Reformation und Toleranz - Festvortrag anlässlich des 90. Geburtstages von Professor Hans Küng
Margot Käßmann am 20. April 2018 in Tübingen
Toleranz und Reformation – ist das nicht eine völlig unpassende Kombination? Die ganze Geschichte der Reformation steht doch geradezu für Intoleranz. Das beginnt bereits mit dem Wettern Luthers gegen die „Papisten“, gegen den „Antichristen“, den er in Rom sieht und der Erklärung durch Rom, er sei ein Ketzer, wie es die am 3. Januar 1521 erlassene Bulle „Decet Romanum Pontificem“ tat. Das hat Auswirkungen bis in unsere Tage, wenn sich etwa die Frage stellte, ob die 500jährige Wiederkehr des „Thesenanschlages“ ökumenisch gefeiert werden könne. Es wird fortgeführt mit der Spaltung der reformatorischen Bewegung in ihre reformierte und ihre lutherische Variante, mit der Abkehr Müntzers von Luther und der gegenseitigen Verachtung, die beide Männer entwickelten und auch mit der Trennung der so genannten „Schwärmer“ bzw. Täufer von der Reformation des Mainstream. Mit den reformatorischen Bewegungen und ihrer Abwehr begann eine grausame Geschichte der Intoleranz, in der Kriege ausgefochten wurden im Namen der konfessionellen Wahrheit vom Dreißigjährigen Krieg über die Bartholomäusnacht mit der Ermordung Tausender von Hugenotten bis hin zum blutigen Nordirlandkonflikt des 20. Jahrhunderts. Aber es wurde auch eine Geschichte der Intoleranz fortgeführt, in der Christen sich abgrenzten gegenüber Menschen jüdischen oder muslimischen Glaubens. Gewalt, Vertreibung, Flucht und Auswanderung sind stets die Folge religiöser Intoleranz, auch wenn ihre Motive gewiss immer wieder verquickt waren mit machtpolitischen Interessen. Das Zusammenleben der Konfessionen, Kirchen und Religionen in Toleranz und Respekt ist ein schweres Erbe der Reformation. Das gilt im Übrigen auch für das Zusammenleben von Menschen mit und ohne Religion.
Als ich mit Dr. Schlensog überlegt habe, was Thema eines Festvortrages der Reformationsbotschafterin für Professor Hans Küng aus Anlass seines 90. Geburtsages sein könnte, schien uns das Verhältnis von Reformation und Toleranz hilfreich. Denn, sehr geehrter Herr Küng, wenige römisch-katholische Theologen haben sich so wie Sie für eine konsensfähige Interpretation der Rechtfertigungslehre und Annäherung der christlichen Kirchen, aber durchaus auch der Religionen engagiert. Schon in Ihrer Dissertation, die 1957 – ein Jahr vor meiner Geburt – veröffentlicht wurde, haben Sie sich mit der Rechtfertigungslehre Karl Barths befasst und sind zu dem Schluss gekommen, dass eine recht verstanden solche Lehre, nicht trennend wirken müsse. Es sollte bis 1999 dauern, bis die Kirchen das auch so sahen. Aber dazu später mehr.
Lieber Herr Küng, die Einladung zu dieser Festrede habe ich sehr gern angenommen. Als junge Studentin hier in Tübingen habe ich Ihnen 1977 mit Bewunderung und Faszination gelauscht. als „kleine Studentin“ konnte ich aus der Ferne verfolgen, was Sie als die vier schlimmsten Monate Ihres Lebens bezeichnet haben (vom 18. Dezember 1979 bis zum 10. April 1980), die Sie, wie Sie sagen, auch Ihrem erbittertsten Gegner nicht wünschen würden. Bei der Pressekonferenz am 10. April gemeinsam mit Universitätspräsident Adolf Theis und Walter Jens führten Sie aus: „Ungeachtet der inneruniversitären Lösung also bleiben die grundsätzlichen Fragen bestehen, und die Auseinandersetzungen werden nicht aufhören: Es bleibt die von Rom und den Bischöfen nach wie vor unbeantwortete Frage nach ihrer Unfehlbarkeit. Es bleibt die Frage nach einer heute glaubwürdigen christlichen Verkündigung in Kirche und Schule. Es bleibt die Frage nach der Verständigung zwischen den Konfessionen und nach der gegenseitigen Anerkennung der Ämter und Abendmahlsfeiern. Es bleibt die Frage nach den drängenden Reformaufgaben: von der Geburtenregelung über Mischehen und Ehescheidung bis hin zur Frauenordination, Zwangszölibat und dem daraus folgenden katastrophalen Priestermangel.“ Das alles hat mir vollkommen eingeleuchtet – und tut es heute noch!
Und als Sie 2002 den Friedenspreis der Stadt Göttingen erhielten, habe ich als Bischöfin der größten lutherischen Landeskirche die Laudatio gehalten und mich dafür intensiv mit Ihrem Projekt Weltethos auseinander gesetzt, das mir bis heute wegweisend erscheint - auch dazu später noch mehr.
Fünf Jahre später haben Sie mich in die Sendung „Sternstunde Religion“ zum Schweizer Fernsehen eingeladen. Für mich war die Stunde Diskussion, die wir verbracht haben, auf jeden Fall eine Sternstunde.
2015 haben Sie mir als Reformationsbotschafterin ein Exemplar des ersten Bandes Ihrer sämtlichen Werke – es werden am Ende 24 Bände sein! - geschickt: Eben jenes Buch mit dem Titel „Rechtfertigung“. Sie schrieben dazu: „Es ist für mich ein inneres Anliegen, dass meine lebenslangen Bemühungen, diese Grundfrage der Reformation ökumenisch aufzuarbeiten, auch in der evangelischen Kirche zur Kenntnis genommen werden.“ Und schließlich haben wir uns wieder getroffen, als ich Ehrensenatorin der Tübinger Universität wurde. Sie haben mich am nächsten Morgen zum Frühstück eingeladen und wir haben bei Kaffee und Marmeladenbrötchen fröhlich übers Sterben disputiert.
Insofern: Ich werde dieses Jahr 60, Sie sind am 19. März 90 geworden. Sie sind mir wie immer weit Voraus, aber es ist mir eine Ehre, Ihnen zu Ehren im Folgenden als Reformationsbotschafterin, die ich bis Juni noch bin, über das Verhältnis von Reformation und Toleranz zu sinnieren.
1.Intoleranz der Reformation
Lassen Sie mich im Folgenden drei Themenkreise kurz andeuten, in denen die Reformation definitiv intolerant war.
1.1.Glaubensfragen
Mit Blick auf Glaubensfragen war die Reformation ebenso intolerant wie die anderen Beteiligten der religiösen Auseinandersetzungen des 16. Jahrhunderts. Als Martin Luther 1517 seine Thesen veröffentlichte, ging es ihm zunächst primär um eine Auseinandersetzung mit der Praxis von Ablasshandel. Im Laufe der so ausgelösten Diskussion wurde ihm deutlich: Ablass insgesamt, ob gegen Geld oder nicht, ist mit den Überzeugungen, die Luther aus der Bibel abgeleitet hat, nicht vereinbar. Niemand kann sich vor Gott Freiheit von Sünde und Verfehlung erkaufen. Und die Kirche kann nicht darüber entscheiden, ob ich von Gott angenommen bin. Nein, „der Gerechte wird aus Glauben leben“, die Gnade Gottes allein, sola gratia, ist entscheidend und dem korrespondierend allein der Glaube, sola fide. Kriterium der Beurteilung ist für Luther nicht Dogma oder spirituelle Erfahrung, sondern allein die Bibel, sola scriptura. Die Mitte der Schrift aber ist Christus und an ihm entscheidet sich daher alles, solus christus“.
Mit diesen Grundsätzen (als „die vier Soli“ erst im Laufe der Jahrhunderte so festgehalten) findet Luther die Grundlage für sein Urteilen und Handeln. Er kritisiert seine eigene Kirche scharf, bald nicht mehr nur mit Blick auf den Ablass, sondern auch mit Blick auf das Papsttum, auf das theologische Verständnis der Messe und die Art ihrer Feier und auch hinsichtlich der Missstände des Priestertums. In seiner Schrift „Von der babylonischen Gefangenschaft der Kirche“ (1) von 1520 etwa spricht er von „gottlose(m) Mißbrauch, durch den es gekommen ist, daß heute in der Kirche fast nichts verbreiteter ist, fester geglaubt wird, als daß die Messe ein gutes Werk und ein Opfer ist.“(2) Unter vielen anderen Punkten bezeichnet er auch das Sakrament der Priester-weihe als „Erfindung der Kirche des Papstes“ (3) und erklärt, dass auch die Kirche in Rom kein Herrschaftsrecht in Glaubensfragen habe. Das Wort der Bibel als Maßstab ist für ihn entscheidend. Und das macht es für ihn unmöglich, in irgendeinem Sinne tolerant zu sein gegenüber Entscheidungen in Rom, ja sie gar zu akzeptieren gegen seine eigene Lektüre der Schrift.
Die Leitungsinstanzen seiner Kirche wiederum konnte nicht tolerieren, dass einer ihrer Priester, ja ein Professor der Theologie ihr Verständnis von Kirche, Amt und Abendmahl derartig radikal von der Schrift her in Frage stellt. Hätte sie das akzeptiert, wäre eine radikale Veränderung unausweichlich gewesen. Wäre die Einheit der abendländischen Kirche bestehen geblieben, so nur um den Preis einer vollkomme-nen Umstrukturierung und deutlicher theologischer Neuansätze.
Nachdem sich in der Schweiz eine eigenständige reformatorische Bewegung - insbe-sondere geprägt durch Ulrich Zwingli – entwickelt hatte, bemühten sich Reformierte und Lutheraner, ihre Differenzen beizulegen. Beim Marburger Religionsgespräch 1529 gelang das allein in der Abendmahlsfrage nicht und es kam zu einer langfristi-gen Spaltung der Reformation in ihren reformierten und ihren lutherischen Zweig.
Auch im Taufverständnis gab es unterschiedliche Akzente:
Für Martin Luther wurde vor allem durch seine Lektüre des Kirchenvaters Augustin immer klarer: Die Taufe ist das zentrale Ereignis und Sakrament. Hier sagt Gott ei-nem Menschen sichtbar Gnade, Liebe, Zuwendung, Lebenssinn zu und schließt so einen Bund mit ihm. Alles Scheitern, alle Irrwege des Lebens können diese Lebens-zusage Gottes nicht rückgängig machen. Wir sind erlöst, wir sind längst Kinder Got-tes.
„Baptizatus sum“ – ich bin getauft. In den schwersten Stunden seines Lebens hat Martin Luther sich das gesagt und daran Halt gefunden. Dabei ist die Taufe für ihn kein einmaliges Geschehen, das mit dem Akt selbst abgeschlossen ist. Geistlich soll die Taufe wiederholt werden. So schreibt er im Großen Katechismus 1529: „ Also ist die Buße nichts anders als eine Wiederkehr und Hinzutreten zur Taufe, daß man das wiederholt und treibt, was man zuvor angefangen und wovon man doch abgelassen hat.“ (4). Die Buße ist für ihn daher kein Sakrament, sondern schlicht die Rückkehr zur Taufe.
Jeder, der aus der Taufe gekrochen ist, ist Priester, Bischof, Papst, hat Luther erklärt. Von daher hat Luther auch den Respekt gegenüber Frauen entwickelt. Sie sind ge-tauft und damit stehen sie auf gleicher Stufe wie Männer. Das war in seiner Zeit eine ungeheuerliche Position! Allerdings sollte es noch rund 450 Jahre dauernd, bis sich diese theologische Erkenntnis in der Frauenordination umsetzte – Kirchengeschichte braucht Zeit...
Für Zwingli und Calvin ist die Taufe ebenfalls das zweite Sakrament neben dem Abendmahl. Sie verstehen sie als Zeichen, ja Symbol des Bundes Gottes mit dem Menschen, als „Wiedergeburt aus Wasser und Geist“, so der Heidelberger Katechismus. Als heilsnotwendig sehen die Vertreter der oberdeutschen Reformation die Taufe nicht an.
Die Täuferbewegung, die sich in der Reformationszeit entwickelte, versteht die Taufe als Einwilligung des Menschen in den Bundesschluss Gottes. Daher kann sie nur nach einer bewussten Entscheidung für den Glauben als Bekenntnistaufe und damit Erwachsenentaufe vollzogen werden. Für die Reformatoren dagegen ist die Säuglingstaufe ein Zeichen dafür, dass die Gnade Gottes dem Menschen zugesprochen wird, ohne dass er selbst irgendetwas dafür leisten könnte.
Die theologischen Auseinandersetzungen waren zum Teil auch von nicht-theologischen Faktoren bestimmt. Etwa von der Zuwendung der Fürsten bzw. vom Schutz durch sie oder aufgrund der Angst, vor politischen Aktionen. Aber auch rein menschliche Faktoren spielten eine Rolle. Erstaunlich ist, wie ehemals Verbündete einander verbal attackieren. Wenn Luther etwa Müntzer als „Satan von Allstedt“ bezeichnet und Müntzer wiederum Luther als „Sanftleben zu Wittenberg“ gehört das noch zu den freundlicheren Formulierungen. Im Laufe der Auseinandersetzung wird die Möglichkeit einer Verständigung immer geringer. Hans-Jürgen Goertz schreibt: „Der Schlagabtausch zwischen den Kontrahenten wird auf unterschiedlichen Ebenen geführt: der endzeitlich-universalen bei Luther und der mystisch-individuellen bei Müntzer. Das gibt der Gegensätzlichkeit ihre unerbittliche Schärfe. Im Grunde stehen die Gegner einander verständnislos gegenüber, sie reden aneinander vorbei.“(5) Die Hinrichtung Müntzers nach der Schlacht von Mühlhausen am 27. Mai 1525 ist trauriger Abschluss eines nicht gelungenen Versuchs einer Verständigung. Der so ge-nannte „linke Flügel“ der Reformation aber blieb im Gedächtnis der Menschen. Die DDR stilisierte Müntzer zum Helden, im Westen wurde er mit Skepsis gesehen. So wurde auch er – wie Luther – je für die eigenen Ziele interpretiert. Wer heute in das Museum des Deutschen Bauernkrieges in Mühlhausen geht, erhält einen Eindruck davon.
Ein anderes Beispiel: Der Theologe Michael Servet wurde 27. Oktober 1553 grausam hingerichtet. Es war der reformierte Theologe Calvin, der diese Hinrichtung betrieb, weil Servet gegen die Kindertaufe plädierte und die Lehre von der Trinität Gottes in Frage stellte.(6) Alles Bitten Servets um Verzeihung, ja Gnade wird ignoriert. Uwe Birnstein schreibt: „Calvin, der sonst als Seelsorger einen guten Ruf hat, überlässt den verzweifelten Servet trost- und vergebungslos seinem Schicksal.“ (7) So gibt es in unserer gemeinsamen reformatorischen Bewegung manches, für das wir um Verge-bung zu bitten haben, manches, was zu versöhnen ist. Aber insgesamt auch einen sichtbaren Weg des Lernens, nämlich die Motive des jeweils anderen zu begreifen, wenn nicht gar zu verstehen und als durchaus theologisch, menschlich und politisch legitim anzusehen.
1.2.Gewalt bzw. Krieg und Frieden
Glaubensfragen auch mit Mitteln der Gewalt auszufechten, schien den Reformatoren wie ihren Gegnern nicht nur im 16. Jahrhundert völlig legitim. Zeigt Luther beispielsweise zunächst noch Verständnis für die Lage der Bauern, so schreibt er 1525 in seiner Schrift „Wider die Räuberischen und Mörderischen Rotten der Bauern“ (8): „So sol die Obrigkeit hier getrost fortfahren und mit gutem Gewissen dreinschlagen, solange sie einen Arm regen kann. Denn hier ist der Vorteil, daß die Bauern böse Ge-wissen und unrechte Ursachen haben, und dass der Bauer, welcher darüber er-schlagen wird, mit Leib und Seele verloren und ewig des Teufels ist. Aber die Obrigkeit hat ein gutes Gewissen und rechte Ursachen und kann zu Gott mit aller Sicherheit des Herzens so sagen: Sie, mein Gott, du hast mich zum Fürsten oder Herrn gesetzt, daran ich nicht zweifeln kann, und hast mir das Schwert über die Übeltäter befohlen, Röm. 13,4. Es ist dein Wort und kann nicht lügen….“. (9) Eine politische Aus-einandersetzung auf demokratische Weise zu führen, schien in jener Zeit ganz offensichtlich unvorstellbar.
So können auch, wie später im Augsburger Bekenntnis 1530 festgehalten wird, „Christen ohne Sünde in Obrigkeit, Fürsten – und Richteramt [tätig] sein können, nach kaiserlichen und anderen geltenden Rechten Urteile und Recht sprechen, Übeltätermit dem Schwert bestrafen, rechtmäßig Krieg führen (iure bellare)….“ (10).
Der Historiker Tilman Bendlikowski hat 2016 in seinem Buch „Der deutsche Glaubenskrieg“ eindrücklich geschildert, dass die Zeichen in deutschen Landen schlicht auf Krieg standen, der „Prager Fenstersturz“ von 1618 nur ein Anlass war. Er schreibt, die meisten Fürsten glaubten damals, „dass sich die Probleme zwischen den Konfessionen und zwischen der Reichsspitze mit dem katholischen Kaiser und den neugläubigen Landesherren in absehbarer Zeit nicht friedlich lösen lassen würden.“ (11) Was dann aber erbarmungslos dreißig Jahre die Menschen bedrängte, war ein Krieg, in dem eine bunt durchmischte Soldateska ganze Landstriche verwüstete und eine wehrlose Bevölkerung zur Verzweiflung trieb. Noch einmal Bendlikowski: „Es war ein buntes, aber höchst gefährliches und gewalttätiges Volk, das damals im Reich unterwegs war: Söldner aus aller Herren Länder, schottische und kroatische Regimenter, polnische Reiter, Albaner, Finnen, Livländer … Sie kämpften für den, der sie bezahlte – mal für die katholische Liga, mal für die protestantische Union.“ (12)
1.3. Andere Religionen
Auch für das Zusammenleben der Religionen, eine der großen Herausforderungen unserer Zeit, hatte die Reformation Folgen. Luthers Schriften gegen die Juden – wie Thomas Kaufmann in seinem Buch zu „Luthers Juden“ deutlich (13) macht nicht nur eine Alterserscheinung – haben dem Luthertum von Anfang an einen Antijudaismus mit auf den Weg gegeben, der seinen entsetzlichen Höhepunkt im Versagen während der Zeit des Nationalsozialismus fand. Kaufmann schreibt: „Je ‚evidenter‘ es für den Exegeten Luther war, dass der in Jesus von Nazareth gekommene Christus im Alten Testament mannigfach und unübersehbar verheißen war, desto offenkundiger wurde die ‚Bosheit‘ der Juden, die dies verleugneten. In der Entbergung dieser ‚Bosheit‘ der Judenheit, die nur zu ihrer Austreibung führen konnte, sah der alternde Luther einen der wichtigsten Dienste, den er der Christenheit leisten konnte.“ (14)
Mit dem Islam befasst sich Luther weniger als Religion denn als Phänomen der Endzeit. In seiner Schrift „Vom Kriege wider die Türken“ sieht er 1529 „die Türkengefahr“ als Strafe Gottes. Auch mit solchen Äußerungen hat er der Kirche, die sich nach ihm benannte, keinen Weg der Toleranz gewiesen.
Ein Ringen um den Weg in die Zukunft auf der Grundlage von Toleranz schien in der Zeit der Reformation offenbar unvorstellbar. Der Historiker Schilling macht das an der Person Luthers deutlich, wenn er in seiner jüngst erschienen Lutherbiografie schreibt: „Dass er in der Wahrheitsfrage keinen Kompromiss eingehen konnte, sicherte seine Lehre und damit die geist kulturelle Differenzierung der europäischen Christenheit. Das bedeutete aber zugleich, dass für ihn Vermittlungsgespräche keinen Sinn ergaben, solange seine Kontrahenten ihrerseits auf ihrer Wahrheit beharrten. So kam mit Luthers Größe und Entschiedenheit auch der Fundamentalkonflikt um die religiöse Wahrheit in die Welt, der die Christenheit und Europa zeitweilig an den Rand des Chaos brachte.“ (15) Diese vermeintlich notwendige Intoleranz um der Freiheit des Glaubens und Gewissens, ja sogar um der Ordnung willen, begleitete Reformation und Gegenreformation. Es sollte Jahrhunderte dauern, ja auch die Impulse der Aufklärung brauchen, bis deutlich wurde: ohne Toleranz kein Zusammen-leben in Frieden.
2. Lerngeschichte der Toleranz
Auf die Erfahrung der fatalen Auswirkungen religiöser Intoleranz folgte eine inzwischen fast 500jährige Lerngeschichte, die ebenfalls in drei Kategorien angedeutet werden soll.
2.1 Theologische Grundlagen
Schilling hält fest, dass der Reformator „weder in den frühen Sturmjahren der Reformation noch je später (wollte), dass mit Gewalt und Töten für das Evangelium gestritten wird.‘“ (16) Und er macht deutlich, dass Luther zwar „Toleranz im modernen Sinne fremd“ war, er aber immer dafür eingetreten sei, „dass der Glaube eine innere, geistige Sache und dem Zugriff irdischer Mächte entzogen sei.“ (17)
Insofern gibt es gute theologisch-reformatorische Grundlagen für religiöse Toleranz. Es ist eben jene Glaubens- und Gewissensfreiheit, die Luther dazu bringt, klar zu seinen Überzeugungen zu stehen, die eine Grundlage bietet, jene Freiheit den anderen ebenso zuzugestehen. Ist jeder Mensch Geschöpf Gottes und Gottes Ebenbild, so ist jeder Mensch zu respektieren in seinen Überzeugungen, solange sie nicht die Grenze erreichen, die anderen jenen Respekt abspricht. Soll nicht „mit Gewalt und Töten“ gestritten werden, müssen gewaltfreie Formen des Dialogs gesucht werden. Für den Reformator Philip Melanchthon war Friedenserziehung Teil des reformatorischen Bildungsverständnisses.
Es ist offensichtlich, dass die Kirchen der Reformation, aber auch die römisch-katholische Kirche heute in einem respektvollen Dialog zu den theologischen Differenzen stehen. Hier gab es definitiv eine Lerngeschichte. Seit dem Beginn der ökumenischen Bewegung Anfang des 20. Jahrhunderts hat sich eine Diskussionskultur entwickelt, die sich in unzähligen Kommissionen zu Themen wie Taufe, Kirche, Eucharistie und Amt bilden, aber auch im Alltag der Gemeinden vor Ort.
2.2 Errungene Toleranz
Schon im Zeitalter der Reformation setzt das Ringen um ein Miteinanderleben in Frieden ein. Beim Augsburger Reichstag 1555 wird der so genannte Augsburger Religionsfriede ausgehandelt. Dort heißt es: wir ordnen an, „wollen und gebieten, daß künftig niemand … um keinerlei Ursachen willen … den anderen befehden, bekriegen, berauben… soll. Und damit solcher Landfriede auch in bezug auf die Religionsspaltung … desto beständiger … aufgerichtet und gehalten werde, sollen die kaiserliche Majestät, … auch Kurfürsten, Fürsten und Stände des Heiligen Reiches keinen Stand des Reiches Der Augsburgischen Konfession wegen … gewaltsam überziehen … oder sonst gegen sein … Gewissen, Wissen und Wollen von dieser Augsburgischen Konfession, Religion, Glaube, Kirchengebräuche, Ordnungen und Zeremonien … in andere Wege drängen …, sondern bei solcher Religion … friedlich bleiben lassen.“ (18)
Indem die Fürsten in ihren Herrschaftsgebieten den Glauben vorgeben,soll für eine Abgrenzung der lutherischen und altgläubigen Kontrahenten gesorgt werden. Allerdings lässt die Regelung die so genannten Täufer und auch die Anhänger Zwinglis und Calvins außen vor. Es geht zunächst um eine Gleichstellung des altgläubigen Bekenntnisses mit dem Augsburger Bekenntnis von 1530. 1555 stehtaber immerhin bereits die Erkenntnis im Raum, dass sich Glaubensfragen nicht mit Gewalt lösen lassen. Im Westfälischen Frieden 1648bestätigte letzten Endes nach einer entsetzlichen 30jährigen Erfahrung von Krieg und Zerstörung was in Augsburg gesagt wurde.
In anderen Regionen des Reiches wurde ebenfalls versucht, die religiösen Gegens-ätze zu befrieden. Am 13. April 1598 wurde das Edikt von Nantes erlassen, das die Duldung der Hugenotten festschrieb – die allerdings 1685 widerrufen wurde. Und so ging das Ringen mit immer neuen Bemühungen und Verabredungen weiter etwa mit dem Toleranzedikt in Brandenburg 1664, das den evangelischen Konfessionen Toleranz auferlegte bis hin zum Edikt von Potsdam 1685, das im lutherischen Preußen die Religionsfreiheit reformierter Hugenotten festlegte.
Und auch in Übersee wurde Toleranz zum Thema, etwa in der Maryland-Toleranz- Akte, mit der 1649 andere Konfessionen als die anglikanische dort respektiert wur-den. Wer die nordamerikanische Geschichte anschaut, sieht im Übrigen, dass die Frage der religiösen Toleranz sie durchzieht. Schon Anfang des 17. Jahrhunderts propagierte Roger Williams (circa 1603 – 1683), ein evangelischer Theologe, propagierte aufgrund seiner Erfahrung der Religionskriege in Europa Religionsfreiheit und eine Trennung von Staat und Kirche. Er gründete die Kolonie von Rhode Island als Zuflucht für religiöse Minderheiten – den Puritanern war die Insel ein Dorn im Auge. Williams aber studierte indianische Sprachen und trat für faire Beziehungen zu den Ureinwohnern ein.
Alles in allem zeigen diese Beispiele: Es wurde gerungen um Strukturen der Tole-ranz, um ein gewaltfreies Nebeneinander, wenn nicht Miteinander der verschiedenen kirchlichen Ausprägungen des christlichen Glaubens. Das ist den jeweils Beteiligten hoch anzurechnen. Es geht nicht um billige Kompromisse, sondern um hart errungenes Leben mit der Differenz.
2.3 Erlebte Toleranz
Gewiss, die Reformationszeit war von Spaltung und Abgrenzung geprägt. Aber es gibt eben auch eine Lerngeschichte, die zu erlebter Toleranz führte. Zwei Beispiele: Was solches mühsam erwirkte Nebeneinander langfristig auch an konstruktivem Mit-einander erbringen kann, zeigt die Leuenberger Konkordie von 1973, deren 40jähriges Jubiläum wir in diesem Jahr feiern können. Sie ist das Ergebnis eines jahrelangen Diskussionsprozesses zwischen den reformierten, unierten und lutherischen Kirchen Europas. Es werden Feststellungen hinsichtlich der Lehrverurteilungen der Reformationszeit mit Blick auf theologische Differenzen in Grundsatzfragen formuliert. In den Folgerungen heißt es: „Wo diese Feststellungen anerkannt werden, betreffen die Verwerfungen der reformatorischen Bekenntnisse zum Abendmahl, zur Christologie und zur Prädestination den Stand der Lehre nicht. Damit werden die von den Vätern vollzogenen Verwerfungen nicht als unsachgemäß bezeichnet, sie sind jedoch kein Hindernis mehr für die Kirchengemeinschaft.“ (19) So entsteht eine Toleranz, die aktiv ist, indem sie ermöglicht, dass trotz aller Verschiedenheiten eine ge-genseitige Anerkennung als Kirche, eine gegenseitige Anerkennung der Ämter erfolgt und daher miteinander Abendmahl gefeiert werden kann.
1999 wurde in Augsburg die Gemeinsame Erklärung der Römisch-katholischen Kirche und des Lutherischen Weltbundes zur Rechtfertigung unterzeichnet – Hans Küngs Buch „Rechtfertigung“ war gewiss eine entscheidende Vorarbeit dafür, die auf der berühmten Maltakonferenz 1972 schon Wirkung zeigte. 1999 wurde festgehalten: So wie die beiden Kirchen ihre Lehre heute formulieren, werden sie von den Verwerfungen des 16. Jahrhunderts nicht getroffen. Die Unterzeichnung der Gemeinsamen Offiziellen Feststellung zur Gemeinsamen Erklärung in Augsburg am 31. Oktober war ein feierliches Ereignis. Es bedeutet nicht – und das war allen Beteiligten klar -, dass nunmehr die Lehrbegriffe der unterschiedlichen Traditionen auf einem gleichen Verständnis beruhen. Aber die Unterzeichnung wurde begrüßt als ein Schritt auf einem notwendigen Weg der Annäherung. Dass es gelungen ist, zumindest gemeinsame Formulierungen zu finden zu einer theologischen Frage, an der einst die Einheit zerbrochen ist, ist ein enormer Schritt auf dem Weg zu gelebter Gemeinsamkeit bei bleibender Verschiedenheit.
Aber gerade auch mit Blick auf den so genannten „linken Flügel der Reformation“ gibt es ein Erleben der Veränderung. Bei seiner Vollversammlung in Stuttgart hat der Lutherische Weltbund am 22. Juli 2010 ein Schuldbekenntnis gegenüber den Men-noniten als geistlichen Erben der zur Reformationszeit brutal verfolgten Täuferbewegung (s.o.) abgelegt. In der Erklärung heißt es: „Im Vertrauen auf Gott, der in Jesus Christus die Welt mit sich versöhnte, bitten wir deshalb Gott und unsere mennonitischen Schwestern und Brüder um Vergebung für das Leiden, das unsere Vorfahren im 16. Jahrhundert den Täufern zugefügt haben, für das Vergessen oder Ignorieren dieser Verfolgung in den folgenden Jahrhunderten und für alle unzutreffenden, irreführenden und verletzenden Darstellungen der Täufer und Mennoniten, die lutherische AutorInnen bis heute in wissenschaftlicher oder nichtwissenschaftlicher Form verbreitet haben.“ (20)
Das war ein gewichtiger Schritt! Die Täuferbewegung war Teil der Reformation, wollten doch nicht nur Menno Simons als Namensgeber, sondern schon vor ihm Konrad Grebel und Felix Manz ein Leben in der Nachfolge Jesu, das sich ganz auf die Bibel als Quelle des Glaubens bezog. Die Kritik am Zustand der Kirche und die Solidarität mit den aufständischen Bauern zeigen sie zum Teil der reformatorischen Bewegung. Allerdings argumentierten sie – mit Blick auf das biblische Zeugnis – für eine Erwachsenentaufe, eine Taufe ausschließlich derer, die sich bewusst für den Glauben entscheiden (können) Luther und Zwingli aber hielten stets an der Säuglingstaufe fest.
Südwestdeutsche und schweizerische Täufer beschlossen 1527 gemeinsam die Schleitheimer Artikel, die entscheidende Prinzipien wie die Gewaltfreiheit oder das Modell einer Freikirche außerhalb staatlicher Strukturen auf das Schild hob. Darum beneide ich die Täuferbewegung und ihre Erbinnen und Erben: Das war klare und konsequente Schritte. Die „mainline churches“ der Reformation dagegen hatten lan-ge zu kämpfen mit der Frage, was es bedeutet, der Obrigkeit untertan zu sein. Luthers Zwei-Reiche- bzw. Zwei-Regimenter-Lehre bleibt eine Herausforderung, auch wenn wir heute in der Demokratie „angekommen“ sind. Und mit Blick auf den Kriegsdienst bleibt seine Schrift von 1526 „mit dem Titel: „Ob Kriegsleute auch in seligem Stand sein können“ Gegenstand der Auseinandersetzung. Oftmals war es für Kirche und Welt „das deutlichere Zeichen“, den Kriegsdienst grundsätzlich zu verweigern.
Und doch: In den 25 Jahren, in denen ich in Gremien der ökumenischen Bewegung aktiv war, habe ich erlebt, dass ich immer bewusster lutherisch wurde, je näher ich andere Konfessionen kennen lernte. Die Erfahrung des Anderen hat das Bewusstsein für das Eigene gestärkt. Das bedeutet nicht, dass ich einem russisch-orthodoxen Gläubigen oder einer römischen Katholikin abspreche, Christ und Christin zu sein. Die ökumenische Bewegung hat immer wieder eine Art „Theologie der des Respektes und der Freundschaft“ sichtbar werden lassen, die wächst durch die persönliche Begegnung miteinander, die das Verschiedene positiv sehen kann. Gelebte Toleranz kann so ohne Ignorieren aller Differenzen erlebt werden, wo Begegnung gewaltfrei möglich wird.
„Versöhnte Verschiedenheit“, ein Begriff, der für die lutherischen Kirchen im ökumenischen Gespräch das Ziel von Einheit umschreibt, könnte passend sein auch für die die Suche nach einer theologischen Konzeption von religiöser Toleranz: Das Eigene lieben und leben, das Verschiedene respektieren und beides so miteinander versöhnen, dass gemeinsames Leben möglich ist, ohne die Differenzen zu vertuschen. Das könnte auch erweitert werden mit Blick auf Menschen ohne Glauben, indem sie als „verschieden“ respektiert und nicht von Vornherein als defizitär beschrieben werden. In einer säkularen Gesellschaft ist das ein zunehmend wichtiger Aspekt. Im Gegenzug ist selbstverständlich Voraussetzung, dass religiöse Menschen ebenso Respekt finden.
In den fünfhundert Jahren seit der Reformation zeigt sich eine Lerngeschichte, die sich um einen konstruktiven Dialog zu den theologischen Differenzen bemüht und Strukturen des friedlichen Miteinanderlebens geschaffen hat. Dazu gehören auch Durchbrüche, die Spaltung überwunden haben.
3. Notwendige Toleranz und notwendige Intoleranz in unserer Zeit
Intoleranz, die Grundlagen für ein Miteinanderleben von verschiedenen Glaubensüberzeugungen und politischen Optionen zerstört, erleben wir immer wieder hochaktuell. Ich denke an Auseinandersetzungen zwischen Sunniten und Schiiten, an die Verfolgung muslimischer Rohingya durch Bhuddisten in Myanmar, an die Verfolgung von Christen in Indonesien – die Liste liesse sich leider vielfältig verlängern. Auch in Deutschland ist die Decke der religiösen Toleranz dünn. Das zeigen emotional geführte Debatten etwa um die Beschneidung von Jungen als religiöses Ritual oder um konfessionellen Religionsunterricht, aber auch die die Auseinandersetzung um Moscheebauten oder das Tragen von Kopftüchern in staatlichen Einrichtungen oder die Akzeptanz eines Kreuzes an der Wand eines Gerichtsaales. Offensichtlich muss auch im Zeitalter der Trennung von Religion und Staat die notwendige Balance stets neu gefunden werden.
3.1. Konfessionelle Differenzen
In Vorträgen zum Reformationsjubiläum versuche ich stets, eine Balance zwischen dem evangelischen Erbe der Reformation und der ökumenischen Offenheit zu betonen. Es geht mir darum, einerseits klar zu machen, dass die Fragen Martin Luthers an seine Kirche mit Blick auf Ablass, Kirchenverständnis, Abendmahlsverständnis, Priestertum, Zölibat und Papsttum bleibende Fragen sind für die Kirchen, die aus der Reformation hervorgegangen ist. Gleichzeitig betone ich immer wieder, uns sei heute klar, dass uns „mehr verbindet als uns trennt“ mit Blick auf die römisch-katholische Kirche.
Ein Schweizer Kollege fragte mich kürzlich, ob der letztere Satz eigentlich stimmig sei. Ob wir in Deutschland Angst hätten, das Trennende von evangelischer Seite auch klar zu benennen. Und das ist in der Tat ein Balanceakt. Ökumenisches Miteinander und konfessionelles Selbstbewusstsein können in Spannung treten. Aber ist es sinnvoll, die Differenz zu verschweigen, um des Friedens willen, oder kann ein Miteinander nur gefunden werden, wenn wir die Unterschiede auch klar benennen. Das gilt beispielsweise für die Frage des Kirchenverständnisses. Wenn die römisch-katholische Kirche trotz aller ökumenischen Entwicklungen sich selbst allein als die eine, wahre, heilige Kirche an, als die einzige Kirche, die wahre Kirche Jesu Christi sieht, die anderen Kirchen aber als „kirchliche Gemeinschaften … nicht Kirchen im eigentlichen Sinn“, dann müssen die Kirchen der Reformation klar sagen: das ist nicht unser Kirchenverständnis, wie es die Augsburger Konfession formuliert hat. Wir lassen uns nicht von außen definieren.
3.2 Interreligiöser Dialog
Bei einem Essen, zu dem ich am Schabbat in den USA bei orthodoxen Juden eingeladen war, sagte mir der anwesende Rabbiner: „Warum sollte ich mich für Ihren Glauben interessieren? Sie können gern glauben, dass Jesus Gottes Sohn war, aber für mich ist er auf keinen Fall der Messias und mir liegt auch nicht an einem Dialog darüber, welches Ziel sollte das denn haben?“
Ganz anders ein Taxifahrer, der kürzlich in Berlin zu mir sagte: „Frau Käßmann, ich bin ein Kollege von Ihnen, ich bin Imam im Wedding.“ Und wir führten von Tegel bis zu meiner Wohnung ein angeregtes Gespräch über Glauben im säkularen Berlin, Seelsorge und soziale Nöte. Da war eine konstatierte Gemeinsamkeit des Glaubens trotz verschiedener Religion.
Die Einwände gegen religiöses Miteinander von christlicher Seite kenne ich natürlich. Zum einen: Was ist mit dem Missionsbefehl? In alle Welt zu gehen und das Evangelium zu verkündigen heißt doch genau das: Zeigen, dass ich meinen Glauben mit Freude lebe, hier Lebenskraft und Halt finde. Wo das mitreißend, überzeugend, ansteckend wirkt, werden andere sich fragen, ob es auch ihr Weg zu Gott sein kann. Wo das andere verachtend, hochmütig, auf Abgrenzung bedacht wirkt, wird es wenig einladend erscheinen.
Zum anderen: „Die“, gemeint sind meist die Muslime, sind intolerant, gewalttätig, hetzen gegen Christen und verfolgen sie. In der Tat, Christenverfolgung ist ein hochbrisantes Thema und unsere Geschwister im Glauben in aller Welt brauchen unsere Solidarität. Aber es ist absurd, alle Muslime mit einem kleinen Prozentsatz fundamentalistischer, gewaltbereiter, ideologisch getriebener Gewalttäter gleichsetzen. Fundamentalismus ist irreführend in jeder Religion. Mit so manchen Aussagen, die im Namen des christlichen Glaubens gemacht werden, möchte ich als Christin nicht identifiziert werden. Hass und Angst zu schüren, ist und bleibt ein Irrweg in jeder Religion. Es gibt nicht „wir“ und „die“, sondern Menschen verschiedenen Glaubens und nichtreligiöse Menschen, die ihre tiefen Überzeugungen von Freiheit, Toleranz und Verantwortung so umzusetzen haben, dass ein Leben in Frieden und Gerechtigkeit für alle Menschen auf dieser Welt möglich wird. Da ist Vernunft eine wesentlich bessere Ratgeberin als Verführung, Ideologie und Angst.
Bei alledem führe ich gern einen intensiven „Streit um die Wahrheit“. Es ist ein Streit des Interesses aneinander. Ich kann das Kirchenverständnis der römisch-katholischen Kirche nicht nachvollziehen, die russische Orthodoxie erscheint mir zu erstarrt, das Judentum versuche ich zu begreifen, der Islam irritiert mich in vielem, der Buddhismus bleibt mir fremd. Aber mich interessiert der Glaube anderer und ich halte es für entscheidend, dass Religionen miteinander im Gespräch sind. Ihre Intoleranz hat allzu oft Öl in das Feuer politischer und ethnischer Konflikte gegossen. Es wird Zeit, dass sie Faktor der Konfliktentschärfung werden, weil sie eine Toleranz kennen, die Unterschiede nicht mit Gewalt vernichten will, sondern als kreative Kraft sehen, die Welt und Zukunft menschenfreundlich gestalten kann. Das scheint mir eine Konsequenz des reformatorischen Erbes.
Mit Blick auf die lebensvernichtenden, menschenverachtenden Erfahrungen der Intoleranz der vergangenen Jahrhunderte muss die Frage gestellt werden: Wird nicht durch Intoleranz der Glaube verdunkelt? Wird das Evangelium recht gepredigt, wie es das Augsburger Bekenntnis fordert, wenn Nächstenliebe auf der Strecke bleibt, Krieg gestiftet wird statt Friede, der Fremdling nicht geschützt wird? Was ist es, das „Christum treibet“, wenn wir nach Wegen suchen, den eigenen Glauben zu bekennen und gleichzeitig Menschen zu respektieren, die einen anderen Glauben haben oder ohne Glauben leben?
Wenn ich über meinen Glauben nachdenke und Luthers These von der Freiheit eines Christenmenschen, die niemandem und jedermann gleichermaßen untertan ist, komme ich zu dem Schluss, dass ich den Glauben anderer tolerieren kann, gerade weil ich mich in meinem Glauben beheimatet weiß. Mich bedrückt, wie bei Diskussionen immer wieder heftigst mit Koranversen gewettert wird gegen Menschen muslimischen Glaubens. Ich bin keine Korankennerin, aber als Christin ist mir bewusst: ebenso könnten Muslime gewalthaltige Verse aus der Bibel zitieren. Die Frage ist: Ruhe ich mit Glaubensgewissheit in meiner eigenen Religion? Ich bin überzeugt, wer das im Leben kann und praktiziert, hat auch die innere Offenheit, zu respektieren, dass andere anders und anderes oder nicht im religiösen Sinne glauben. Gewiss, für mich ist Jesus Christus „der Weg, die Wahrheit und das Leben“. Aber das bedeutet nicht, dass ich nicht respektieren kann, dass für einen anderen Menschen Moham-med Gottes Prophet ist. Das erschüttert doch meinen Glauben nicht. Eine Glaubenshaltung, die anderen Glauben nicht erträgt – und noch einmal: tolerare meint ertragen – ist eher schwach, weil sie Angst davor hat, was eine Anfrage an eigenem Zweifel auslösen könnte. Wer den anderen bedroht, mit Worten, Gewalt und Waffen, kann nicht toleriert werden. Einem Dialog wäre dann jede Grundlage entzogen. Für mich persönlich bleibt Jesus Christus der Weg, die Wahrheit und das Leben. Das ist meine Glaubensgewissheit, die ich gern in der Gemeinschaft meiner Geschwister im Glauben lebe, in der Welt praktiziere, im Gottesdienst feiere. Es ist meine Freiheit, in der ich niemandem untertan bin. Und gerade deshalb kann ich respektieren, dass andere Menschen anders glauben oder nicht glauben. Das ist meine Freiheit, in der ich jedermann untertan bin. Und am Ende kann ich Gott überlassen, wie dieses Geheimnis der verschiedenen Religionen sich einst nach dieser Zeit und Welt lüften wird. Mit Religionsvermischung oder Toleranz gegenüber Fundamentalismus hat das nichts zu tun.
3.3 Gesellschaftliche Konflikte und ethische Entscheidungen
Immer wieder lässt sich Religion dazu verführen, Öl in das Feuer gesellschaftlicher Konflikte zu gießen. Als ich kürzlich in Oxford war, gab es eine Diskussion über die jüngsten Auseinandersetzungen um das Hissen der britischen Flagge in Belfast. Ich meinte, es ginge doch nun definitiv nicht um einen religiösen, sondern um einen politischen Kurs, nämlich pro-britischen bzw. pro-irischen Kurs. Ein Ire erklärte, da würde ich nun die Iren schlecht kennen, es sei ein zutiefst religiöser Konflikt. Ich habe gefragt, um welche religiöse, theologische oder kirchliche Frage es gehe. Daraufhin sagte er: den Unterschied zwischen Protestanten und Katholiken in der Glaubenslehre könnte eigentlich niemand benennen. Das verstehe nun, wer kann….
Mir liegt daran, dass Religionen Konflikte entschärfen und nicht länger verschärfen. Dazu gibt es gute und gelungene Beispiele. Auch in Nordirland übrigens, wo beide Kirchen seit langem zum friedlichen Miteinander mahnen. Religionsfreiheit wurde lange erkämpft und ist ein hohes Gut. Es gilt, sie zu verteidigen. Darum ist die Evangelische Kirche in Deutschland beispielsweise immer wieder dafür eingetreten, dass Muslime Moscheen bauen dürfen in Deutschland. Gewiss, sie tritt auch dafür ein, dass christliche Gemeinden in der Türkei, in Indonesien und in Pakistan in aller Freiheit Kirchen bauen können. Aber die Religionsfreiheit hier einzuschränken dient gerade nicht der Freiheit in anderen Ländern.
Gern wird eine Gefährdung der toleranten Gesellschaft durch Zuwanderung als Drohkulisse aufgebaut. Wer das erklärt, übersieht aber geflissentlich, dass der absolut und bei weitem überwiegende Teil der Zuwandernden gerade die Freiheit und die Toleranz der westlichen Gesellschaft schätzt. Wie viele Frauen sind froh und dankbar, ohne die Zwänge einer patriarchalen Gesellschaft zu leben! Auf die gemeinsame Bereitschaft, ein Unterhöhlen der errungenen Freiheitsrechte zu bekämpfen, benötigen wir eine postmigrantische Definition von Deutschland. Es kommt nicht auf biologische Herkunft an, sondern darauf, wie wir dieses Land friedlich und nachhaltig gestalten wollen.
Und die ethischen Fragen? In einem langen Gespräch mit einem führenden Theologen haben wir einmal überlegt, an welchem Punkt eigentlich eine gegenseitige Verwerfung in ethischen Fragen entscheidend wäre. Nehmen wir die Frage der Präimplantationsdiagnostik: wäre nicht dagegen im Sinne der Gottebenbildlichkeit jedes Menschen und dafür im Sinne der Vermeidung von unnötigem Leid zu argumentieren? Oder die Frage der Homosexualität, die viele Christen derart umtreibt: Die einen sehen sie als Sünde, die anderen als Schöpfungsvariante. Aber gibt es hier nicht eine Grenze? Etwa wenn afrikanische oder russisch-orthodoxe Kirchenführer Menschen homosexueller Prägung scharf verurteilen und mit Tieren vergleichen? Muss dann nicht dem biblischen Gebot der Nächstenliebe Geltung verschafft werden? Papst Franziskus hat das deutlich gemacht, als er sagte: „Wer bin ich, dass ich urteile?“ Oder: Wie verhält es sich andererseits mit der Todesstrafe? Es gibt Befürworter, die vermeintlich christlich argumentieren, vor allem in den USA. Aber was ist mit dem Gebot, das Töten bzw. Morden verbietet?
Wir alle kommen sehr schnell an die Grenzen unserer persönlichen Toleranz bei solchen ethischen Themen. Bei einem Vortrag Anfang des Jahres zum Potential von Religionen zur Konfliktbewältigung hatte ich versucht, von Küngs Projekt des Weltethos her zu erklären, dass alle Religionen, wenn sie sich nicht verführen lassen durch Ideologie oder Fundamentalismus, ein Friedenspotential haben. Anschließend kam eine Frau zu mir und sagte: „Frau Käßmann, sie haben keine Ahnung! Muslime sind nicht fähig zur Toleranz“….
Zum Tolerieren in ethischen Auseinandersetzungen gehört sicher der Respekt vor der anderen Position, statt all der Emotion wie sie schnell zu Tage tritt, etwa in der Debatte um Beschneidung. Hier liegt ja ganz offensichtlich ein Konflikt zwischen Religionsfreiheit und Unversehrtheit, der nicht so schlicht zu lösen ist. Es gilt ebenso, eine differierende Position nicht als Abfall von Glaube oder Verrat von Tradition abzutun. Der Vorwurf der orthodoxen Kirchen gegenüber den Kirchen der Reformation, die Zulassung von Frauen zu allen Ämtern sei eine Anbiederung an den westlichen Zeitgeist, will schlicht übersehen, dass es hier um Entscheidungen auf theologischer Grundlage, vor allem um Konsequenzen aus reformatorischer Tauftheologie geht. Intoleranz beginnt da, wo ich meine Position zum alleinigen Wahrheitsbesitz erkläre und für mich kein Ringen um Wahrheit mehr denkbar ist.
Ethische Diskurse zuzulassen, unterschiedliche Positionen einnehmen zu können, ohne die andere Position abgrundtief, ja hasserfüllt mit Vernichtungswillen versehen zu verurteilen, das ist das Gebot der Toleranz. Sie endet, wo Menschen in ihrem Selbstwert angegriffen werden, wo ihre Würde in Frage gestellt wird.
Um Toleranz ist je neu zu ringen in den konfessionellen Auseinandersetzungen unserer Zeit, im Dialog der Religionen, angesichts gesellschaftlicher Herausforderungen und ethischer Entscheidungen. Der Respekt vor der anderen Position bleibt ihr Kerngeschäft.
4. Das Projekt Weltethos
Es hat sich über lange Jahre entwickelt und die Beharrlichkeit in den Auseinandersetzungen Ende der siebziger und Anfang der achtziger Jahre, die wird in diesem Projekt wahrhaft benötigt. Gut, dass Sie sie eingeübt haben! Schon 1964, auf einem Nationalkongress christlicher Theologen in Bombay, stellte Hans Küng fest: die Wahrheit des Evangeliums und die Wahrheit der Weltreligionen lassen sich dialektisch zueinander in Beziehung bringen. Christliche Identitätsfindung schließt nach Küng ökumenische Konsensbildung nicht aus, sondern ein, und die praktische Konsequenz für Christen ist damit für ihn: Verständnis, Verbundenheit, Verpflichtung der Kirche als der Minderheit gegenüber den Angehörigen der Weltreligionen als der Mehrheit der Menschheit. Das Buch „Christ sein“ von 1974 ist dabei offensichtlich ein Markstein für das spätere Dialogkonzept in Tübingen mit seinen öffentlichen Dialogen mit wissenschaftlichen Vertretern von Islam, Hinduismus, Buddhismus, chinesischer Religion und Judentum und dann auch mit Religionsvertretern in allen Konti-nenten dieser Erde. Leitfragen waren: Was ist der Christenmensch, was die Kirche, wer der Christus und schließlich, wer ist Gott? Hans Küngs historisch-systematische Arbeiten in den 70er Jahren waren weitere Vorarbeiten für das Projekt „Weltethos“. Er hielt damals fest, die Alternative zum Nihilismus sei für ihn ein vernünftiges Ur-oder Gottvertrauen, das Christen oder Nichtchristen, Theisten oder Atheisten möglich ist. Ein solches Grundvertrauen, das nicht notwendig Gottesglaube zu sein hat, als unabdingbare Voraussetzung für ein echt menschliches, humanes, moralisches Le-ben, wie es jedem Menschen, eben auch Atheisten, möglich ist. Ein autonomes Ethos also, im Sinne einer Selbstbestimmung und Selbstverantwortung des Menschen, ein Grundvertrauen als Grundlage für ein Grundethos.
Bei seinen Studien und Erfahrungen kam Hans Küng zu dem Schluss, dass sich, bei allen nicht zu unterschätzenden Unterschieden in Glauben, Lehre und Ritus auch Ähnlichkeiten, Konvergenzen, Übereinstimmungen zwischen den Weltreligionen feststellen lassen: Alle Menschen sind vor dieselben großen Fragen gestellt, die Urfragen nach dem Woher und Wohin von Welt und Mensch, nach der Bewältigung von Leid und Schuld, nach den Maßstäben des Lebens und Handelns, dem Sinn vom Leben und Sterben. Alle Religionen sind zugleich Heilsbotschaft und Heilsweg, alle Religionen vermitteln eine gläubige Lebenssicht, Lebenseinstellung und Lebensart, und sie vermitteln bei allen dogmatischen Unterschieden doch einige gemeinsame ethische Maßstäbe. Diese Beobachtungen wurden Küng zur Leitfrage der 90er Jahre: Was ist dieses gemeinsame Grundethos?
Schon 1988 schrieb Küng:„ gerade die Verbundenheit im Ethos könnte zu einem einigenden friedenstiftenden Band der Völkergemeinschaft werden, könnte beitragen zu einem freieren, gerechteren, friedlicheren Zusammenleben in unserer zunehmend unbewohnbar werdenden Welt.“ (aus: Epilog zum Buch über die chinesische Religion von 1988). Von hier ausgehend und in Analogie zu Weltpolitik, Weltwirtschaft, Weltfi-nanzsystem prägte Küng den Begriff „Weltethos“. Er soll nicht bindend christlich verstanden werden, sondern in einem neuen interreligiös-interkulturellem Sinn. Gläubige aller Religionen und Nichtgläubige in allen Kulturen sollen hier ihr Gemeinsames finden. Es geht um ethische Basisstandards, die von allen bejaht werden können. Zwei Grundprinzipien für ein humanes Ethos werden benannt: Jeder Mensch soll menschlich und nicht unmenschlich behandelt werden, und die sogenannte goldene Regel, was du nicht willst, das man dir tut, das tue auch nicht den anderen. Vier unverrück-bare Weisungen, bezüglich derer die großen religiösen und philosophischen Traditionen übereinstimmen, werden benannt:
- Habt Ehrfurcht vor dem Leben. Die uralte Weisung: Du sollst nicht töten, verstanden in der heutigen Zeit als Verpflichtung auf eine Kultur der Gewaltlosigkeit und der Ehrfurcht vor allem Leben.
- Handle gerecht und fair. Die uralte Weisung: Du sollst nicht stehlen, verstanden heute als Verpflichtung auf eine Kultur der Solidarität und eine gerechte Wirtschaftsordnung.
- Rede und handle wahrhaftig. Die uralte Weisung: Du sollst nicht lügen, verstanden heute als eine Verpflichtung auf eine Kultur der Toleranz und ein Leben in Wahrhaftigkeit.
- Achtet und liebet einander. Die uralte Weisung: Du sollst Sexualität nicht missbrauchen, verstanden heute als eine Verpflichtung auf eine Kultur der Gleichberechtigung und die Partnerschaft von Mann und Frau.
Eine wirkliche Versuchung, zu einer anderen Religion überzutreten, die manchmal bei im interreligiösen Dialog Engagierten festzustellen ist, hat es für Hans Küng bei allem Respekt, aller Bewunderung für die anderen Religionen nicht gegeben. Er hat es für sich auf die Formel gebracht: „In der Nachfolge Jesu Christi kann der Mensch in der Welt von heute wahrhaftig menschlich leben, handeln, leiden und sterben: In Glück und Unglück, Leben und Tod, gehalten von Gott und hilfreich den Menschen.“ Das ist wohl eine Art Liebeserklärung an die eigene Religion...
Das Projekt „Weltethos“ steht im Dienst einer weltweiten Verständigung zwischen den Religionen mit dem Ziel eines gemeinsamen Menschheitsethos, das allerdings die Religion nicht ablösen soll. Ethos ist und bleibt, so sagen Sie, nur eine Dimension innerhalb der einzelnen Religionen und zwischen den Religionen. Sie wollen keine Einheitsreligion, keinen Religionencocktail und keinen Religionsersatz durch ein Ethos. Das ist mir wichtig, da ich von „Religionsmischmasch“ gar nichts halte. Vielmehr geht es um ein Bemühen um den dringend erforderlichen Frieden zwischen den Menschen aus den verschiedenen Religionen dieser Welt. Seine Vision hat Hans Küng in vier Sätzen zusammengefasst:
„Kein Frieden unter den Nationen ohne Frieden unter den Religionen, kein Friede unter den Religionen ohne Dialog zwischen den Religionen, kein Dialog zwischen den Religionen ohne globale ethische Maßstäbe, kein Überleben unseres Globus ohne ein globales Ethos, ein Weltethos.“
Konkrete Impulse für die Anwendung des Projektes „Weltethos“ auf die Wirklichkeit in Politik und Wirtschaft gibt das jüngste Buch „Weltethos für Weltpolitik und Weltwirtschaft“, ein Zukunftsentwurf auf der Grundlage eines gemeinsamen Menschheitsethos. Es geht um einen neuen Sinn für Verantwortung, um eine Politik aus Verantwortung, welche die immer wieder neu zu findende schwierige Balance zwischen Idealen und Realitäten zu verwirklichen sucht und um eine Wirtschaft aus Verantwortung, welche ökonomische Strategien mit ethischen Überzeugungen zu verbinden weiß.
Es wird darum gehen, dass diese Ansätze Auswirkungen im Alltag der Menschen haben und zum Zusammenleben der Religionen, der Menschheit beitragen. Dazu müssen sie geerdet werden bei denen, die um Gerechtigkeit, Frieden und die Bewahrung der Schöpfung ringen.
Es braucht Beharrungsvermögen, ja die Kraft und den langen Atem für Visionen, um das Projekt Weltethos lebendig werden zu lassen. Und Visionen brauchen wir für die Zukunft der Welt, der Menschheit, der Religionen, der Kirchen. Wir hoffen, dass Religionen nun endlich nicht länger ein Faktor der Konfliktverschärfung sein werden, sondern einen genuinen Beitrag zur Konfliktentschärfung, zur Versöhnung leisten. Aber dazu gibt es auch Hoffnungsschimmer. Ich denke an die Studie von Markus Weingardt im Rahmen des Projekt Weltethos zum Thema „Das Friedenspotential von Religionen“ (21). In mehreren Fallstudien hat er gezeigt, dass religiös motivierte Akteure zur Verminderung von Gewalt in politischen Konflikten beitragen. Die mehr als 40 (!) Beispiele aus aller Welt betrachte ich als ungeheure Ermutigung. Wir können etwas tun; es gibt Hoffnungsgeschichten. Es zeigt sich, dass sie einen langen Atem brauchen, Vertrauen und Kontakte mit allen Konfliktparteien aufgebaut werden müssen, um in Konflikten zu vermitteln. Dazu gehört auch eine „emotionale Konfliktbearbei-tungskompetenz“ (22). Diesen Begriff finde ich spannend. Es geht ja oft nicht nur um die harten Fakten, sondern um tiefer liegende Konfliktdimensionen. Und die lassen sich nicht mit Waffen bewältigen. Ich denke aber auch an das „House of One“, das in Berlin entstehen soll, an einen geplanten interreligiöse Kita dort und viele kleine Schritte, die viele Menschen auf der Welt gehen, damit von Religionen Toleranz ausgeht.
Zuletzt:
Was also ist Toleranz? Zum einen meint sie nicht Gleichgültigkeit nach dem Motto, jeder Mensch möge nach der eigenen Façon selig werden.
- Toleranz bedeutet Interesse am anderen, am Gegenüber, an der anderen Religion oder am Nicht-Glauben, an der anderen politischen oder ethischen Option. Dazu braucht es Begegnung und Zeit für Gespräche, Bereitschaft zum Zuhören.
- Es geht darum, die Differenz auszuhalten um des friedlichen Zusammenlebens willen. Dazu ist Respekt notwendig für die andere Position, auch wenn es für mich manchmal schwer zu ertragen ist.
- Aber Toleranz heißt nicht Grenzenlosigkeit. Wahre Toleranz wird ihre Grenze an der Intoleranz finden und alles daran setzen, sie im Recht klar zu regeln.
- Zum Respekt gehört die Achtung vor der Integrität des anderen. Wo sie durch Rassismus, Sexismus, Erniedrigung, Gewalt oder Gewaltandrohung verletzt wird, ist die Grenze der Toleranz überschritten.
Oder, wie es der Göttinger Kirchenrechtler Michael Heinig ausgedrückt hat: „Toleranz in evangelischer Perspektive nicht, die Unterschiede zwischen den Konfessionen, Religionen und Weltanschauungen zu ignorieren oder verleugnen. Doch sie prägt den Umgang mit der Differenz.“
Das heißt, Toleranz meint keine statische Haltung, sondern ein dynamisches Geschehen auf Gegenseitigkeit. Das war schon bei Konstantin und Licinius vor 1700 Jahren beim ersten großen Toleranzedikt von Mailand 313 so: Um den „Nutzen der Mehrheit“ ging es ihm. Also um ein lebensfähiges Miteinander unterschiedlicher Glaubensüberzeugungen, nicht um ein Nivellieren von Unterschieden. Und das gilt auch aktuell für Religionen und Gesellschaft. Nicht um Kleinmut oder Angst vor dem Konflikt geht es, sondern um streitbare Toleranz, die zur eigenen Position ermutigt, aber fähig ist zum Dialog, ja offen für Lernerfahrungen und Horizonterweiterungen.
Sehr geehrter Herr Küng, in jenem Brief, mit dem Sie mir ein Exemplar Ihres Buches „Rechtfertigung“ zukommen ließen, schrieben Sie zum Thema Rechtfertigung auch: „Mir lag es am Herzen, die Rechtfertigungsproblematik nicht nur bei Karl Barth und Martin Luther aufzuarbeiten, sondern auch die Relevanz dieser Frage für die heutigen Menschen und die heutige Gesellschaft deutlich zu machen.“ Nun habe ich hier nicht über die theologische Frage der Rechtfertigung gesprochen. Aber über die Relevanz von Theologie und Kirche für den Menschen und für die Frage des Friedens unter den Menschen. Bei diesem Thema waren uns sind wir uns nahe. Sie haben in Ihrem Buch schon 1957 unter anderem geschrieben: „Luther bleibt trotz seiner enormen politischen Sprengwirkung zutiefst ein Mann des Glaubens“ (23). Das musste 500 Jahre später 2017 immer wieder betont werden, wurde Luther doch für alles Mögliche herangezogen. Aber Sie haben eben auch klar gemacht, was Rechtfertigung aktuell bedeutet: „Christliche Rechtfertigungsbotschaft liefert nicht die Rechtfertigung für eigenes Nichtstun. Gute Taten sind wichtig. Aber die Grundlage der christlichen Existenz und Kriterium für das Bestehen vor Gott kann nicht die Berufung auf irgendwelche Leistungen sein: keine Selbstbehauptung, keine Selbstrechtfertigung des Menschen. Sondern nur das unbedingte Festhalten an Gott durch Jesus in einem glaubenden Vertrauen. Eine ungemein ermutigende Botschaft wird hier verkündigt, die dem Menschenleben sogar durch alles unvermeidbare Versagen, irren und Verzweifeln hindurch eine solide Basis gibt und die es zugleich vom religiösen oder säkularen Leistungsdruck zu befreien vermag zu einer Freiheit, die auch durch schlimme und schlimmste Situationen hindurchzutragen vermag.“ (24) Vielleicht hätten wir diese Kurzzusammenfassung im Reformationsjubiläumsjahr auf Bierdeckel oder Visitenkarten drucken sollen, weil sie so klar und überzeugend und verständlich ist, auch 50 Jahre später.
Es ist nicht an mir, angemessen die Dankbarkeit auszudrücken, die wir Ihnen schuldig sind. Das ist und wird offiziell geschehen. Aber ich kann sagen, dass Sie mich in meinem theologischen Denken immer wieder ermutigt haben. Dass es mich von An-fang an geprägt hat, ökumenisch mit theologischen Fragen umzugehen. Und dass Theologie nie im Abseits, in Lehrstühlen oder Lehrmeinungen ihre Relevanz findet, sondern im Leben der Menschen und der Gesellschaft. Dass Sie das mir und vielen anderen, ob katholisch oder evangelisch, ob anders religiös oder nicht religiös unermüdlich vermittelt haben, das war und bleibt ein Segen. Danke, Hans Küng!
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
(1) Vgl. Martin Luther, von der babylonischen Gefangenschaft der Kirche, Luther Deutsch, hg.v. Kurt Aland, Band II, Göttingen 1991, S. 171ff.
(2) Ebd. S. 183.
(3) Ebd. S. 227.
(4) Martin Luther: Der große Katechismus (1529). Martin Luther: Gesammelte Werke, S. 1905
(vgl. Luther-W Bd. 3, S. 129) (c) Vandenhoeck und Ruprecht http://www.digitale-bibliothek.de/band63.htm
(5) Hans-Jürgen Goertz, Thomas Müntzer, München 1989, S. 130f.
(6) Vgl. Uwe Birnstein, Toleranz und Scheiterhaufen: Das Leben des Michael Servet, Göttingen 2012.
(7) Ebd. S. 83.
(8) Martin Luther, Wider die räuberischen und mörderischen Rotten der Bauern, in: Luther Deutsch, hg.v. Kurt Aland, Band VII, Göttingen 1983 (3. Aufl.), S. 191ff.
(9) Ebd. S. 195.
(10) Das Augsburger Bekenntnis, in: Unser Glaube. Die Bekenntnisschriften der evangelisch-lutherischen Kirche, Gütersloh 2000 (4. Auflage), S. 53ff.; S. 71.
(11) Tilmann Bendlikowski, Der deutsche Glaubenskrieg, München 2016, S. 78.
(12) Ebd. S. 85.
(13) Vgl. Thomas Kaufmann, Luthers „Judenschriften“, Tübingen 2011.
(14) Ebd. S. 153.
(15) Heinz Schilling, Martin Luther. Rebell in einer Zeit des Umbruchs, München 2012, S. 238
(16) Ebd., S. 209.
(17) Ebd. S. 627.
(18) Heiko A. Oberman (Hg.), Die Kirche im Zeitalter der Reformation. Neukirchen 1981, S. 233.
(19) Quellen der Kirchengeschichte, Neuzeit 2. Teil, hg.v. Hans-Walter Krumwiede u.a. Neukirchen 1989 (3. Aufla-ge), S. 217.
(20) http://www.lwb-vollversammlung.org/experience/mennonite-action.
(21) Markus Weingardt, Das Friedenspotential von Religionen, unveröffentlichtes Manuskript, Juni 2006.
(22) Ebd. S. 415.
(23) Hans Küng, Rechtfertigung, s. 479.
(24) Ebd. S. 510.