Vor 75 Jahren: Gründung der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) im hessischen Treysa
Nach hitzigen Debatten gelang den rund 120 Kirchenvertretern trotz unterschiedlicher Konzepte ein Kompromiss
Treysa/Hannover (epd). Mit einem leisen Klick öffnet Direktor Maik Dietrich-Gibhardt die schwere Holztür zu dem historischen Ort. Eine Metalltafel gleich links davor erläutert, was hier im Saal der Hephata-Kirche im nordhessischen Treysa vor genau 75 Jahren geschah: 120 Männer aus 28 Landeskirchen wagten drei Monate nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs einen Neuanfang und gründeten mitten in einem zertrümmerten Land die Evangelische Kirche in Deutschland (EKD). „Das macht uns schon stolz“, sagt Dietrich-Gibhardt (55), seit sechs Jahren Leiter des hessischen Diakoniezentrums „Hephata“: „Als Gründungsort der EKD hat Treysa eine bleibende Bedeutung.“
Die Chronik des Zentrums gibt noch Einblick in die Ereignisse von damals. „Die Zahl der Teilnehmer wuchs ständig“, notierte der frühere Hephata-Direktor Friedrich Happich (1883-1951) in kursiver Schreibmaschinenschrift. Nur 47 Teilnehmer hatte der württembergische Landesbischof Theophil Wurm (1868-1953) für die Konferenz vom 27. bis 31. August angemeldet – am Ende musste die Einrichtung einschließlich der Tagesgäste bis zu 140 Herren in abgenutzten Anzügen beherbergen und verköstigen.
Rucksäcke voller Kartoffeln und Wurststücke
„Es gab gekochte Kartoffeln mit einer dünnen Fleischsoße, dazu eingelegte rote Beete und Pfefferminztee“, notierte der amerikanische Pastor Stewart Herman (1909-2006), der als Beobachter teilnahm. „Viele Delegierte brachten Rucksäcke voller Kartoffeln und Wurststücke mit.“
Alle Teilnehmer waren sich einig, dass nach der NS-Zeit eine neue Dachorganisation an die Stelle der 1933 gegründeten, staatsfixierten „Deutschen Evangelischen Kirche“ treten musste. Doch sie trugen Konzepte im Gepäck, die unterschiedlicher kaum sein konnten, wie der Münchner Kirchenhistoriker Harry Oelke erläutert.
So strebte Bischof Hans Meiser (1881-1956) aus München eine Konfessionskirche der Lutheraner an, in der die reformierten und unierten Protestanten nur am Rande vorkommen sollten. Martin Niemöller (1892-1984) dagegen, in der NS-Zeit Symbolfigur der kirchlichen Opposition gegen Hitler, plädierte für eine „Kirche von unten“: Von den Gemeinden her sollte sie sich aufbauen und ihre Schuld am Nazi-Unheil bekennen.
„Vulkan“ und „Eisberg“ auf Kollisionskurs
Immer wieder gerieten der „Vulkan“ genannte Niemöller und der „Eisberg“ Meiser im Kirchsaal von „Hephata“ aneinander. „Sie haben es kaum zusammen in einem Raum ausgehalten“, sagt Oelke. Die Konferenz drohte zeitweilig zu platzen.
Dass es nicht dazu kam, ist zum großen Teil dem Stuttgarter Bischof Wurm zu verdanken. Wurm galt wegen seines Protests gegen das Euthanasie-Programm der Nazis zur Tötung geistig behinderter Menschen als moralische Autorität. Seit 1941 verfolgte er ein kirchliches Einigungswerk: Er wollte die zerstrittenen Gruppen der kirchlichen Opposition zusammenführen. „Er hatte Charisma, ihm traute man das zu.“
Nach hitzigen Diskussionen einigten sich die Kirchenvertreter in Treysa auf einen Kompromiss: die Vorläufige Ordnung für die Evangelische Kirche in Deutschland (EKD). Darin wird die Eigenständigkeit der Landeskirchen betont. Auch auf ein eigenes Bekenntnis verzichtet die EKD. Sie soll in erster Linie die Interessen der Kirche nach außen vertreten und ihre politische und soziale Verantwortung wahrnehmen – unter anderem durch das neu gegründete Evangelische Hilfswerk, das sich um Flüchtlinge und Vertriebene kümmern sollte.
Eine Lektion aus den Erfahrungen der NS-Zeit war die neue Leitungsstruktur mit einem zunächst zwölf Personen umfassenden Rat aus Theologen und Laien an der Spitze. Erster EKD-Ratsvorsitzender wurde Wurm, sein Stellvertreter Niemöller. In den Rat rückte auch der Jurist und spätere Bundespräsident Gustav Heinemann (1899-1976).
„Eine erstaunlich wetterfeste Baracke“
Die Debatten in Treysa sollen so turbulent verlaufen sein, dass einige Delegierte zwischendurch den Saal verließen. Der sonst so besonnene Wurm soll mit der Faust auf den Tisch geschlagen haben. Keiner war mit dem Ergebnis zufrieden, alle Lager mussten Federn lassen. Doch die Einigung stand. Beobachter haben es als „Wunder“ gewertet, dass sie überhaupt zustande kam. „Es war eine sehr pragmatische Entscheidung, die der Situation gerecht wurde“, bilanziert Oelke. Der heutige EKD-Ratsvorsitzende Heinrich Bedford-Strohm sagte über die Gründung: „Errichtet wurde kein stolzer Dom, sondern eher eine Baracke – aber eine erstaunlich wetterfeste.“
Die Konferenz hatte weitreichende Folgen: Im Oktober 1945 bekannten die Protestanten in der Stuttgarter Erklärung ihre Mitschuld am Nazi-Unheil: „Wir klagen uns an, dass wir nicht mutiger bekannt, nicht treuer gebetet, nicht fröhlicher geglaubt und nicht brennender geliebt haben.“ Dieses Bekenntnis ebnete dem deutschen Protestantismus den Weg zurück in die weltweite Gemeinschaft der Kirchen. 1948 entfaltete die junge EKD in Eisenach die Ergebnisse von Treysa in ihrer Grundordnung und nahm endgültig Gestalt an.
Heute gehören der EKD mit ihrem Kirchenamt in Hannover 20 Landeskirchen mit insgesamt rund 20,7 Millionen Protestanten an. Doch sie verliert seit Jahren an Mitgliedern. Bedford-Strohm betont daher: „Wir müssen raus – dahin, wo sich der Alltag der Menschen abspielt. Und müssen hören, was die Menschen wirklich suchen und brauchen, um Kraft und Orientierung in ihrem Leben zu bekommen.“
Michael Grau (epd)