Kommunikation unter den Bedingungen globaler Datennetze,
forum medienethik, 1996, Nr. 2, S. 71-75.
Bis vor wenigen Jahren war das Internet ein Kommunikationsmedium für Wissenschaftler, Computerfreaks und die technische Info-Elite. Wissenschaftliche Diskussionen wurden über "E-Mail" (die elektronische Post) oder über "Newsgroups" (schwarze Bretter) geführt, Forschungsergebnisse in Sekunden an Fachwissenschaftler in aller Welt weitergegeben. Die komplizierte, text- und befehlsorientierte Software setzte ein besonderes Computerwissen voraus, das den Spezialisten an den großen Universitäten vorbehalten blieb.
Daß das Internet heute in aller Munde und dabei ist, zu einem Massenmedium zu werden, erklärt sich durch die Entwicklung des "World Wide Web" (kurz: WWW), einer grafischen, multimedialen Plattform, die es erlaubt, weltweit Dokumente miteinander zu verknüpfen und per Mausklick abrufbar zu machen. Dadurch wurde diese Technik auch für den durchschnittlichen PC-Anwender interessant. Längst ist das Internet kein reines Text-Medium mehr: die Integration von bewegten und unbewegten Bildern, Tönen und Animationen wird nur von den immer noch recht bescheidenen Datenübertragungsraten zum Endnutzer hin gebremst.
Die WWW-Software entwickelt sich immer mehr zu einer integrativen Plattform verschiedener Internet-Dienste: über einen Mausklick auf eine E-Mail-Adresse kann der Benutzer direkt mit dem Informationsanbieter Kontakt aufnehmen, und die Kommunikationsmodule erlauben eine text- oder videobasierte Kommunikation in Echtzeit. Telefonieren und das Abhalten von Videokonferenzen über Internet werden in absehbarer Zeit für die meisten Nutzer zum Alltag gehören.
Information, Kommunikation und Interaktion im Internet verschränken sich immer mehr und sind beinahe nicht mehr zu differenzieren. Absehbar ist jedoch jetzt schon, daß die Kommunikation über Datennetze mit quantitativen und qualitativen Veränderungen einhergeht, die die menschliche Kommunikation in den Ländern, die über eine gut ausgebaute Telekommunikationsinfrastruktur verfügen, nachhaltig verändern werden. Im folgenden soll der Versuch unternommen werden, die Veränderungen menschlicher Kommunikation unter den Bedingungen globaler Datennetze ansatzweise zu erfassen.
Beschleunigung und Verdichtung von Kommunikation
Der Unterschied zwischen der herkömmlichen Post und E-Mail, der elektronischen Post, liegt in der Geschwindigkeit, mit der Informationen ausgetauscht werden: eine Nachricht benötigt über die Leitungen des Internet nur noch wenige Sekunden, um vom Absender beim Empfänger im Briefkasten zu landen. Der Vorteil gegenüber dem Telefax, das ja eine schon ähnliche Beschleunigung mit sich brachte, liegt darin, daß E-Mail fast nichts kostet, weil der Transport über die internationalen Standleitungen des Internet erfolgt. Außerdem lassen sich die elektronischen Informationen direkt auf dem Computer weiterverarbeiten, ohne vorher noch einmal erfaßt werden zu müssen. Darüber hinaus können beliebige Dateien (Texte, Bilder, Tondateien etc.) an eine E-Mail angehängt und so weltweit verschickt werden. Über Mailinglisten lassen sich Nachrichten, Rundschreiben, Newsletter, Artikel etc. in einer beliebig hohen Auflage auch in Sekundenschnelle über den ganzen Globus verbreiten. Mailinglisten mit 100.000 Adressaten sind keine Seltenheit.
Es liegt auf der Hand, daß sich durch die Fülle der möglichen Diskussionslisten und Newsgroups sowie der zumeist recht intensiven persönlichen Kontakte die Anzahl kommunikativer Kontakte wesentlich erhöht. Regelmäßige Nutzer des Internet bekommen leicht einmal 30 oder auch 100 E-Mails an einem Tag, und zahlreiche Firmen sehen sich, nachdem sie sich mit einem Informationsangebot ins WWW gewagt haben, vor das Problem gestellt, plötzlich mehrere 100 Anfragen pro Tag beantworten zu sollen, ohne daß dafür Personal bereitsteht. Für den einzelnen wie auch für Institutionen stellt sich dann die Frage, wie sie mit der Flut von elektronischen Anfragen, Nachrichten und elektronischen Briefen fertig werden sollen. Die Fähigkeit zur Unterscheidung von Wichtigem und Unwichtigem gehört zu den grundlegenden Voraussetzungen, um sich im Kommunikations- und Informationsdschungel Internet zurecht zu finden. Weil das Internet über keine vorgegebenen inhaltlichen Hierarchien verfügt und alle Informationen zunächst den gleichen Stellenwert haben, muß der Benutzer in der Lage sein bzw. in die Lage versetzt werden, die Informationen, die für ihn wichtig sind, zu selektieren.
Der Abbau von Kommunikationsbarrieren
Durch das komfortable Empfangen, Beantworten und Absenden von E-Mails verändern sich aber nicht nur die Geschwindigkeit beim Austausch von Informationen und die Menge der täglich zu erledigenden Post, sondern auch die Umgangsformen in der Kommunikation miteinander. Diese werden wesentlich durch die Anonymität des Mediums bestimmt: Die Hemmschwelle, um mit jemandem Kontakt aufzunehmen, ist deutlich herabgesetzt, weil die Kommunikation auf eine elektronische Adresse und Zeichen reduziert ist. Außerdem gibt es keine sozialen, physischen oder psychologischen Hindernisse, um mit einem Menschen Kontakt aufzunehmen. Und weil bei der elektronischen Post Formalitäten wie Absenderangaben, Datum, Bezug etc. verzichtbar sind, ist auch ein legererer Umgangston mit dem Gegenüber die Regel. Die amerikanische Dominanz und Prägung dieses Mediums hat ebenfalls dazu beigetragen, Umgangsformen zu etablieren, die direkter, offener und weniger förmlich als die deutschen, englischen oder französischen sind. Dadurch entwickeln sich über E-mail oft persönliche Beziehungen, die dazu führen, sich bei Gelegenheit auch einmal "face to face" zu sehen.
Das Vorurteil, daß die Menschen, die über Computer und Datenleitungen miteinander kommunizieren, zumeist sozial gestörte, unkommunikative Personen sind, dient denjenigen, die keine Computer bedienen können oder wollen, zumeist als Vorwand, um sich damit nicht beschäftigen zu müssen. Internetnutzer sind in der Regel jedoch hochkommunikative Persönlichkeiten. Die Kommunikation über Datennetze birgt allerdings eine gewisse Suchtgefahr: Der Kontakt mit Gleichgesinnten oder Freunden im Netz kann dazu führen, daß die sozialen Kontakte vor Ort vernachlässigt werden, daß bestimmte Menschen im Netz für den einzelnen wichtiger werden als die Menschen in der nächsten Umgebung. Das Kostümieren mit geliehenen Identitäten in den Chat-Foren (live Small talk über die Computertastatur) oder die Teilnahme an gemeinsamen Rollenspielen kann auch zu einem massivem Identitätsverlust führen(1), weil die Grenzen zwischen der "realen" und der "virtuellen" Identität fließend werden. Diese Gefahren sollten wohl gesehen, dürfen aber auch nicht überbetont werden, da wohl nur ein sehr begrenzter Teil der Nutzer dafür anfällig sein dürfte.
"Netiquette" - demokratische Spielregeln zur Konfliktlösung
Aufgrund der reduzierten Form von Kommunikation kommt es in persönlichen E-Mails und Diskussionsgruppen oft zu Mißverständnissen, Verstimmungen und Ärger. In der persönlichen Kommunikation müssen beide Konfliktparteien sehen, wie sie wieder zueinander finden, was nicht immer gelingt und dann zum Abbruch der Kommunikation führt. In den öffentlichen Diskussionsgruppen werden die Verhaltensregeln durch die allgemeine "Netiquette" ("Etikette des Netzes") bestimmt, eine Art "Ethik des Common sense", die sich im Netz selbst entwickelt hat(2). Konflikte werden aber auch über die Statuten der jeweiligen Gruppe, die zu einem bestimmten Zweck über das Internet kommuniziert, geregelt. Diese demokratischen Spielregeln, die von den einzelnen Gruppen für die einzelnen Gruppen entwickelt wurden, haben sich in der Regel ganz gut bewährt, auch wenn es in bestimmten Chat-Kanälen immer wieder zu verbalen Attacken gegenüber anderen Teilnehmern kommt. Aber es ist niemand dazu gezwungen, an solchen Diskussionen teilzunehmen.
Zensur versus Recht auf freie Meinungsäußerung
Ungelöst sind jedoch die Konflikte mit Gruppen, die die demokratischen Spielregeln nicht beachten: Z.B. wenn Scientology versucht, sämtliche kritischen Beiträge und Veröffentlichungen über Scientology zu verhindern. Weltweit werden Rechtsanwälte von Scientology damit beauftragt, nach Copyrightverletzungen im Internet zu fahnden, um über dieses Mittel eine kritische Berichterstattung über die Aktivitäten der Sekte zu unterdrücken. Das aber gelingt nur selten, weil die Informationen dann auf Rechner in Ländern transferiert werden, in denen die westlichen Copyrightbestimmungen nicht gelten. Dies führt zu einer Art "Hase und Igel - Spiel", bei dem Scientology feststellen muß, daß wenn sie auf einem Rechner gerade Informationen beseitigt hat, sie schon unter einer anderen Adresse wieder abrufbar sind.
Was im Falle von Scientology noch eine gewisse Befriedigung hervorruft, weitet sich zu einem grundsätzlichen Problem aus, wenn man, wie zahlreiche Amerikaner, das Recht auf freie Meinungsäußerung als höchstes Gut betrachtet: Während deutsche Staatsanwälte gegen neonazistische Propaganda im Internet vorgehen, stellen liberale Amerikaner den rechtsradikalen Gruppen kostenlos Platz auf ihren Rechnern zur Verfügung. Dabei stehen die deutschen Staatsanwälte allerdings ebenso auf verlorenem Posten wie Scientology.
Ein weiteres Problem weltweiter Kommunikation über Computernetze sind die kriminellen Energien, die dadurch freigesetzt werden: Über entsprechende Kryptografieverfahren können E-Mails so verschlüsselt werden, daß kein Geheimdienst und keine Polizeibehörde diese Informationen entschlüsseln kann. Es braucht nur wenig Phantasie, um sich vorzustellen, welche kriminellen Möglichkeiten darin enthalten sind: Der weltweite Versand von Kinderpornografie, die Abwicklung von Drogengeschäften und Einsatzbefehle für Terrorkommandos sind die Alpträume vieler Fahndungsbehörden und Geheimdienste.
Konsequenzen
Für den alltäglichen Umgang bietet die elektronische Kommunikation über Datennetze sehr viele Vorteile: Sie ist schnell, billig und komfortabel. Die rasante Entwicklung im Bereich sprachgestützter Computerkommunikation wird einerseits dazu führen, daß sich Menschen, die den Computer bislang nicht zu ihren Arbeitsmitteln zählten, sich verstärkt dieser Technologie zuwenden, andererseits aber auch einen massiven Arbeitsplatzabbau für reine Schreibtätigkeiten mit sich bringen. In dem Maße, in dem sich das Internet mit seinen Möglichkeiten fortentwickelt, wird auch der Druck zu einer immer schnelleren Verbreitung und Verarbeitung von Informationen zunehmen. Man mag diese Entwicklung begrüßen oder nicht, sie wird nicht aufzuhalten sein, weil sie bestimmten Menschen oder Unternehmen Vorteile verschafft. Angesichts dieser Entwicklungen müßte es die Aufgabe der Medienpädagogik sein, Konzepte zu erarbeiten, mit denen Menschen die Medienkompetenz erwerben können, die notwendig ist, um mit dem Medium Internet sinnvoll umgehen können.
Das Internet macht mehr noch als alle anderen Medien deutlich, daß das sich abzeichnende "global village" um bestimmte, weltweite, gemeinsame, ethische Standards und weltweit verbindliche, rechtliche Regelungen nicht herumkommt. Unter den Bedingungen globaler Datennetze greifen nationale Gesetze und Wertevorstellungen nur noch bedingt: Fast jeder kann alles irgendwo in diesem Netz machen, weil es zur Zeit immer noch irgendwo ein Land gibt, in dem erlaubt ist, was andernorts längst verboten ist. Aufgabe der Medienethik könnte es sein, gemeinsam mit Menschen aus anderen Ländern und Kulturkreisen an einer "Netiquette" zu arbeiten, um zu gemeinsamen Werten, Normen, Verfahrensweisen und rechtlich verbindlichen Regelungen zu gelangen. Ob dies gelingt, läßt sich zur Zeit nicht abschätzen. Das Bewußtsein für die Notwendigkeit solcher "global standards" wächst jedenfalls, und es wäre töricht, es nicht wenigstens zu versuchen.
Autor: Dr. Matthias Schnell
Fußnoten:
1 Vgl. dazu den sehr profunden Artikel der Tübinger Sozialwissenschaftlerin Anke Bahl in der Computerzeitschrift c't: Anke Bahl: Spielraum für Rollentäuscher, in: c't, Heft 8, August 1996, S. 94-100. Bahl betont aber auch die therapeutische Funktion solcher Rollenspiele: "Muds geben einem die Möglichkeit, ungelöste persönliche Probleme erneut und anders anzugehen und sich mit den verschiedenen Aspekten des Selbst kreativ auseinanderzusetzen", aaO, S. 99. Zurück zum Text
2 Die Netiquette wurde ursprünglich von Arlene Rinaldi von der Florida Atlantic University in Zusammenarbeit mit Mitgliedern einer Diskussionsgruppe entwickelt. Bestandteil dieser Netiquette sind auch "Die 10 Gebote der Computerethik". Das Original findet sich unter der Adresse http://rs6000.adm.fau.edu/rinaldi/net/index.htm im WWW, eine deutsche Übersetzung ist unter der Adresse: http://www.ping.at/guides/netmayer/netmayer.html abrufbar. Zurück zum Text