Was leisten die Pflegenden!?
Gute Pflege zeigt, was wichtig ist. Ein Einwurf von Ralph Charbonnier
Italiener applaudieren dankbar auf den Balkons. Spanier musizieren anerkennend auf allem, was sich zum Instrument machen lässt. Die deutsche Politik spendiert eine Sonderzahlung für Pflegekräfte, einmalig wohlgemerkt. Bilder von überfüllten Stationen, fehlender Schutzkleidung und unermüdlich tätigen Pflegekräften nähren die Bewunderung: Pflegende sind nah an den Leidenden in Zeiten von Social Distancing, mitten im Hot Spot, wo sich andere im Home Office schützen können. Die Corona-Krise zeigt, was gute Pflege ausmacht. Und gute Pflege zeigt wie in einem Brennglas, was auch jenseits der Krankenzimmer wichtig ist. Wir sollten genau hinsehen, damit nicht verloren geht, was in „normalen Zeiten“ leicht übersehen wird. Es wäre Hohn für die jetzt Bejubelten, wenn es nach der Krise weiterginge wie bisher.
Pflegende würdigen – ohne zu werten
Pflegende sehen Menschen, nicht ihre Hautfarbe, nicht ihre Stellung, nicht ihr Einkommen und auch nicht ihre Herkunft. Nicht auf Eigenschaften und Leistungsmerkmale zu achten, heißt würdigen. Pflegende würdigen – ohne zu werten. Werten können auch Maschinen, würdigen ist Menschensache. Viele sind dankbar für Würdigung in diesen Zeiten. Diese Dankbarkeit wäre schal, wenn ihr nicht die Einsicht und Entscheidung folgte: Würdigung hat ihren Wert, der sich auf dem Gehaltszettel widerzuspiegeln hat.
Pflegende sehen Menschen in ihrer Angewiesenheit. Sie erfahren es jeden Tag: Angewiesenheit gehört zum Leben, ist kein Makel. Deswegen sollen Unterstützungsbedürftige auch nicht das Gefühl haben, in ihrer Schuld zu stehen. Unterstützung zu brauchen, ist menschlich. Kinder nehmen Hilfe selbstverständlich an. Sie kennen noch nicht die Leistungsgesellschaft mit ihren Regeln. Alte Menschen, noch mehr Menschen mittleren Alters, zeigen oft Scheu, Angewiesenheit „zuzugeben“. Unabhängigkeit gilt als gesellschaftliches Leitbild. Gute Pflege weiß: Unabhängigkeit hat seine Zeit, Angewiesenheit hat seine Zeit. Sie lässt zu, was ist. Sie entlastet vom Druck zu denken, es ginge auch anders.
Ohnmacht aushalten und Trost spenden
Pflegende halten Ohnmacht aus. Wie oft haben sie den Arzt oder die Ärztin im Krankenzimmer sagen hören: „Ihre Erkrankung ist unheilbar!“ Wenn heilende Medizin an ihre Grenzen kommt, fängt die palliative Arbeit an: Schmerzen lindern, Atmen erleichtern, Angst nehmen, beste Pflege. Und doch schwingt bei jedem Handgriff mit, dass die Macht, etwas zu tun, endlich ist. Wenn es gut läuft, weiß es der Patient und sind auch die Angehörigen im Bild. Pflegende zeigen Offenheit für Fragen, die kommen: „Wie viel Zeit bleibt mir noch?“, „Wie wird es sein, wenn es so weit ist?“, „Gibt es Grund, zu hoffen?“ Der Tod ist mit im Raum, wenn noch Leben ist. Pflegende wissen das. Sie verleugnen nicht, vertrösten nicht, sondern benennen es und spenden Trost.
Pflegende sehen Leib und Seele. Als Mitglieder des Medizin- und Pflegeteams sind für sie Blutwerte, Zuckerspiegel, Schmerzindikatoren und vieles andere bekannt, was man an Patienten und Bewohnerinnen messen kann – die eine Seite der Wirklichkeit. Zugleich spricht für sie jeder Patient, jede Bewohnerin mit Worten, Mimik, Gestik, Augenblick, Körperspannung. Sie bringen zusammen, was fachliche Ausdifferenzierung aus guten Gründen getrennt hat: das messbar Wahrnehmbare und das allein in der Beziehung Erfahrbare. Damit geben sie ihrem Gegenüber Resonanz – mit Leib und Seele.
Gute Pflege zeigt, was auch jenseits des Krankenzimmers wichtig ist
Pflege ist ein Beruf, kein Job. Es war nie anders: In mittelalterlichen Hospizen pflegten Nonnen aus gläubiger Nächstenliebe die Kranken und Sterbenden. Florence Nightingale, die Begründerin der professionellen Pflege, verstand sich als Fachfrau für Pflege und Hygienestatistik und zugleich als „von Gott in den Dienst gerufen“. Ob in gegenwärtigen Zeiten religiöser Glaube oder andere Überzeugungen Pflegende motivieren: Sie sehen Pflege als Beruf, der sinnvoll ist, der Sinn gibt, der zufrieden macht – so lange er nicht zur Satt-und-Sauber-Pflege verkommt, weil Renditeerwartungen und Effizienzmaximierung Würdigung und Beziehungsarbeit unmöglich machen.
Gute Pflege ist ein Stachel im Fleisch eines Gesundheitssystems, das einseitig auf Zähl- und Messbares setzt und nur an diesen Zahlen festmacht, was als effektiv und effizient gilt. Aber noch mehr: Gute Pflege zeigt wie in einem Brennglas, was auch jenseits der Krankenzimmer wichtig ist: Anerkennung von Menschenwürde ohne Leistungsnachweis. Angewiesenheit als Bedingung des Lebens. Macht auch als Macht, Ohnmacht auszuhalten. Einheit von Leib und Seele. Berufung als weiterhin zeitgemäßes Leitbild.
In der Krise wird gute Pflege und das, was sie ausmacht, gesehen. Dankbarkeit kommt auf. Eine Wert-Schätzung wird eingeklagt. Das ist gut so. Eine verlässliche Umsetzung ist Verpflichtung für die Politik. Aber ebenso gilt es das, was gute Pflege zeigt, als Impulse für notwendige gesellschaftliche Veränderungsprozesse aufzunehmen – auch jenseits von Krankenzimmern und Gesundheitswesen. Diese Impulse sind Innovationspotentiale für eine Gesellschaft in der Corona-Krise und nach der Krise, weil gute Pflege zeigt, was wichtig ist.
Autor: OKR Dr. Ralph Charbonnier