine außerordentliche Resonanz. Außer dem Leipziger Gründungsaufruf erging knapp zehn Jahre später ein Aufruf „für die hülfsbedürftigen protestantischen Gemeinden“ auch in Kassel. Für diesen Aufruf, der von dem Darmstädter Hofprediger Karl Zimmermann ausging, wählte man den Reformationstag 1841. Die Basis für die in Lützen begonnene Initiative wurde dadurch um vieles breiter. Man muss sich ja noch einmal ein Bild von dem Flickenteppich machen, als welcher sich der deutsche Protestantismus damals darbot. Nur 23 Landeskirchen wie heute – das musste damals wie eine niemals zu erreichende Utopie – oder eben: ein stets zu meidendes Schreckgespenst erscheinen. Und ein Dach, das sich über die einzelnen Territorialkirchen wölbte, gab es überhaupt nicht. Das Bewusstsein für eine gemeinsame protestantische Kirchlichkeit war damals, wenn man es freundlich ausdrücken will, außerordentlich unterentwickelt. Zwar war die preußische Landeskirche ein vergleichsweise großes, in Provinzialkirchen gegliedertes Gebilde; aber eine gemeinsame geistliche Leitung stand auch ihr damals noch nicht zur Verfügung. Auch hier war man also allenfalls auf dem Weg dazu, eine organisatorische Einheit herauszubilden. In dieser Situation bedeutete die gemeinsame Ausrichtung an der Hilfe für evangelische Gemeinden in der Diaspora eine wichtige Triebfeder zur Herausbildung eines gemeinschaftlichen Selbstverständnisses. Man darf dabei ja nicht vergessen: Der Kirchentag in Wittenberg mit Johann Hinrich Wicherns flammendem Aufruf zur gemeinsamen helfenden Tat stand erst noch bevor. Das Gustav-Adolf-Werk nahm mit seiner besonderen Zielsetzung etwas vorweg, was sich erst später in größerer Breite entfaltete: eine gemeinsame Hilfsaktion des deutschen Protestantismus, die den gesamten deutschen Protestantismus, unabhängig von den landeskirchlichen Grenzen, umspannte.
Das Gustav-Adolf-Werk spielt weit über die deutschen Grenzen hinaus eine bedeutende Rolle. Bereits bis zum Ersten Weltkrieg hatten mehr als 6.500 Gemeinden in aller Welt Unterstützungsleistungen erhalten. Heute gewinnt es auch immer größere Bedeutung für die Zusammengehörigkeit und den Zusammenhalt der evangelischen Kirchen in Europa. Darin steckt ein Zukunftspotential, das ich auch im Sinn habe, wenn ich darum bitte, in der Arbeit an dieser Stelle nicht nachzulassen. Denn in der Diaspora geht es um beides zugleich: Um die Erfahrung der Vereinzelung und um gezielte Saat. Es geht in beiden Hinsichten um Sammlung und Sendung. Es geht darum, die Lebensfähigkeit evangelischer Kirchen und damit des evangelischen Glaubens zu stärken.
IV.
Hilfsgelder statt Heldengedenken – so lässt sich der Impuls von 1832 zusammenfassen. Hier in Lützen wird es schnell einleuchten, wenn ich darin eine frühe Form von „Schwerter zu Pflugscharen“ sehe. Keinem kann verborgen bleiben, dass der schwedische König, auf den sich diese Aktion beruft, in der Wahl seiner Mittel nicht zimperlich war; sein Handeln entsprach dem, was man von einem erfolgreichen Kriegsherrn in den Grausamkeiten des Dreißigjährigen Krieges zu erwarten hat; zu unkritischer Verherrlichung taugt das nicht. Nach damaliger Vorstellung war es seines Amtes, dem Recht mit Waffengewalt Raum und Durchsetzung zu verschaffen – und sei es auch, dass dadurch ungezählte Soldaten und Zivilisten das Leben versuchen. Auch wenn wir uns darum bemühen, zu Verhältnissen beizutragen, in denen Frieden auf andere Weise geschaffen und gesichert wird, haben wir freilich kein Recht dazu, dem protestantischen König, der auf solche Weise tätig wurde, den Ernst des Glaubens und die Aufrichtigkeit seiner Glaubensmotive streitig zu machen. Den Kriegsherrn und den Verteidiger seines Glaubens zusammen zu sehen: das ist – die keineswegs einfache – Aufgabe, vor die uns die Erinnerung an Gustav Adolf stellt.
Es fügt sich, dass gerade eben die Denkschrift des Rates der EKD erschienen ist, die über die friedensethische Position unserer Kirche Auskunft gibt. Sie ist nicht von der Rechtfertigung des Krieges, sondern von der Verantwortung für den „gerechten Frieden“. Siegmacht deutlich: Wer den Frieden will, muss den Frieden vorbereiten. Wer aus dem Frieden Gottes lebt, tritt für den Frieden in der Welt ein. Friede ist nur dann nachhaltig, wenn er mit Recht und Gerechtigkeit verbunden ist. Daraus ergibt sich eine Verpflichtung auf den Vorrang ziviler Konfliktbearbeitung und die Bindung der Anwendung von Zwangsmitteln, auch von Mitteln militärischer Gewalt, an strenge ethische und völkerrechtliche Kriterien. Auch die Herausforderung durch den modernen internationalen Terrorismus rechtfertigt keine Wiederbelebung der Lehre vom „gerechten Krieg“. Vielmehr bewährt sich gerade in einer solchen Situation die Ausrichtung aller friedenspolitischen Überlegungen an der Leitidee des „gerechten Friedens“.
V.
Der Geist der Gründer des Gustav-Adolf-Werkes ist nicht im Nebel der Geschichte versunken; er ist bleibend aktuell. Denn er bildet eine zutiefst evangelische Antwort auf die Weisung des Apostels: „Darum, solange wir noch Zeit haben, lasst uns Gutes tun an jedermann, allermeist aber an des Glaubens Genossen.“