Protestantische Friedensethik auf neuen Wegen
Bischöfin Kirsten Fehrs, amtierende Ratsvorsitzende der EKD
An den Rand gedrängt?
Frieden und Zivile Konfliktbearbeitung in Zeiten eskalierender Gewalt
4. Konsultation der EKD-Friedenswerkstatt
Evangelische Akademie Loccum
Protestantische Friedensethik auf neuen Wegen
Einführung
Dona nobis Pacem. Als vor kurzem in Hamburg der weltbekannte Ballettmeister John Neumeier sein 50-jähriges Bühnenjubiläum beging, gab er zum Erstaunen der Stadtgesellschaft gerade nichts Leichtes, kein Dornröschen oder Schwanensee. Er tanzte mit seinem Ensemble die h-moll-Messe von Bach. Titel: Dona nobis Pacem.
Es war ein herzzerreißendes Friedenszeichen in diesen Zeiten. Zu sehen, wie auf der Bühne, über Zeitläufe hinweg, über die Weltkriege, aber auch über den Krieg in der Ukraine, damals und heute sich verschränkend, die Bitte um Frieden und die Sehnsucht nach Versöhnung den tausendfachen sinnlosen Tod besiegt, nein: überwindet, machte alle atemlos. Auch die bislang wenig Ballettbegeisterten. So saß bei der Premiere Olaf Scholz vor mir, der im Anschluss tief bewegt diese Aufführung mit die berührendste Friedensdemonstration nannte, die er erlebt hat.
Die Welt ist aus den Fugen – das konnte man sehen bei den bis in die Sehnen sich sehnenden Kindersoldaten mit ihren marschierenden Schrittfolgen! Bis dann – beim Gloria in Excelsis – die Engel sich dieser leidenden Kinder erbarmen. Indem sie sich in die zackigen Bewegungen der Kinder hineinschmiegen, sich einfühlen, ja, sie tragen. Trotzig lebensbejahend mit ihrem engellauten Gloria in Excelsis Deo – den Menschen Frieden und ein Wohlgefallen – tragen sie die Kleinen in ihre Rettung hinein, heraus aus der mörderischen Not, manchmal auch von dieser in jene Welt. Ein einziges Ringen des Guten mit dem Bösen, bei dem die Engel die Ferse vorn haben. Selten ist für mich so eindrucksvoll deutlich geworden, dass es heute mehr denn je dieser flehentlichen Bitte bedarf, die einer Haltung entspricht, es mit der Resignation entschieden aufnehmen zu wollen. Dona nobis Pacem. Herr, gib Frieden – mit allen Sinnen.
John Neumeier und ich kennen uns gut, reden viel miteinander und vertrauen einander. Vor einigen Wochen war ich in Baden-Baden von ihm eingeladen, mit ihm auf der Bühne über Krieg und Frieden zu reden. Die Menschheit braucht es, sagte er, dass wir uns öffentlich emotional auseinandersetzen. Kulturell auch. Differenziert. Nach allen Regeln der Kunst. Religiös. Gegen die Abstumpfung durch die Bilderflut. Unglaublich eindrucksvoll, wie der heute 85-Jährige, der ja immer noch tanzt, u. a. erklärte, warum es in den Szenen zu Dona nobis Pacem eine Sequenz gibt über Hiroshima – in der der Tänzer das Schattenbild eines verglühten Menschen in erstarrter Bewegung festtanzt. John Neumeier als Amerikaner, mit tiefem Schuldgefühl, hat bereits in den Achtzigerjahren in Hiroshima mit seiner Company gastiert und als erstes die Matthäuspassion aufs Programm gesetzt, ja sogar selbst getanzt – Dona nobis Pacem. Das ist kein punktuelles künstlerisches Friedensengagement. Das ist ein Lebenswerk.
Warum erzähle ich Ihnen das, die Sie ja nun seit Jahren dankenswerterweise und höchst profund in der Weiterentwicklung der Friedensethik unterwegs sind, mit einer Fachexpertise, die mich jedes Mal den Hut ziehen lässt, einfach weil diese Komplexität der Friedensethik abzubilden ein tiefgründiges Wissen braucht über historische Zusammenhänge, aktuelle geopolitische Entwicklungen und theologische Grundierungen? Ich erzähle Ihnen das, weil biographische Prägungen eine entscheidende Rolle spielen. Und weil mir an ganz vielen Orten in der Kulturszene, aber auch in der Bildungslandschaft, im interkulturellen und interreligiösen Dialog, in der Kunst, in der Kirche, ja auch in Wirtschaft und Politik der Wunsch entgegenkommt, dass das Festhalten an einer zivilen Konfliktbearbeitung nicht an den Rand gedrängt wird, so wie es Ihr Tagungsthema problematisiert.
Gesucht werden Menschen wie Sie, die auch Antworten versuchen und sie zur Verfügung stellen, um über sie zivil zu streiten. Fachkundige, die noch argumentieren, und in Nuancen darum ringen, ob etwa Waffen in die Ukraine zu liefern, geboten ist oder höchstens möglich. (In der Nuancierung dieser Begriffe haben wir uns beispielsweise in der Landessynode der Nordkirche im Mai 2022 zur Benennung „vertretbar“ durchgerungen.) Es braucht in der derzeit politisch so aufgerauten und polarisierenden Debatte Menschen der Besonnenheit wie Sie, die geprägt sind von einer Haltung der Einfühlsamkeit, um inmitten all der Weltverwundungen den Frieden konsequent zu denken, an ihn trotz allem zu glauben, ja für ihn zu beten. Kurz: Es braucht die protestantische Kirche als glaubwürdige „Anwältin des gerechten Friedens“, wie die Denkschrift von 2007 es markiert.
Frieden und zivile Konfliktbearbeitung – und das in Zeiten eskalierender Gewalt. So heißt das Tagungsthema vollständig. Denn ja: Die Welt ist aus den Fugen. Wir wissen, sie war es schon lange vor dem 24. Februar 2022. Aber angesichts all dessen, was wir in den vergangenen zwei Jahren erlebt haben, fühlt es sich so an.
Unsere in den letzten etwa 30 Jahren gefühlt zur Gewohnheit gewordenen sicherheits- und friedenspolitischen Standards und Verlässlichkeiten sind zutiefst erschüttert worden. Dadurch stehen auch unsere friedensethischen Positionen neu auf dem Prüfstand und die protestantische Friedensethik wird auf neue Wege geschickt. Gut, dass es diese Tagung dazu gibt.
Gegenwärtige Herausforderungen
Seit dem völkerrechtswidrigen russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine sind wir mit einem großen zwischenstaatlichen Krieg in Europa konfrontiert, sozusagen unmittelbar vor unserer Haustür. Die Berichte über Zerstörungen, verletzte und tote Menschen – Soldaten und Soldatinnen, aber auch Zivilistinnen und Zivilisten, sie nehmen seit gut zwei Jahren kein Ende.
Die just Oscar-prämierte Dokumentation „20 Tage in Mariupol“ ist dabei in ihrer komplett ungeschönten Darstellung in einem Maße bewegend und aufrüttelnd, dass es ihresgleichen sucht. Denn man sieht tatsächlich, wie sehr es in diesem Falle geboten ist, dass dem Bruch des Völkerrechts, der Verletzung der Grenzen und des Territoriums eines souveränen Staates die Selbstverteidigung entgegengesetzt und dies dringend unterstützt werden muss. Allemal wenn nicht einfach auf Freiheit und Selbstbestimmung, auf die eigene Regierung, auf die eigene Kultur und Identität verzichtet werden will (und darf). Die übrigen westlichen Staaten stehen vor der Aufgabe, die Ukraine zu unterstützen, diese völkerrechtswidrige Aggression bestmöglich zu begrenzen und einzuhegen. Und man muss klar konstatieren: Die Grenzen der Durchsetzbarkeit des Völkerrechts und internationaler Vereinbarungen sind in diesem ganzen Zusammenhang offen zutage getreten.
Seit dem 7. Oktober 2023, seit den brutalen, terroristischen Angriffen der Hamas auf Israel und der darauffolgenden militärischen Reaktion des Staates Israel, verschärfen sich die Spannungen im Nahen Osten. Die Notwendigkeit der Solidarität mit Israel, mit Menschen jüdischen Glaubens steht uns sehr deutlich vor Augen. Ja, und (nicht: Ja, aber …) ebenso kann uns das Leiden der palästinensischen Zivilbevölkerung im Gazastreifen nicht unberührt lassen.
Ja, und: von weiteren Kriegen und gewaltsamen Konflikten weltweit wissen wir, meist ohne sie tagtäglich wahrzunehmen oder ihre Auswirkungen zu bedenken oder uns über konkrete Konfliktlösungen Gedanken zu machen. Vielleicht, weil sie uns unsere eigene Verletzlichkeit nicht so direkt und unmittelbar vor Augen führen, wie das der russische Angriff auf die Ukraine getan hat.
Denn mit einem Mal wurde unsere Abhängigkeit von russischem Erdgas und Erdöl deutlich und damit das Bewusstsein für eine nötige wirtschaftliche Unabhängigkeit geweckt, vor allem auch im Bereich der kritischen Infrastruktur – eine möglichst große Unabhängigkeit von autoritären Regimen, die Freiheit und Menschenrechte, grundlegende Werte unserer Demokratie und unseres gesellschaftlichen Miteinanders ganz offensichtlich missachten.
Veränderte geopolitische Verhältnisse mit inzwischen verschiedenen, multiplen Machtzentren und Ordnungsvorstellungen werfen auch in diesem Zusammenhang neue Fragen auf. Zu prüfen ist, wie wir und wie unsere altbewährten Bündnisse NATO und EU, aber auch wie internationale Abkommen oder Vereinbarungen und die Institutionen der UN angesichts dieser multiplen Ordnungen und neuer Staatenbündnisse (z. B. der BRICS-Staaten) zu stehen kommen und wie wir uns in der Gemengelage oder im Gegenüber zu solchen neuen Machtzentren am besten verhalten sollten.
Dann: Der menschengemachte Klimawandel verschärft die Ressourcenfragen noch einmal. Abzusehen sind durch Klimaveränderungen, Dürren, Verwüstungen und den steigenden Meeresspiegel verursachte Verteilungskämpfe, Kriege und Fluchtbewegungen.
Hinzu kommen schließlich Herausforderungen durch neue oder modernisierte Waffensysteme (automatisierte Waffen, neue oder modernisierte Nuklearwaffen, z. B. in Form von taktischen Atomwaffen, so klein, dass sie manchen als einsetzbar erscheinen) und nicht zuletzt die Gefährdungen im Cyberbereich. Durch Desinformation, Spionage und mögliche Hackerangriffe greifen diese auch auf den zivilen Bereich über und gefährden den gesellschaftlichen Zusammenhalt. Und das alles nach gut drei Jahren Pandemie, die ein komplett erschöpftes System zurückgelassen haben und die Veränderungsprozesse im Bereich von Energiebeschaffung und Klimaschutz sowie Maßnahmen gegen die Inflation und die verschärften finanziellen und sozialen Nöte, unter denen viele Menschen in unserer Gesellschaft leiden, notwendig machen.
Friedensethischer Ausblick
Wie ist die protestantische Friedensethik nun, auf diese Situation gegenwärtiger Herausforderungen hin, auszulegen oder anzuwenden?
Es wird sicher einerseits darum gehen, vorhandene und inzwischen mehr als deutlich vor Augen stehende Gefahren, Risiken und über Leichen gehendes, völkerrechtswidriges Großmachtstreben als Realität anzuerkennen. Und es gilt zugleich, unsere protestantische Anthropologie, die auch die Christenmenschen ja immer nicht nur als gerechtfertigt, sondern auch als sündig und potenziell böswillig beschreibt, nicht zu verdrängen oder zu ignorieren. Mit all dem sind wir konfrontiert in dieser Welt, die aus den Fugen ist.
Einer christlichen oder protestantischen Friedensethik wird es aber auch darum gehen, trotz alledem das Ziel eines friedlichen Zusammenlebens, in Gesellschaften, in benachbarten Staaten, letztlich weltweit, nicht aus den Augen zu verlieren. Und aus dem Rückblick auf die protestantische Friedensethik seit den Achtzigerjahren steht uns deutlich vor Augen, dass den politischen Mitteln der Konfliktbewältigung und den auf militärische Gewalt verzichtenden Instrumenten und Wegen dabei der Vorrang gegenüber aller militärischen Gewalt zukommen muss. Christliche oder protestantische Friedensethik ist und bleibt bei allem Realitätssinn ausgerichtet auf Gewaltfreiheit und Frieden. Und das muss sich im Konkreten zeigen.
Wenn wir unter den Bedingungen dieser noch auf die eschatologische Erlösung harrenden und von Gewalt und Schuld geprägten Welt daran festhalten, dass wir nicht ohne Militär und entsprechende Ausrüstung auskommen, dass wir, um nicht Krieg führen zu müssen, der effektiven Abschreckung bedürfen – dann müssen wir das mit der bleibenden Forderung nach Rüstungskontrolle, Einhegung der Rüstungspotentiale und -ausgaben und effektiven Maßnahmen der Deeskalation verbinden.
Denn bei allem realistischen Wahrnehmen und Einordnen der gegenwärtigen weltpolitischen Situation hat die christliche Friedensethik das Ziel eines eschatologischen, göttlichen Friedens vor Augen, der nach möglichst großer Vorwegnahme und Umsetzung schon im Hier und Jetzt verlangt. Wie heißt es so treffend in der Einleitung zur Synodenkundgebung der EKD 2019: „Der neue Himmel und die neue Erde, in der sich Gerechtigkeit und Friede küssen, liegen uns noch voraus. Aber wir gestalten schon im Hier und Jetzt mit Hoffnung und Ausdauer, mit Klarheit und Mut eine Friedensordnung.“ Es gilt also in Aufnahme von Robert Musil an den unverzichtbaren Möglichkeitssinn zu erinnern, ohne den es nicht zu neuen, gewaltfreien oder gar versöhnten Wegen kommen kann.
Ganz im Sinne dieses Möglichkeitssinns ist mir ein Jubiläum im vergangenen Jahr besonders vor Augen: 375 Jahre Westfälischer Friede. 1648 wurde dieser Friede ja buchstäblich errungen, nach einem drei Jahrzehnte lang dauernden Krieg. Keiner hatte damals noch an Frieden geglaubt. Fast 30 Jahre Krieg! Brandschatzende Söldner, verwüstete Landstriche, Hunger und Seuchen, hunderttausendfacher Tod. Erst nach einer gefühlten Ewigkeit, nach Millionen ziviler Opfer und getöteter Soldaten, reifte die Einsicht, dass keine der beteiligten Mächte in diesem Krieg je siegen würde.
Und so verhandelte man. Erschöpft von all der Gewalt. Erschöpft von dem, was Menschen einander antun können. In Osnabrück verhandelten die Deutschen mit den Schweden, in Münster die Deutschen mit den Franzosen. Die Krisenherde und Konflikte waren komplex wie ein gordischer Knoten. Ein gutes Bild auch für die Konflikte heute. Verwoben damals mit dem irrsinnigen Kampf um Glaubenswahrheiten, ein dunkles Kapitel auch europäischer Religionsgeschichte.
Mit Geduld und Klugheit, List und Tücke, sicher bisweilen auch mit gedämpftem Zorn wurden die komplizierten Details verhandelt. Angemessene Ausgleiche, Recht auf Land, politische Mitbestimmung, Glaubensfreiheit, der Augsburger Religionsfrieden von 1555 wurde bestätigt, der ein friedliches Nebeneinander der großen Konfessionen ermöglichte – Faden für Faden wurde aufgenommen, sortiert und ent-wickelt. Über vier Jahre dauerten die Verhandlungen, dann konnte am 25. Oktober 1648 der Friedensvertrag unterschrieben werden – in Osnabrück und in Münster. Und die Kompromisse dieses Friedensvertrages wurden zur Grundlage einer Friedensordnung, die für die kommenden über 150 Jahre tragen sollte.
Es ist dieser Blick auf die Möglichkeit von Verhandlungen, die Gewalt und Not beenden, auf den christliche und protestantische Friedensethik ausgerichtet ist, in allen zeitgenössischen Bedrängnissen und gewaltsamen Widerwärtigkeiten. Und es ist dieser Blick, der mich letztlich doch mit mehr Fragen als Antworten zurücklässt. Vielleicht geht es ja im Moment auch darum, sich auf die richtigen Fragen zu verständigen. Auf der Suche nach Antworten sind das heute hier in Loccum meine Fragen:
Die friedensethischen Äußerungen der EKD wurden auch in den letzten Jahren (insbesondere bei der Synodenkundgebung von 2019) konsequent weiterentwickelt. Was an ihnen ist wirklich alt im Sinne von überholt und daher neu- und weiterzuentwickeln?
Welche Positionen sind so grundsätzlich oder der protestantischen Friedensethik inhärent und angemessen, dass sie sozusagen Kennzeichen einer protestantischen Friedensethik sind und bleiben sollten?
Wie beeinflussen in diesem Diskurs die individuellen Biographien die jeweiligen friedensethischen Herangehensweisen?
Der Prozess der Friedenswerkstatt mit diesen Konsultationen ist für mich insbesondere in dem derzeitigen gesellschaftlich erhitzen Klima beispielhaft: Ein friedensethisches Grundlagendokument entsteht nicht von Einzelnen im stillen Kämmerlein, sondern unterschiedliche Positionen innerhalb des Protestantismus werden an einen Tisch und öffentlich ins Gespräch gebracht. Wie erleben Sie diesen Prozess?
Ich danke Ihnen, dass Sie sich überhaupt auf ihn immer wieder neu einlassen, ja miteinander ringen und dass Sie sich in Tagungen wie heute engagieren; ich empfinde das wirklich als Geschenk für unsere Kirche, in der unverdrossen und hoffnungsmutig dieser Puls schlägt und schlagen muss: Dona nobis pacem.