Welches Bild von Gemeinde leitet uns? - Referat zum biblisch-theologischen Schwerpunkt
Wolfgang Huber
anläßlich der Landessynode der Ev. Kirche in Berlin-Brandenburg
1.
Im April 2000 umfasst unsere Landeskirchen 1688 Gemeinden. Von ihnen lagen 230 in Berlin und 1458 in Brandenburg. Von diesen 1458 brandenburgischen Gemeinden hatten 913 weniger als 200 Gemeindeglieder, davon 511 weniger als 100 Gemeindeglieder. Jetzt, im Herbst 2001, zählen wir noch 1559 Gemeinden. Von ihnen liegen 213 in Berlin, 1329 in Brandenburg. Von den 1329 brandenburgischen Gemeinden haben nun noch 791 weniger als 200 Gemeindeglieder, davon 434 weniger als 100 Gemeindeglieder. Diese Veränderung innerhalb von achtzehn Monaten zeigt, dass sich die äußere Strukturveränderung auf der Ebene der Gemeinden beschleunigt hat. Nachdem wir in den letzten Jahren besonderes Gewicht auf Strukturfragen der Kirchenkreise gelegt haben, liegt es nahe, dass Vergleichbares nun auch auf der Ebene der Gemeinden geschieht.
Doch dabei reicht die Konzentration auf Strukturfragen nicht aus. Es wäre auch ein Trugschluss sich vorzustellen, dass Gemeindefusionen als solche bereits ein probates Heilmittel sind. Entscheidend ist vielmehr die Frage, worin die Aufgabe einer Gemeinde bestehen, und dann zu fragen, in welchen Strukturen diese Aufgaben von welchen Menschen und mit welchen Mitteln wahrgenommen werden.
Auf die so gestellte Frage kann es zunächst nur eine theologische, genauer: eine geistliche Auskunft geben. Ich sehe diese Auskunft in ihrem Kern so: Gemeinde bildet und ereignet sich dort, wo Menschen miteinander auf das schöpferische Ja Gottes mit ihrem Amen antworten. Mit dieser Auskunft folge ich einem Hinweis des Apostels Paulus, bei dem es heißt: „Denn der Sohn Gottes, Jesus Christus, der unter euch durch uns gepredigt worden ist, ... der war nicht Ja und Nein, sondern es war Ja in ihm. Denn auf alle Gottesverheißungen ist in ihm das Ja; darum sprechen wir auch durch ihn das Amen, Gott zum Lobe“ (2.Kor.1,19f.).Diese Bewegung vom göttlichen Ja zum menschlichen Amen beschreibt Paulus auch als die Entsprechung zwischen dem Versöhnungswerk Gottes in Christus und dem Versöhnungsdienst der Gemeinde: „Gott war in Christus und versöhnte die Welt mit sich selber und rechnete ihnen ihre Sünden nicht zu und hat unter uns aufgerichtet das Wort von der Versöhnung. So sind wir nun Botschafter an Christi Statt, denn Gott ermahnt durch uns; so bitten wir nun an Christi Statt: Lasst euch versöhnen mit Gott“ (2.Kor.5,19f.).
Das schöpferische und versöhnende Ja Gottes weiterzusagen, ist der ganzen Gemeinde aufgetragen. Damit es verlässlich und öffentlich geschieht, ist in ihr das Amt der öffentlichen Wortverkündigung und der Verwaltung der Sakramente auf besondere Weise geordnet. Auf dies so geordnete Grundgeschehen der Gemeinde hat die Reformation sich in ihrer Bestimmung des Begriffs der Gemeinde konzentriert, die sie als Versammlung der Glaubenden versteht, in welcher das Evangelium recht verkündigt und die Sakramente dem Evangelium gemäß gefeiert werden. Die Reformation hat konsequent den Begriff der Kirche insgesamt von der um Gottes Wort und Sakrament versammelten Gemeinde her entworfen. Luther hat in seiner Bibelübersetzung das neutestamentliche Wort ekklesia durchgängig mit „Gemeinde“ wiedergegeben.
Diese Konzentration auf die um Wort und Sakrament versammelte Gemeinde hat neben der strengen theologischen Begründung auch entscheidende empirische Befunde für sich. Denn „die Kirche verfügt nur über ein einziges vollentwickeltes und bewährtes Modell der Kommunikation mit den Mitgliedern, das der örtlichen Gemeinde, dessen organisierendes Zentrum der sonntägliche Gottesdienst ist“ (Hild, Wie stabil ist die Kirche? 259f.). Die Konzentration auf die um Wort und Sakrament versammelte Gemeinde bedeutet freilich nicht eine Beschränkung auf sie; und der Befund, dass der sonntägliche Gottesdienst der Ortsgemeinde das am besten entwickelte Kommunikationsinstrument der Kirche ist, bedeutet nicht, dass er das einzige Kommunikationsinstrument darstellt oder das einzige bleiben muss. Aber die Zusammengehörigkeit von Menschen innerhalb einer Wohnregion und die Nutzung des Wochenrhythmus dergestalt, dass der Sonntag als Gottesdiensttag ausgezeichnet ist, werden ein Grundmodell gemeindlicher Kommunikation bleiben. Bei aller Unterschiedlichkeit der Gemeindeformen wird deshalb die Ortsgemeinde auch in Zukunft eine herausgehobene Bedeutung behalten. Und bei allem Gewicht von Veranstaltungen während der Woche wird auch der Sonntagsgottesdienst das Ereignis bleiben, an dem man in erster Linie die Präsenz und Vitalität einer Gemeinde messen wird.
Aber darum herum rankt sich ein Kranz wichtiger Aufgaben und Veranstaltungen. Ihre Anzahl und ihre Gestalt variieren von Gemeinde zu Gemeinde und unterscheiden sich in Stadt und Land. Aber bestimmte Grundaufgaben lassen sich doch nennen: Unter einer Gemeinde vestehen wir nicht nur eine Gemeinschaft von Christinnen und Christen an einem Ort oder in einer Region, die miteinander Gottesdienst feiern; sondern wir sehen in ihr auch eine Gemeinschaft, in der Kinder und Jugendliche im Glauben heranwachsen, die sich in Diakonie und Seelsorge ihren Mitmenschen zuwendet und die in ihrem Umfeld das Evangelium missionarisch weitergibt. Wir verstehen die christliche Gemeinde also als eine Gemeinschaft, die in ihrem Bereich das Evangelium in Gottesdienst und Unterweisung, in Diakonie und Seelsorge sowie im missionarischen Dienst bezeugt.
Ob Gemeinden in ihrer Praxis einem solchen Leitbild entsprechen, ist nicht allein eine Frage der zahlenmäßigen Größe. Und es entscheidet sich auch nicht allein an der Anzahl beruflicher Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. Aber in beiden Hinsichten gibt es eine kritische Grenze, unterhalb deren sich die genannten Aufgaben nicht mehr eigenständig wahrnehmen lassen. Es gibt auch eine kritische Grenze, unterhalb deren die Verwaltungs- und Leitungsaufgaben in einer Gemeinde nicht mehr gut eigenständig wahrgenommen werden können. Aus solchen Erfahrungen werden in unserer Kirche neuerdings verstärkt organisatorische Konsequenzen gezogen. Aber noch einmal: Solche organisatorischen Schritte allein genügen nicht. Sie können zu Enttäuschungen führen, wenn sie nicht inhaltlich gefüllt sind mit einem Bild, einem Leitbild von Gemeinde, für das sich auch ein neues Engagement lohnt. Denn organisatorische Neuanfänge enthalten immer auch die Chance zu einem inhaltlichen Neubeginn.
Nun kann ein Referat nicht ein neues Leitbild für die Gemeinden unserer Kirche entwickeln. Das geht schon deshalb nicht, weil sie von ihrer Geschichte, ihrer Einbettung in das jeweilige Umfeld, ihrer besonderen Prägung oder ihren geistlichen Schwerpunkten her zu unterschiedlich sind, als dass sie sich einem einzigen Leitbild fügen würden. Wir werden mit einer Vielzahl solcher Leitbilder zu rechnen haben. Aber wir sollten über sie im Austausch bleiben; und wir sollten uns davor hüten, dass unsere Kirche einfach in unterschiedliche „Richtungsgemeinden“ auseinanderfällt.
Es ist deshalb wichtig, dass die neutestamentlichen Vorstellungen von der christlichen Gemeinde unser gemeinsamer Maßstab bleiben. Darum frage ich in einem zweiten Schritt nach diesen neutestamentlichen Vorstellungen, nach den Bildern des Neuen Testaments für die Gemeinde.
2.
Das Neue Testament beschreibt das Grundgeschehen der Gemeinde mit einander ergänzenden Bildern. Vier derartige Bilder haben in meinen Augen eine vorrangige Bedeutung:
Die Gemeinde als Gemeinschaft. Das Urbild für die Gemeinschaft der Glaubenden ist die Tischgemeinschaft Jesu. Diejenigen, die mit ihm in Galiläa umherziehen, finden sich mit Gastgebern, die ihnen ein Gastmahl geben, und mit hinzukommenden Leuten von zum Teil höchst anrüchigem Charakter zu einer improvisierten Gemeinschaft zusammen. Zu dieser Gemeinschaft gehören also vereinfacht gesprochen drei Gruppen: Jesu Jünger, seine Sympathisantinnen und Sympathisanten sowie die Ausgegrenzten und Verlassenen. Eine Gemeinschaft im Namen Jesu ist das gerade dadurch, dass sich hier alles drei findet: diejenigen, die alles verlassen, um Jesus nachzufolgen, diejenigen, die Haus und Hof behalten und gerade so Jesus und die Seinen aufzunehmen vermögen, und die Ausgeschlossenen, die durch Jesus erst in eine Gemeinschaft einbezogen werden.
Was in der Tischgemeinschaft Jesu begründet ist, wird durch sein letztes Mahl bekräftigt und in jedem Abendmahl erneuert. In der „Nacht des Verrats“ wurde Jesu letztes Mahl gefeiert. Zeichenhaft wurde vorweggenommen – und zeichenhaft wird in jedem Abendmahl vergegenwärtigt - , dass Jesus sich nicht nur für einen inneren Kreis dahingegeben hat, sondern dass er sein Leben „für die vielen“ gelassen hat. Die Gemeinschaft um den Tisch Jesu Christi ist deshalb eine Gemeinschaft, die sich nicht abschließt, sondern denen zuwendet, die solche Zuwendung besonders dringend brauchen.
Doch die Gemeinschaft, die durch das Abendmahl begründet wird, ist gerade nicht eine selbstgenügsame Zusammengehörigkeit einer Gruppe von Menschen. Vielmehr ist es konstitutiv eine Gemeinschaft mit Jesus Christus selbst. Dieses Bild von der Gemeinschaft hat seinen Grund im Geschehen des Abendmahls: „Der gesegnete Kelch, den wir segnen, ist der nicht die Gemeinschaft des Blutes Christi? Das Brot, das wir brechen, ist das nicht die Gemeinschaft des Leibes Christi?“ (1.Kor.10,16) Die sakramentale Gemeinschaft bildet die Grundlage für den besonderen Charakter, den das Miteinander in der Gemeinde nach der paulinischen Auffassung tragen soll. Programmatisch heißt es gleich zu Beginn des 1. Korintherbriefs: „Gott ist treu, durch den ihr berufen seid zur Gemeinschaft seines Sohnes Jesus Christus, unseres Herrn. Ich ermahne euch aber ... im Namen unseres Herrn Jesus Christus, dass ihr alle mit einer Stimme redet und lasst keine Spaltungen unter euch sein, sondern haltet aneinander fest in einem Sinn und in einer Meinung“ (1.Kor.1,9-10).
Was Paulus „Gemeinschaft“ – koinonia – nennt, ist freilich weder auf die Einigkeit im „Sinn“ und in der „Meinung“ noch auf den Zusammenhalt lediglich der Gemeinde vor Ort beschränkt. Es waren vor allem die Auseinandersetzungen mit den Vertretern der Jerusalemer Urgemeinde, die dem Apostel der Heiden Klarheit darüber verschafften, dass der christliche Glaube Gemeinschaft nicht nur in der einzelnen Gemeinde vor Ort, sondern auch zwischen den Gemeinden schafft. Paulus ist auf diese Weise zum Urheber der These geworden, dass die Einzelgemeinde und die Gemeinschaft der Gemeinden gleich ursprünglich und von gleicher Bedeutung sind. Was wir heute „Kirche“ einerseits, „Gemeinde“ andererseits nennen, hat er deshalb mit dem gleichen Wort – ekklesia – bezeichnet. Und gerade in ihrem die verschiedenen Gemeinden verbindenden Charakter hat die Gemeinschaft der Kirche keineswegs nur einen spirituellen Charakter. Sie prägt sich vielmehr materiell aus. Das Wort koinonia kann Paulus deshalb auch unmittelbar für die Kollekte der von ihm gegründeten Gemeinden zu Gunsten der Gemeinde in Jerusalem verwenden: Die gemeinsame Gabe ist Ausdruck und Unterpfand der Gemeinschaft, in welcher die Christen an verschiedenen Orten miteinander verbunden sind (vgl. Rm 15,26f.).
Was schon bei Paulus als Kennzeichen der Gemeinschaft zwischen den Gemeinden angesehen wird, kehrt in der Apostelgeschichte als Kennzeichen der einzelnen Gemeinde wieder. Koinonia, Gemeinschaft, ist ja ursprünglich auch gar kein religiöser Begriff, sondern bezeichnet „gemeinschaftliches Teilen, gemeinschaftliche Unternehmungen und insbesondere rechtliche Beziehungen“ (Sampley). Diese höchst weltliche und handfeste Bedeutung von „Gemeinschaft“ zeigt sich in den zusammenfassenden Beschreibungen, die sich in der Apostelgeschichte über den Lebensstil der frühen christlichen Gemeinde finden: Die Gläubigen „blieben aber beständig in der Lehre der Apostel und in der Gemeinschaft und im Brotbrechen und im Gebet. ... Alle aber, die gläubig geworden waren, waren beieinander und hatten alle Dinge gemeinsam. Sie verkauften Güter und Habe und teilten sie aus unter alle, je nachdem es einer nötig hatte“ (Apg.2,42-45). „Die Menge der Gläubigen aber war ein Herz und eine Seele; Auch nicht einer sagte von seinen Gütern, dass sie sein wären, sondern es war ihnen alles gemeinsam. ... Es war auch keiner unter ihnen, der Mangel hatte“ (Apg.4,32.34).
Dass eine solche Handlungsweise sich in einer Minderheitsgemeinde leichter ausbilden kann als in einer Mehrheitsgemeinde, braucht uns jetzt ebenso wenig zu beschäftigen wie die Frage, inwieweit die Darstellung des Lukas, nach welcher es soziale Probleme in der frühen christlichen Gemeinde schlechterdings nicht mehr gab, eine Idealisierung darstellt. Entscheidend ist die Bodenhaftung, die er dem Begriff der Gemeinschaft verleiht. Diese Bodenhaftung bleibt auch in der nachneutestamentlichen Zeit erhalten. „Du sollst an allem deinem Nächsten Anteil geben und nicht sagen, dass es dein Eigentum sei“ heißt es in einem frühen christlichen Text (Barnabas 19,8). Nahezu wörtlich taucht diese Wendung auch in einer anderen Quelle wieder, nun aber mit dem Zusatz: „Wenn ihr nämlich Gemeinschaft im Unsterblichen habt, um wie viel mehr im Sterblichen!“ (Didache 4,8).
Gemeinsame Teilhabe am himmlischen Heil und deshalb Teilen der irdischen Güter: so etwa lässt sich das Bild von der Gemeinde als Gemeinschaft zusammenfassen. Es ist uns, so vermute ich, unter den neutestamentlichen Bildern für die Gemeinde eher fern gerückt – so oft wir auch von Gemeinschaft sprechen. Allen Beteuerungen über die notwendige Glaubwürdigkeit der kirchlichen Gemeinschaftsgestalt zum Trotz ist unsere Vorstellung von Gemeinschaft, gemessen am Neuen Testament, in hohem Maß spiritualisiert. Auch die Impulse, die wir in den letzten Jahrzehnten aus Basisgemeinden in der Dritten Welt oder aus vereinzelten „Integrierten Gemeinden“ in Europa empfangen haben, vermochten daran nichts Grundsätzliches zu ändern. In den letzten Jahren freilich hat „Gemeinschaft“ (koinonia) als Leitbegriff des Kirchenverständnisses wieder an Bedeutung gewonnen. Dann wird man auch die materielle Seite an diesem Leitbegriff wieder ebenso ernst nehmen müssen wie die Tatsache, die sich an der Tischgemeinschaft Jesu so deutlich ablesen lässt: dass es sich um eine Gemeinschaft der Verschiedenen handelt, der Jüngerinnen und Jünger, der Sympathisantinnen und Sympathisanten, der Ausgeschlossenen und an den Rand Geratenen.
Die Gemeinde als Leib Christi. Die christliche Gemeinde wird im Neuen Testament auch mit einem funktionierenden Organismus, mit einem Leib verglichen. Erneut ist der Apostel Paulus prägend. Er übernimmt dieses Bild aus der weltlichen Redeweise seiner Zeit. Das politische Gemeinwesen und andere Gemeinschaften hat man sich in der Antike als „Organismus“ und deshalb als „Leib“ vorgestellt. Paulus aber redet vom „Leib Christi“ und betont dadurch auch in diesem Zusammenhang, dass die Glaubenden nicht nur untereinander, sondern vor allem anderen mit Christus, ihrem gekreuzigten und auferstandenen Herrn, verbunden sind.
Die Stärke des Bildes vom Leib Christi liegt in einer Doppelaussage: Die einzelnen Glieder können ihre Funktion nur ausüben, so lange sie Teil des Ganzen bleiben. Und: Als Teil des Ganzen haben sie eine jeweils spezifische, aber grundsätzlich gleichrangige Bedeutung. Mit ungewöhnlicher Radikalität hat Paulus diese Gleichrangigkeit zum Ausdruck gebracht. „Hier ist nicht Jude noch Grieche, hier ist nicht Sklave noch Freier, hier ist nicht Mann noch Frau; denn ihr seid allesamt einer in Christus Jesus“ (Gal.3,28). Und ebenso radikal hat er die Verschiedenheit der Gaben und Funktionen beschrieben, die den einzelnen Gliedern zukommen. Dabei hat er fest umrissene Daueraufgaben – also „Ämter“ – genauso im Blick gehabt wie spontane Handlungen, die sich aller Reglementierung entziehen – das Reden in Zungen oder die Heilung von Kranken beispielsweise. Die einen wie die andern haben ihren einzigen Maßstab daran, ob sie die Gemeinde aufbauen. Sie alle sind deshalb daran zu messen, ob sie sich vom Geist Gottes in seinen Dienst nehmen lassen (vgl. Rm. 12 und 1.Kor.12).
Das paulinische Bild von der Gemeinde als dem Leib Christi ist in der Geschichte der Kirche immer wieder gegen Verkrustungen der kirchlichen Strukturen mobilisiert worden. Im reformatorischen Kirchenverständnis hat es vor allem in der Vorstellung vom allgemeinen Priestertum der Getauften Ausdruck gefunden – in der Vorstellung also, dass die allgemeine Ordination durch die Taufe der besonderen Ordination zur öffentlichen Verkündigung des Evangeliums und zur Verwaltung der Sakramente vorgeordnet ist. Deshalb kann auch nach reformatorischer Vorstellung die Ordination zum besonderen Amt die Vielfalt der Charismen nicht einschränken. Das Amt in der Kirche soll vielmehr den Charismen zur Entfaltung verhelfen; es soll dazu beitragen, dass sie dem Aufbau der Gemeinde zugute kommen. Deshalb und allein in diesem Sinn hat das Amt in der Kirche über seinen Verkündigungsauftrag hinaus einen ordnenden, kybernetischen, auf die Entfaltung der Gaben in der Gemeinde gerichteten Auftrag.
So gern der Apostel Paulus in den Kirchen der Reformation zitiert wird: mit seinem Bild von der Gemeinde tun wir uns immer wieder schwer. Aber in der Anknüpfung an ihn liegt auch in dieser Hinsicht die besondere Chance, ja die unverwechselbare Möglichkeit der evangelischen Kirche. Freilich hat das zur Voraussetzung, dass wir uns in der bloßen Betreuungsmentalität niemals einnisten und nicht aufhören, den Gaben in der Gemeinde auf der Spur zu sein.
Die Gemeinde als Volk Gottes. Dieses Bild verdeutlicht auf besondere Weise den Zusammenhang der Gemeinde Christi mit dem Volk Israel, mit Gottes Bundesvolk. Davon, dass Gott das Volk der Abrahamsverheißung „heimgesucht“ habe, ist im Lukasevangelium mehrfach im Zusammenhang der Jesusgeschichte die Rede (Lk.1,68.78;7,16). Der Vorstellung, Gott habe das Volk seiner ursprünglichen Erwählung verworfen, widerspricht Paulus ausdrücklich (Rm.11,1).Aber er sieht neue Konturen darin, dass auch die Heiden in die Verheißung des göttlichen Bundes hineingenommen werden. Die göttliche Erwählung ist nicht mehr an eine bestimmte Nationalität gebunden, sondern erstreckt sich auf alle, die durch Glaube und Taufe in „das heilige Volk, das Volk des Eigentums“ einbezogen sind (1.Petr.2,9).
Eine besondere Bedeutung dieser Vorstellung von der Gemeinde als Volk liegt in der Symbolik der Wanderschaft. Die Gemeinde Jesu Christi ist als sein Volk unterwegs; sie hat hier „keine bleibende Statt“ (Hebr.13,14); die endgültige Ruhe ist ihr erst verheißen (Hebr.4,9). Anfechtungen auf dieser Wanderschaft sind zu ertragen; denn sie haben keine letzte Bedeutung.
Vor allem aber hat die Gemeinde als Volk Gottes einen missionarischen Auftrag. Denn „alle Völker“ sollen zu Jüngern gemacht werden (Mt.28,19ff.). Schon im Alten Testament begegnet die Vorstellung, dass alle Völker zum Tempel Gottes laufen (Mi.4,1ff.). Dieser Gedanke wird darin aufgenommen, dass das eine Volk Gottes gerade nicht auf eine Nationalität beschränkt ist, sondern ein Volk aus allen Völkern darstellt. Kein anderes neutestamentliches Bild für die Gemeinde hat deshalb auch das ökumenische Denken so stark angeregt wie diese Vorstellung vom „wandernden Gottesvolk“.
Insbesondere ist die Bedeutung des II. Vatikanischen Konzils der römisch-katholischen Kirche für unser Thema in allererster Linie darin zu sehen, dass es das Verständnis der Kirche vom Volk-Gottes-Gedanken aus erneuert hat. Das hat entscheidend dazu beigetragen, ein zentralistisches Kirchenbild zu korrigieren und auch im katholischen Denken über die Kirche die Vorstellung zu verankern, dass in jeder Gemeinde das Ganze der Kirche präsent ist. Aber zugleich muss man sagen: Über die jeweilige gemeindliche Wirklichkeit weist das Bild vom Volk Gottes immer auch deutlich hinaus. Zu unseren gemeindlichen Gewohnheiten, die ganz besonders an der Sesshaftigkeit der Gemeinde hängen, bildet die Vorstellung vom wandernden Gottesvolk ein notwendiges, aber auch ein unbequemes Gegenbild.
Die Gemeinde als Haus der lebendigen Steine. Räumliche Vorstellungen legen sich als Bild für die Gemeinde nahe; das Bild vom „Tempel“ drängt sich auf (1.Kor.3,16f.; 2.Kor.6,16ff.). Es erfährt allerdings in der frühen Christenheit eine wichtige, ja eine spannende Verwandlung. Der 1. Petrusbrief spricht von der Gemeinde als einem „geistlichen Haus“, das aus den Gläubigen aufgebaut wird, die „lebendige Steine“ genannt werden. Dieses Bild ist mit dem vom Leib Christi nahe verwandt. Auch jeder einzelne der „lebendigen Steine“ ist für das Haus im Ganzen, für seinen Aufbau und für seine Statik ganz unentbehrlich.
Auch der 1. Petrusbrief hat eine plastische Vorstellung von der Vielfalt dieser Gaben; ausdrücklich fordert er dazu auf, sie in den Dienst am Nächsten zu stellen: „Dient einander, ein jeder mit der Gabe, die er empfangen hat, als die guten Haushalter der mancherlei – wörtlich: der bunten – Gnade Gottes“ (1.Petr.4,10). Spannend freilich ist, dass der Verfasser dieses Briefes die Vielfalt der Gaben, der Ausdrucksformen für Gottes bunte Gnade auf zwei grundlegende, aber gleichberechtigte Aufgaben zurückführt: auf das Reden und das Dienen, auf die Predigt und die Nächstenliebe – mit Dietrich Bonhoeffer könnte man auch sagen: auf das Beten und das Tun des Gerechten unter den Menschen.
Welches dieser vier Bilder spricht uns heute besonders an – die Vorstellung von der Gemeinde als Gemeinschaft, in der spirituelle Nahrung genauso geteilt wird wie das tägliche Brot, das Bild vom Leib Christi, in dem die Zugehörigkeit zu Christus eine radikale Gleichberechtigung der verschiedenen Begabungen begründet, das Bild vom Volk Gottes, das in besonderer Weise mit Israel verbunden und zugleich missionarisch an alles Volk und an alle Völker gewiesen ist, oder schließlich das Bild vom dem geistlichen Haus, das aus lebendigen Steinen erbaut wird – durch Reden und Dienen, durch Beten und das Tun des Gerechten? Es ist nicht leicht, sich zwischen diesen vier Bildern zu entscheiden. Sie werden im Neuen Testament auch nicht alternativ gegeneinander gestellt. Ich gebe zu, dass das unbekannteste dieser vier Bilder auf mich eine wachsende Anziehungskraft ausübt: Die Gemeinde als ein geistliches Haus trägt einen anderen Charakter als alle anderen Gemeinschaften, so ähnlich sie ihnen auch in vielem sein mag. Dass wir durch unsere Lebendigkeit – so, wie wir sind, mit dem, was wir können – zum Bau dieses geistlichen Hauses, zur „Auferbauung“ oder auch nur „Erbauung“ der Gemeinde beitragen können, ist ein notwendiges Gegengewicht gegen den mutlosen Einspruch: Ich kann das nicht, mir fehlt die Zeit.
Überhaupt ist allen neutestamentlichen Bildern von der Gemeinde gemeinsam, dass sie das besonders hoch schätzen, was wir heute das Ehrenamt nennen. Zwar kann das Neue Testament von der Verkündigung der Christusbotschaft gar nicht hoch genug reden; das Amt, das die Versöhnung predigt, wird insofern ausreichend gewürdigt. Aber die vielfältigen Charismen, die unterschiedlichen Gaben, in denen sich Gottes bunte Gnade Ausdruck verschafft, werden wieder und wieder mit besonderer Liebe hervorgehoben. Wir sind damit beim Kern dessen, was auch heute ansteht: dass wir das Amt, das die Versöhnung predigt, hoch schätzen und die Vielfalt der Begabungen, die in eine Gemeinde eingebracht werden, zugleich mit besonderer Liebe hervorheben.
3.
Natürlich gibt es auch andere Bilder für die Gemeinde als die vier neutestamentlichen Bilder, an denen ich mich gerade orientiert habe. Auch schon ein Kind von sieben Jahren, so hat Luther behauptet, kenne diese Bilder. Und ihm selbst kam dabei vor allem das Bild von den Schafen, die ihres Hirten Stimme hören, in den Sinn. Freilich hat er bei dem Hirten weniger den Pastor, sondern stärker den Herrn im Blick gehabt, von dem der Psalm sagt, er sei „mein Hirte“. In den letzten Jahrzehnten haben wir uns immer wieder an den Bildern der Bergpredigt orientiert – dem Bild von der Stadt auf dem Berg, vom Licht der Welt, vom Salz der Erde - , um daran den Öffentlichkeitsauftrag der Gemeinde zu verdeutlichen. Das bleibt wichtig – wie überhaupt die Provokation der Bergpredigt in der Düsternis, in der wir heute leben, für notwendige Klarheit sorgt. Aber wenn wir nach der inneren Verfassung der Gemeinde fragen, die als Stadt auf dem Berg, als Licht der Welt, als Salz der Erde wirksam werden soll, dann stoßen wir im Neuen Testament vor allem auf die vier Bilder, die ich Ihnen vorgestellt habe.
Sie sind ermutigend und inspirierend; sie sind geeignet, unsere gewohnten und eingelebten Vorstellungen von der Gemeinde ganz schön durcheinander zu bringen. Aber es ergibt sich aus ihnen natürlich nicht in einem unmittelbaren Sinn ein Handlungskonzept. Aus keinem dieser Bilder lässt sich einfach ablesen und ableiten, wie wir nun unsere Gemeinden umgestalten, wie wir mit den Schwierigkeiten der Gemeindeorganisation in Stadt und Land umgehen oder wie wir gar Gemeindefusionen theologisch beurteilen sollen. Um solche Fragen zu beantworten, müssen wir die biblische Inspiration und die tägliche Erfahrung, müssen wir die Wirklichkeit der biblischen Verheißung und die Wirklichkeit unserer kirchlichen Tatsachen miteinander verknüpfen. Dafür will ich einige zusätzliche Orientierungshilfen geben.
Gemeinde und Kirche. Die Frage nach dem Verhältnis von Kirche und Gemeinde ist eine besondere Crux des evangelischen Kirchenverständnisses. Das Neue Testament fasst beide unter dem Begriff der ekklesia. Luther hat, um den ihm wichtigen theologischen Akzent deutlich zu setzen, dieses biblische Wort immer mit „Gemeinde“ übersetzt und das „blinde, undeutliche Wort ‚Kirche’“ dahinter zurücktreten lassen. Die Kollekte des Paulus für die Gemeinde in Jerusalem ist der denkbar handfesteste Beleg für die Komplementarität, also für das notwendige Ergänzungsverhältnis zwischen Gemeinde und Kirche, zwischen der Gemeinde vor Ort und der Gemeinschaft der Gemeinden, die durch gemeinsames Bekenntnis und gemeinsame Ordnung sowie regionale Verbundenheit zusammengehören. Diese Komplementarität findet übrigens auch darin einen praktischen Ausdruck, dass die Aufgabe, der ökumenischen Gemeinschaft Gestalt zu geben, sich auf beiden Seiten stellt: im Bereich der einzelnen Gemeinde ebenso wie im Bereich der Gesamtkirche.
In der Kirchengeschichte beobachten wir immer wieder die Gefahr, diese Komplementarität, dieses notwendige Ergänzungsverhältnis zwischen Gemeinde und Kirche nach der einen oder der anderen Seite hin aufzulösen. Auf der einen Seite gibt es die universalistischen oder zentralistischen Vorstellungen von der Kirche, wie sie für die katholische Kirche vor allem zwischen dem Ersten und den Zweiten Vatikanischen Konzil (also zwischen 1870 und 1965) kennzeichnend waren. Der Vorrang der römisch-katholischen Weltkirche vor den Ortsgemeinden wird auch heute wieder – vor allem durch Kardinal Ratzinger – betont. Wo immer das geschieht, besteht die Gefahr, dass die einzelne Gemeinde nicht mehr ist als die Filiale eines kirchlichen Konzerns. Aber man muss deutlich sagen: Die epochale Bedeutung der letzten vierzig Jahre für die katholische Kirche besteht in der Entdeckung der Gemeinde, die von sich sagen kann: „Wir sind an unserem Teil das Ganze“, die freilich zugleich bekennt: „Wir sind das Ganze nur für unser Teil.“
Nicht geringer freilich ist die entgegengesetzte Gefährdung. Sie liegt in den exklusiven und separatistischen Vorstellungen von der Gemeinde. Sie zeigen sich dort, wo die einzelne Gemeinde sich selbst genügt und sich allenfalls noch durch organisatorische und finanzielle Bande mit einem größeren Zusammenhang von Kirche verbunden weiß, aber alle geistlichen Verbindungen gekappt hat. Wo das geschieht, wird die vor Ort versammelte Gemeinde so stark betont, dass eine kirchliche Gemeinschaft mit anderen Gemeinden wie mit der Ökumene als dem einen Volk Gottes praktisch aus dem Blick gerät. Der Verlust an Weite und das Ersticken in der Enge der eigenen Gemeinschaft lauern um die Ecke.
Gegenüber diesen beiden Gefahren gilt es, ein evangelisches Verständnis von Gemeinde festzuhalten und weiterzuentwickeln, das von der notwendigen Zuordnung von Kirche und Gemeinde ausgeht.
Gemeinde und Gruppe. Gerade für den Bereich unserer Kirche hat das Verhältnis zwischen „der Gemeinde“ und „den Gruppen“ immer wieder eine besondere Rolle gespielt. Die Bedeutung dieses Spannungsverhältnisses für den kirchlichen Beitrag zur Wende des Jahres 1989 steht uns allen plastisch vor Augen. Gruppen haben ihrem Wesen nach ein besonderes Thema. Sie wissen sich durch gemeinsame Interessen, durch gemeinsames Alter oder Geschlecht, oft auch durch eine gemeinsame Geschichte miteinander verbunden. Gruppen entwickeln deshalb leicht ein gewisses Maß an Exklusivität. Demgegenüber gehört es zum Wesen der Gemeinde, dass sie für alle Menschen in ihrem Wirkungsbereich da ist, dass sie auf Gottes Ja in öffentlich vernehmbarer Weise ihr Amen sagt, dass sie sich in ihrem Reden und Dienen, in ihrem Beten und in ihrem Tun des Gerechten im Gemeinwesen bemerkbar macht. Das notwendige Spannungsverhältnis zwischen Gemeinde und Gruppe kann in zwei Richtungen hin auf ungute Weise aufgelöst werden. In der einen Richtung wird die Gemeinde im Ganzen zur Gruppe. Der Gemeindegottesdienst wird zur Veranstaltung einer Gruppe Gleichgesinnter, in der Neuankömmlinge nicht heimisch werden. Die Gemeinde wird dann zum Opfer einer Milieuverengung, in der sie ihren Auftrag für alle Menschen, die Öffentlichkeit ihres Gottesdienstes und ihre Mitverantwortung im Gemeinwesen aus dem Blick verliert. Die gegenteilige Gefahr zeigt sich dort, wo die Gemeinde zu einem mehr oder weniger gut geölten Veranstaltungsbetrieb wird, wo die „Gemeinde als Unternehmen“ agiert und Menschen zwar als Empfänger von gemeindlichen Dienstleistungen in den Blick kommen, aber nicht mehr als diejenigen, die von Jesus in die Nachfolge gerufen sind. Konsequenzen aus dem Ruf in die Nachfolge ziehen Menschen aber am ehesten in überschaubaren Gruppen, in denen sie selbst Heimat finden.
Gemeinde und Amt. Auch hier führt die Einsicht in das komplementäre Miteinander von Amt und Gemeinde weiter als das heillose Gegeneinander, in dem diese Frage gerade im evangelischen Bereich manchmal diskutiert wurde. Der reformatorische Kirchentypus zeichnet sich in seiner Eigenständigkeit gerade dadurch aus, dass er auf die Frage nach dem Verhältnis von Amt und Gemeinde eine besondere, nämlich eine in besonderer Weise biblische Antwort gibt. Ich habe das schon als einen gemeinsamen Grundzug der von mir herangezogenen neutestamentlichen Bilder für die Gemeinde hervorgehoben. Der „Dienst der Versöhnung“ ist zunächst und zuvörderst durch die Taufe der ganzen Gemeinde anvertraut. Auch besondere Aufträge haben in der Gemeinde ihren Ort und ihre innere Legitimität darin, dass und inwiefern sie für das Leben der Gemeinde von Bedeutung sind. Das führt freilich gerade nicht in einen Kongregationalismus, also in die Vorstellung von einer organisatorischen und geistlichen Isolierung der Gemeinden voneinander hinein. Denn in jeder Gemeinde wird die Aufgabe wahrgenommen, die der Kirche im Ganzen gestellt ist: zu Gottes schöpferischem Ja das Amen zu sprechen. Einer Gemeinde, die sich so versteht, wird das Predigt- und Trostamt auf besondere Weise wichtig sein; sie wird aber auch darauf beharren, dass im pastoralen Dienst für dieses Amt genügend Spielraum und Bereitschaft bleibt. Aber es wird auch andere Ämter achten und wichtig nehmen. Die reformierte Tradition, die zwischen den vier Ämtern des Pastors, des Lehrers, des Ältesten und des Diakons unterschied, hat dafür einen wichtigen Anstoß gegeben, den unter veränderten Bedingungen weiterzuentwickeln nützlich sein könnte. Denn es ist kein Zweifel, dass sich auch heute im Leben der Gemeinde pastorale, pädagogische, kybernetische und diakonische Aufgaben miteinander verbinden. Vor allem aber entdecken wir die missionarische Aufgabe der Gemeinde neu. Es ist an der Zeit, das auch in der Gestalt und der Struktur der Gemeinde zum Ausdruck zu bringen.
4.
Schon in den bisherigen Überlegungen waren immerzu die praktischen Fragen im Blick, mit denen sich unsere Gemeinden Tag für Tag konfrontiert sehen. Ich verfolge diese praktischen Fragen noch weiter anhand einer einzigen Frage. Sie hat es mit dem Umgang der Gemeinde mit ihren Grenzen zu tun.
Die Gemeinde und die Grenzen ihrer Kräfte. Am offenkundigsten ist, dass Gemeinden immer wieder auf die Grenzen ihrer Kräfte stoßen. Sie sind überaltert oder an Zahl zu gering; sie haben zu wenig Geld und fühlen sich ihren Bauaufgaben nicht gewachsen; sie haben zu wenig Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter und können Aufgaben nicht wahrnehmen, die ihnen wichtig sind. Pfarrerinnen und Pfarrer sind für zu viele Gemeinden (so ist es oft auf dem Land) oder für zu viele Gemeindeglieder (so ist es oft in der Stadt) verantwortlich; sie sehen sich mit einer Fülle von Erwartungen aus der Gemeinde konfrontiert und wissen, dass auch darüber hinaus noch viel zu tun wäre. Die Pflichtaufgaben, die dann oft nur erledigt werden können, sind oft nicht identisch mit den Kernaufgaben, um die Pfarrerinnen und Pfarrer sich in erster Linie kümmern sollten. Ich habe manche Pfarrerinnen und Pfarrer in unserer Kirche getroffen, die darunter gelitten haben, dass sie sich mehr um die Häuser aus Stein kümmern mussten, die ohne ihr Einschreiten Opfer von Regen oder Schwamm geworden wären, als um das geistliche Haus aus lebendigen Steinen, das unsere Kirche sein soll. Aber ich weiß natürlich auch von den anderen, die Bauvorhaben oder ABM-Projekte gern zu einem Schwerpunkt machen, weil man bei diesen Projekten erkennen kann, was gelungen ist und geleistet wurde. Beim Bau des geistlichen Hauses aus lebendigen Steinen ist das viel schwieriger.
Wir dürfen im Umgang mit den Grenzen unserer Kräfte nicht vergessen, dass die Botschaft von der Rechtfertigung allein aus Gnade nicht nur uns als einzelnen Christen, sondern auch unserer Kirche gilt. Wenn die Kirche in unserem Bekenntnis heilig genannt wird, dann nicht, weil sie das von sich aus ist, sondern weil Gott sie so ansieht. Die Botschaft von der Rechtfertigung hat es mit diesem „Ansehen“ Gottes zu tun. Gott sieht uns so an, dass er uns nicht auf unser Misslingen festlegt. Niemand von uns ist mit seinen Leistungen noch mit seinen Fehlleistungen gleichzusetzen. Wir sind mehr, als wir von uns aus können. Das gilt nicht nur für die einzelnen Christen, sondern auch für die Kirche. Keine Gemeinde ist deshalb gezwungen, alles zu können. Keine wird auf ihr Misslingen festgelegt. Wir scheitern nicht an unseren geringen Kräften. Eine Gemeinde, die nicht alle Aufgaben erfüllen kann, von denen unsere Grundordnung spricht, hört nicht auf, Gemeinde Jesu Christi zu sein.
Aber im Licht dieser Zusage liegt es an uns zu tun, was uns möglich ist. Und wo wir es nicht allein können, tun wir uns zusammen. In welcher Form das geschieht, ist eine Frage der Zweckmäßigkeit, nicht des Bekenntnisses. In vielen Fällen hat sich das Zusammenwirken durch Fusion als sinnvoll und hilfreich erwiesen. Aber man muss sich darüber klar sein, dass eine Landgemeinde mit mehreren Dörfern oder eine städtische Gemeinde mit mehreren Predigtstätten etwas anderes ist als eine klassische Ortsgemeinde. Es ist verfehlt, das Modell der Ortsgemeinde einfach auf solche Regionalgemeinden zu übertragen. Und es ist auch verfehlt, den Haupteffekt solcher Zusammenschlüsse in der Verminderung der Zahl der Gottesdienste zu sehen. Denn wir wollen in unserer Kirche nicht weniger Gottesdienste halten, sondern mehr Gottesdienste mit mehr Teilnehmerinnen und Teilnehmern. Sie so zu gestalten und auch so anzukündigen, dass Menschen sich eingeladen fühlen, ist unser Ziel. In diesem Zusammenhang ist es dringlich, gerade in den Dörfern „Gottesdienstkerne“ zu bilden, also Menschen zu finden, die auch dann die Kirche für Gottesdienst und Gebet öffnen, wenn keine Pfarrerin oder kein Pfarrer zur Stelle sein kann, um diesen Gottesdienst zu leiten. Dass Christinnen und Christen angeleitet werden, selbst die Bibel aufzuschlagen und in der Gemeinde miteinander zu beten, ist heute vielleicht eine der wichtigsten Aufgaben von Pfarrerinnen und Pfarrern überhaupt.
Die Gemeinde und die Grenzen der vertrauten Sprache. Keine Gemeinde wirkt nur nach innen; jede Gemeinde wirkt auch nach außen. Es gibt Situationen, bei denen das besonders offenkundig wird. Beerdigungen gehören dazu, die Kasualien des Jahreslaufs – Erntedank oder Weihnachten – ebenso. Öffentlich aufwühlende Ereignisse nötigen uns als Gemeinde, über unsere Grenzen hinaus zu sprechen und zu beten. Menschen leihen sich in solchen Situationen die Sprache des Glaubens. Sie legen sich, wie Fulbert Steffensky das genannt hat, „für eine Stunde Masken des Glaubens an im Beten der Psalmen und des Vaterunsers“. So schwer die Anlässe auch sein mögen, aus denen das geschieht, wir haben Grund, dankbar für die Sprache zu sein, die uns anvertraut ist und die andere sich aus solchen Anlässen borgen. In ganz außerordentlicher Intensität haben wir das nach dem 11. September gemerkt. Jeder Mensch, so war deutlich zu spüren, braucht zum Klagen und für die Trauer eine Sprache, die er nicht selbst erfinden muss; mit schweren Ereignissen können wir nur umgehen, wenn wir die Hilfe des Ritus gewähren lassen.
Aber anderen borgen können wir nur, wenn wir selbst etwas haben. Frühere Generationen standen in der Gefahr, den Glauben und die religiöse Sprache als einen selbstverständlichen Besitz anzusehen. Unsere heutige Gefahr ist die Flucht aus dem, was uns anvertraut ist. Oder noch einmal mit Fulbert Steffensky gesagt: „Es gibt einen neuen Feind: dass wir uns selber nicht mehr deutlich sind und dass wir unsere eigene Deutlichkeit weder wollen noch schätzen.“ Es ist in unserer Kirche wohlfeil geworden zu behaupten, die alte Sprache des Glaubens trage nicht mehr. Trotz gegenteiliger Erfahrungen halten wir an dieser Behauptung fest. Das geschieht aber nicht in dem Bemühen, die uns anvertraute Sprache mit der Situation unserer Gegenwart zusammenzusprechen. Sondern es geschieht eher in einer Fluchtbewegung, in einer Flucht vor sich selbst. Sie aber ist eine Form des Unglaubens. Steffensky hat drei Formen dieser Flucht ausgemacht: Die Flucht in die Fremde zeigt sich exemplarisch darin, dass wir einfühlsam über das jüdische Laubhüttenfest oder den muslimischen Fastenmonat Ramadan aufklären, aber den Sinn unserer christlichen Feste mit Gleichgültigkeit übergehen. Die Flucht in das Allerweltsrichtige zeigt sich darin, dass wir dem religiösen Geheimnis ausweichen und nur noch die vermeintliche Brauchbarkeit für den Alltag zum Maßstab dessen machen, was wir sagen. Fulbert Steffensky hat das bedrückend an einer Predigt über Jakobs Kampf mit Gott am Jabbok illustriert. Die Szene wurde an den Frühstückstisch eines muffelnden Ehepaars übertragen; die Folgerung hieß, man dürfe sich nicht durch Schweigen und Ausweichen schützen, sondern müsse seine Konflikte auch austragen. Die Flucht in die Moral schließlich konzentriert sich auf mögliche Folgerungen aus unseren Glaubensüberzeugungen, ohne sich um die Vitalität dieser Überzeugungen selbst zu kümmern. Das kann, wie man sich leicht vorstellen kann, auf Dauer nicht gut gehen. Dass wir solche Fluchtbewegungen korrigieren und fröhlich zur eigenen Deutlichkeit stehen, ist möglicherweise der wichtigste Beitrag zum Gemeindeaufbau überhaupt.
Die Gemeinde und die Grenzen der Kirchenmitgliedschaft. Damit, dass Menschen sich die Sprache des Glaubens leihen, haben sie sich diese Sprache noch nicht zu eigen gemacht. Nun wissen wir auch aus der eigenen Lebensgeschichte, dass wir dieser Sprache und auch dem Ort, an dem sie gesprochen wird, in verschiedenen Phasen unseres Lebens unterschiedlich nahe sind. Aber das große Glück unseres Lebens als Christen besteht in der Gewissheit, dass in dieser Sprache und in der Wirklichkeit des gnädigen Gottes, auf die sie hinweist, unser einziger Trost im Leben und im Sterben liegt Deshalb können wir uns nicht damit beruhigen, dass andere sich diese Sprache auf Zeit leihen. Und es muss uns noch mehr beunruhigen, dass es Menschen gibt, denen diese Sprache und die Wirklichkeit Gottes vollständig fremd bleiben. So unterschiedlich die Bedingungen auch sind, unter denen Gemeinden in unserer Kirche leben und handeln, so kann sich doch keine Gemeinde der missionarischen Aufgabe entziehen, vor der wir heute miteinander stehen.
Der Neubeginn der Arbeit in den Gemeindekirchenräten nach den Kirchenwahlen in diesem Herbst ist nach meiner Überzeugung der richtige Zeitpunkt, um in allen Gemeindekirchenräten die Anregungen aufzugreifen, die von dieser Synode in den „Leitlinien kirchlichen Handelns in missionarischer Situation“ formuliert worden sind. Zu diesen Anregungen gehört, dass jeder Gemeindekirchenrat eine Beauftragte oder einen Beauftragen für Mission benennt, die mit besonderer Aufmerksamkeit auf die missionarischen Wirkungen des Gemeindelebens achtet. Zu diesen Anregungen gehört auch, dass in jeder Gemeinde jährlich ein Austausch darüber stattfindet, welche Aktivitäten missionarische Ausstrahlung haben und was im neuen Jahr verstärkt werden kann. Wenn ein solcher missionarischer Plan in der Arbeit der Gemeindekirchenräte so wichtig wird wie der Haushaltsplan, sind wir von der Veränderung nicht mehr weit entfernt, die unserer Kirche not tut. Und wenn der Fonds für missionarische Initiativen und Initiativen des Gemeindeaufbaus, der mit bescheidener Ausstattung jetzt eingerichtet wird, ein Gewicht gewinnt, das wirkliche missionarische Schwerpunktbildungen – also die Einrichtung von besonderen „Missionsstationen“ – ermöglicht, werden wir einen großen Schritt getan haben.
Wir wissen. Die Wirkungen unseres Tuns liegen nicht in unserer Hand. Wer neuen Mut für das Leben unserer Gemeinden als Herzensanliegen betrachtet, wird nicht nur seine Kraft und seine Arbeit für die Gemeinden einsetzen; er wird vor allem Arbeiten um den Heiligen Geist beten, der Leben schafft. Noch wichtiger als jede Verabredung über Leitbilder und Programme für das Gemeindeleben ist die Verabredung, dass wir das Gebet um Gottes guten Geist ins Zentrum rücken und uns von ihm ermutigen lassen, das zu tun, was an uns ist.