Unerhört!

Diakonie-Präsident Ulrich Lilie zur Kampagne „Unerhört!“, die zum Zuhören auffordert

An Bahnhöfen und Flughäfen macht ein lila Plakat auf unerhörte Menschen aufmerksam. Mit der „Unerhört!“-Kamapgne will die Diakonie Deutschland drei Jahre lang das Gespräch suchen und zuhören. Diakonie-Präsident Ulrich Lilie erklärt die Hintergründe.

Plakat zur Diakonie-Kampagne „Unerhört!“
Mit der Kampagne „Unerhört!“ will die Diakonie ungehörten und an den Rand gedrängten Menschen eine Stimme geben.

Unerhört! Diese Obdachlosen! Unerhört! Diese Flüchtlinge! Vielleicht haben Sie die violetten Plakate in Ihrer Nachbarschaft schon gesehen? Oder sind in München oder Hamburg am Flughafen auf die Kampagne der Diakonie aufmerksam geworden? Die provozierenden Sätze markieren den Auftakt der neuen Unerhört! – Kampagne der Diakonie Deutschland. Drei Jahre werden wir uns für sie Zeit nehmen, die Aktion soll sich mit uns und Ihnen entwickeln. Nicht nur auf Plakatwänden.

Ziel ist, ins Gespräch zu kommen und zum Zuhören zu ermuntern. Gespräche, in denen auch diejenigen Stimme, Gesicht und Gewicht bekommen, deren Lebensgeschichten ins gesellschaftliche Abseits gestellt werden, bevor sie gehört worden sind: die als Obdachlose, Flüchtlinge, Arme, als Alte oder die mit der Ost-Biografie gelabelt werden. Wer fällt Ihnen noch ein? Unerhört! Diese Politiker!? Unerhört! Diese AfD-Wähler!?

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Unsere Welt verändert sich rasant. Viele Menschen verlieren den Faden, finden sich nicht mehr zurecht. Und zu viele haben das Gefühl, in ihrer Lebenssituation nicht wahrgenommen zu werden. Nicht immer sind sie in materiellen Notlagen, aber sie fühlen sich an den Rand gedrängt in einer Welt, in der das Tempo steigt und die Gerechtigkeit auf der Strecke zu bleiben droht. Wir müssen zuhören und reden – nicht nur in den üblichen Blasen. Aber wie?

Die Grenzen zwischen freier Meinungsäußerung und gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit verschwimmen. Dem empörten Satz „Das wird man doch wohl sagen dürfen“ folgen oft Verunglimpfungen von Flüchtlingen, Schwulen, Feministinnen, jüdischen Mitbürgerinnen und Mitbürgern oder Männern und Frauen in politischer Verantwortung. Wer eine andere Meinung hat, wird niedergebrüllt oder symbolisch an einen Galgen gehängt. Auch auf diese aufgeheizte Atmosphäre zielt unsere Kampagne. Es wird nicht einfach, aber ich bin überzeugt: Wir sollten uns öfter sagen lassen, was wir nicht hören wollen, und uns den Geschichten hinter der Wut aussetzen.

Zuhören ist nur ein erster Schritt auf dem Weg zur Veränderung

Die ersten Reaktionen auf die Plakate? Neben Lob für den mutigen Aufschlag steht Angst vor Missverständnis und zu viel Konflikt. Es schreiben mir zornige Rentner, die beklagen, dass sie keine bezahlbare Wohnung finden und erleben, dass Geflüchtete ihnen vorgezogen werden. Ich bin bestürzt und froh über diese E-Mails, denn hier äußern sich Männer und Frauen, denen zu wenig zugehört wird, und ich kann ihnen antworten. Das ist ein Anfang.

Wir wollen viele Menschen von Angesicht zu Angesicht auf Gesprächsveranstaltungen treffen. Bei öffentlichen Foren, vielleicht auch in Wohnzimmerdebatten… mal sehen. Die Kampagne wird in die diakonischen Verbände und Einrichtungen hineinsickern, aber hoffentlich auch in Kirchengemeinden und Kommunen. Zuhören ist nur ein erster Schritt auf dem Weg zur Veränderung. Aber erst wenn wir einander zuhören lernen und das Streiten nicht scheuen, teilen wir wieder eine Wirklichkeit. Danach können wir gemeinsam nach Lösungen suchen. Dafür braucht es die unerhört Anderen. Und für diese Einsicht steht Diakonie. 

Ulrich Lilie (für zeitzeichen)


Ulrich Lilie ist Präsident der Diakonie Deutschland.