Die Liebe Christi drängt uns, an der Friedensbewegung Gottes teilzuhaben
Vortrag von Landesbischof Prof. Dr. Jochen Cornelius-Bundschuh zum Schwerpunktthema der EKD-Synode 2019
Es gilt das gesprochene Wort.
Wir feiern heute den Tag des Heiligen Martin! Mit 10 Jahren kam er in Kontakt mit dem christlichen Glauben. Als Sohn eines Offiziers musste er mit 15 Jahren Soldat werden. Als Offizier versuchte Martin, aus dem Militärdienst auszuscheiden: Er sei Soldat Christi, nicht des Kaisers! Das wurde ihm verweigert. Und so diente er der Pax Romana 25 Jahre, teilte während dieser Zeit seinen Offiziersmantel und verließ erst mit 40 Jahren das Militär.
Eine Legende, die mitten in die Spannungen des Themas führt: christlicher Glaube und individuelle Verantwortung, Friedensordnung und Gewalt, Barmherzigkeit, Recht und Gerechtigkeit.
Drei Fragen strukturieren meinen Impuls:
1. Was trägt und bewegt uns in unserem Friedenshandeln?
2. Wie übernehmen wir im christlichen Glauben Verantwortung für den Frieden?
3. Welche Impulse setzen wir als Kirche heute?
Begleiten werden meine Überlegungen Bilder vom Herzaltar von Lucas Cranach dem Jüngeren aus Colditz, zwischen Leipzig und Dresden.
1. Was trägt und bewegt uns in unserem Friedenshandeln?
1.1. Die Liebe Christi drängt uns zur Versöhnung
„Der Friede Christi sei mit euch!“ Dieser Gruß nimmt die Bewegung Gottes auf, die „Frieden auf Erden“ bringt; wer ihn anderen zuspricht, stellt sich in diese Bewegung hinein und trägt sie weiter.
Wir haben Anteil an der Friedensbewegung Gottes in diese Welt. Sie bildet den Ausgangspunkt und den Kern der Friedenstheologie und -ethik, die wir als christliche Kirchen in das Ringen um den Frieden der Welt einzubringen haben. Drei Aspekte hebe ich hervor:
1. Der Friede Gottes und unser Friedenshandeln sind zu unterscheiden. Der Friede Gottes ist umfassend; unsere Umsetzungen sind partikular. Gottes Frieden umfasst ein Leben in Würde, den Schutz vor Gewalt, die Bewahrung der Lebensgrundlagen zukünftiger Generationen, den Abbau von Ungerechtigkeit und Not, die Stärkung von Recht und Freiheit. In unserem Friedenshandeln können diese Ziele konfligieren und einzelne Aspekte sich nach vorne drängen.
Die grundlegende Differenz zwischen dem, was wir für den Frieden tun, und dem Frieden Gottes, führt uns in das Lob Gottes und weist andere Mächte in ihre Schranken. Sie wehrt jeder Sakralisierung politischer Positionen, auch unserer eigenen. Sie begrenzt unsere Auseinandersetzungen heilsam. Sie fördert nüchterne Unterscheidungen und ermöglicht Selbstkritik und Gelassenheit.
2. Der Friede Gottes überwindet Mächte und Gewalten und steht den Opfern bei. Für diese Verheißung steht das Magnificat der Maria: Gott stößt die Gewaltigen vom Thron und erhebt die Niedrigen. (Lk 1, 52). Aber nicht durch eine Steigerung der Gewalt, sondern indem Gott Mensch wird, sich in Christus selbst verwundbar macht und die Logik der Gewalt überwindet. Der neue Himmel und die neue Erde, in der sich Gerechtigkeit und Friede küssen, liegen uns noch voraus, aber wir gestalten schon im Hier und Jetzt mit Hoffnung und Ausdauer, mit Klarheit und Mut eine Friedensordnung.
3. Der Friede Christi gewinnt mit uns Gestalt. Christus richtet uns durch seine Gerechtigkeit auf und nimmt uns mit auf seinen Weg. Wir sind gerufen, uns aufrecht und mündig mit unseren Kompetenzen und Ressourcen, auch mit unseren Schwächen an Christi gewaltfreiem Friedenshandeln auszurichten und Verantwortung für eine gerechten Frieden zu übernehmen.
1.2. Der Friede Gottes ringt mit den Mächten der Welt
Auf der Mitteltafel des Colditzer Altars ist diese Spannung prägnant eingefangen: Die Welt starrt vor Waffen; die Horizonte grollen und stellen sich der Friedensbewegung Gottes entgegen.
Evangelische Friedenstheologie und -ethik nimmt die Hybris der Macht, unsere Trägheit und unsere Fixierung auf eigene Interessen wahr: Das gesellschaftliche Klima wird rauer, Reden und Handeln werden gewaltförmiger. (Militärische) Gewalt gilt (wieder) als legitimes Mittel der Politik zwischen Staaten, vor allem aber in den vielen hybriden Konflikten angesichts fehlender Staatlichkeit. Macht erweist sich als die Fähigkeit, in seinem Handeln nicht auf politischen Ausgleich und das Recht und das Wohl der Anderen angewiesen zu sein, sondern die eigenen Interessen mit Gewalt durchsetzen zu können. Wir wissen, dass eine gerechtere, ressourcenschonendere und die Menschenrechte achtende Weltordnung der wichtigste Beitrag für mehr globale Sicherheit und weniger Konflikte ist. Die wichtigen globalen Herausforderungen lassen sich nicht militärisch lösen; dennoch drängt sich die Logik der Macht und die Gewalt, auf die sie sich stützt, nach vorne.
Matthias Claudius singt in seinem Antikriegslied:
‘s ist Krieg! ‘s ist Krieg!
O Gottes Engel wehre,
Und rede Du darein!
‘s ist leider Krieg –
und ich begehre
Nicht schuld daran zu sein!
Auch wenn die kriegerischen Konflikte weit weg scheinen; wir sind in sie verstrickt. Ich betone: „wir“, denn wer genau hinschaut, entdeckt sich nicht nur auf der einen Seite. Wir leben in der einen Welt und haben mit unserem Lebensstil, unseren politischen Entscheidungen und unserer ökonomischen Ordnung Anteil an ihrem Fortbestehen. Die Liebe Christi drängt uns, diese Gefangenschaften sorgfältig wahrzunehmen, von Sünde und Versöhnung zu reden und umzukehren – in die Feindesliebe und zu einer Ethik des Genug, die aus der Fülle lebt, die Gott schenkt.
1.3. Die Ökumene ist der Leib der Friedensbewegung Gottes
Im Leib Christi sind wir mit Anderen verbunden. Wir nehmen sie in ihrer Unterschiedlichkeit wahr. Wir gehören zusammen, auch wenn „die da“ uns fremd sind, nicht Frau und nicht Mann, nicht Jude und nicht Grieche – und doch eins in Christus. Wir haben das in beiden Weltkriegen z.B. im Grenzgebiet von Baden und Elsass anders gepredigt. Die Allianz mit den politischen und wirtschaftlichen Mächten machte unsere Kirchen zu Steinen, die den Fluss der Friedensbewegung Gottes hemmten. Dagegen hilft die Ökumene uns unsere Verstrickungen zu erkennen. Unsere Partnerkirchen fragen: „Profitiert ihr von dem Geld, das durch Rüstungsproduktion erwirtschaftet wird, von einer Wirtschaft, die grundlegende Menschenrechte um des Profits willen zurückstellt?“
Die ökumenische Dimension von Kirche und die wechselseitige Verantwortung der globalen Staatengemeinschaft in der UNO sind seit dem 2. Weltkrieg Gegenkräfte gegen eine erneute Konstruktion von Identität durch Abgrenzung, die Menschen und Völker gegeneinander aufbringt. Beide müssen sich unter den Bedingungen der Globalisierung und Digitalisierung der Ökonomie neu bewähren. Nur ökumenisch und multilateral werden wir die globalen Herausforderungen im Geist Christi gestalten können; nur wenn wir erkennen, dass unsere Sicherheit und die der anderen unauflöslich miteinander verbunden sind. Unsere ökumenische Existenz ist heute die wichtigste Kraftquelle für unser Friedenshandeln in der einen, globalen Welt.
2. Wie übernehmen wir im christlichen Glauben Verantwortung für den Frieden?
2.1. Die individuelle Verantwortung für den Frieden
Die Erinnerung an die Martinslegende zeigt, wie eng Glaube und individuelles Tun zusammengehören. Menschen ziehen ihren „Glauben ins Leben“ (Gerta Scharffenorth): Da ist der Meister in seinem Umgang mit Auszubildenden gefragt, die Geduld der Verwaltungsangestellten, die der syrischen Flüchtlingsfamilie einen Antrag erklärt, die Streitschlichterin an der Schule, die Friedensfachkräfte, die zivile und nachhaltige Lösungen entwickeln.
Die individuelle Verantwortung ist zentral, weil Krieg mit Waffen geführt wird, aber mit einer „Politik der Feindschaft“ (Achille Mbembe) beginnt, die sich in Köpfen und Herzen festsetzt. Sie sortiert und grenzt ab und aus: gut – böse, Freund – Feind. Christi Liebe widerspricht dieser Logik und drängt uns in die Empathie und ins Dazwischen: raus aus den Eindeutigkeiten, die dazu verführen, der Logik der Gewalt zu folgen, rein in die Ambivalenzen und Konflikte des Alltags und der Politik, die wir im Vertrauen auf das versöhnende Handeln Christi „zivil“, d.h. gewaltfrei und partizipativ, auf der Suche nach einer für alle annehmbaren Lösung angehen.
Als Kirche ermutigen wir Menschen, sich dieser Verantwortung zu stellen, im Gebet, im Tun des Gerechten: in ihrer Nachbarschaft, in ihrem Beruf, als Friedensfachkräfte, als Angehörige der Bundeswehr. Sie dürfen von uns erwarten, dass wir uns ernsthaft mit ihnen auseinandersetzen; dass wir mit ihnen hineingehen in die Grauzonen, in die Abwägungen, wie Friedenshandeln in der jeweiligen Situation aussehen kann.
2.2. Das kirchliche Friedenshandeln
Wir sind als Kirchen auf den verschiedenen Ebenen und in den unterschiedlichen Sozialgestalten auf dem Pilgerweg der Gerechtigkeit und des Friedens unterwegs: durch Initiativen wie die gegen die Atomwaffen in Büchel, durch Nagelkreuzgruppen oder Friedensgebete; durch die Friedensdekade; durch Kammern und synodale Kundgebungen; durch Friedensdienste und ökumenische Beziehungen. Die verschiedenen Sozialgestalten von Kirche sagen und tun nicht dasselbe, aber sie sind alle als Glieder im Leib Christi herausgefordert, das Versöhnungshandeln Christi in die Welt zu tragen und sich dabei aufeinander zu beziehen.
Eine Stärke unserer Kirche ist es, ein wichtiger Akteur im Gemeinwesen zu sein; in den Konflikten in der Nachbarschaft, in lokalen Auseinandersetzungen (z.B. um Windräder) machen Menschen die Erfahrung: Konflikte lassen sich ohne Gewalt nachhaltig lösen. Unsere Partnerkirche, die EYN in Nigeria, hat uns an ihrem Programm für muslimische und christliche Jugendlichen in Schulen gezeigt, wie wichtig solche Begegnungen sind, in denen Vertrauen in Konflikten wächst. Wir lernen, wie es gelingen kann, den Feind und seine Interessen zu respektieren, auch wenn ich sie ablehne.Vor Ort kommt vielen auch der Krieg in der Ferne nahe: Die Tochter des gefallenen Soldaten im Konfirmandenunterricht; der traumatisierte Sohn, der aus Afghanistan ins Haus der Eltern zurückgekehrt ist und sich nicht mehr zurechtfindet; Menschen, die in Rüstungsbetrieben arbeiten; Flüchtlinge aus Krisenregionen; Engagierte aus Friedensdiensten. Sie sind unsere Gemeindeglieder. Sie begegnen uns in Kliniken und Schulen.
Krieg und Frieden sind nicht weit weg; im Umgang mit ihnen bewährt sich unser Glaube. Wir können dazu beitragen, dass die Menschen sich nicht in segmentierte Welten zurückziehen, sondern sich gemeinsam verantwortlich fühlen für den Frieden vor Ort und weltweit.
Das ist nicht leicht und vieles scheitert. Aber in der Kraft des Geistes und in der Teilhabe am Frieden Christi werden wir frei von der Angst vor den Anderen, vor dem Wunsch, unsere Identität auf Abgrenzung zu gründen, frei zum Mitgefühl und zum Versöhnungshandeln. In Kindertagesstätten, Schulen und Universitäten, in der Konfirmandenarbeit und der Erwachsenenbildung, aber auch, indem wir Menschen helfen, in der Arbeitswelt oder in Vereinen Erfahrungen mit Formen ziviler Konfliktbearbeitung zu machen, üben wir eine Kultur des Friedens ein. Friedensbildung ist ein Qualitätsmerkmal evangelischer Bildungsarbeit.
2.3. Für Recht und Gerechtigkeit eintreten: der öffentliche Auftrag der Kirche
Kirche verändert sich, auch ihre Bedeutung und Rolle in der Öffentlichkeit. Wir denken nicht mehr von einem einheitlichen Gegenüber von weltlicher und geistlicher Macht her, die andererseits im Gegenüber zur Gesellschaft eng miteinander verbunden sind. Wir leben in einem pluralen System mit mannigfaltigen weltlichen Akteuren und religiösen Einflüssen; Zwang und Konvention haben an Bedeutung für den Glauben, die Bindung an die Kirche und im Blick auf ethische Fragen verloren. Das ist ein Gewinn an Freiheit, den wir begrüßen und der uns zugleich herausfordert.
Im Blick auf das Friedenshandeln bleiben wir ein prominenter Akteur: vor Ort, in der deutschen und europäischen Öffentlichkeit, in der Ökumene. Mit unseren Bildungseinrichtungen stärken wir das Bewusstsein der Verantwortung für einander und das Engagement von Einzelnen und im Gemeinwesen, sich für den inneren und den äußeren Frieden einzusetzen, denn das eine gibt es nicht ohne das andere. Politisch treten wir für eine verbindliche multilaterale, rechtlich gefasste Friedensordnung ein, die Atom- und andere Massenvernichtungswaffen ächtet, die Rüstungsproduktion und Rüstungsexport beschränkt, die Menschenrechte zum entscheidenden Kriterium bei der Entscheidung über strategische und militärische Allianzen macht. Wir setzen uns dafür ein, dass der Primat ziviler Strategien der Konfliktlösung politisch umgesetzt und mit den nötigen finanziellen Mitteln ausgestattet wird (vgl. „Sicherheit neu denken – von der militärischen zur zivilen Sicherheitspolitik“).
Für eine solche Neuorientierung der Friedens- und Sicherheitspolitik brauchen wir mehr Formate für respektvolle und „anstößige“ Begegnungen: Gespräche mit Vertretern der Rüstungsindustrie, mit Angehörigen der Bundeswehr und ihren Familien, mit Menschen, die als Friedensfachkräfte Erfahrungen mit zivilen Formen der Konfliktbearbeitung mitbringen, mit Kirchen aus der Ökumene. Wir brauchen Konzepte, die in Konfliktsituationen ein Innehalten und einen Blickwechsel ermöglichen, die Zeit-Räume für gesellschaftliche Urteilsbildung zur Verfügung stellen, die Kooperationen mit anderen Akteuren fördern.
Dabei werden wir unsere spezifische Perspektive deutlich machen: Uns drängt die Liebe Christi, die am Ende Gewalt und Krieg überwinden wird. Dabei ist uns bewusst, dass dem interreligiösen Gespräch eine wichtige Rolle zukommt. Die Relevanz unserer Stellungnahmen wird zunehmend danach beurteilt werden, ob die Religionen untereinander pluralitätsfähig sind und dazu beitragen, Frieden und Gerechtigkeit zu fördern.
3. Welche Impulse setzen wir als Kirche heute in unserem Friedenshandeln?
3.1. Die Liebe Christi drängt uns an die Seite der Opfer
In vielen aktuellen militärischen Konflikten wird das humanitäre Völkerrecht strategischen Interessen untergeordnet, insbesondere wenn staatliche, rechtlich verbindliche Strukturen zerfallen: Menschen werden vertrieben; die Unterscheidung zwischen Kombattanten und Nichtkombattanten verschwimmt; die „Politik der Feindschaft“ rechtfertigt zivile Opfer.
Christus drängt uns auf die Seite der Opfer. Ihn „jammerte“ das Volk und die Menschen in ihrer Not. Mit dem Begriff des „Jammerns“ wird im Neuen Testament sonst nur die Haltung des Vaters des verlorenen Sohnes und die des barmherzigen Samariters beschrieben. Diese Haltung legt Christus uns ans Herz: dass wir nicht wegsehen, sondern handeln und für die Rechte der Opfer eintreten, auch für die vielen durch Gewalt traumatisierten Menschen, auch im Militär. Um der Opfer willen müssen wir die ethischen Kriterien für den Einsatz militärischer Gewalt sehr eng fassen und trotz der damit verbundenen Risiken konsequent den Vorrang ziviler Konfliktlösungen umsetzen.
Nur wenn Konflikte verlässlich „konstruktiv und gewaltfrei bearbeitet werden“ (Roger Mielke), können Menschen, die bisher Opfer des Handelns der (militärisch) Mächtigen werden, Verantwortung für sich und ihr Leben übernehmen. Diejenigen, die rechtlich oder politisch Verantwortung für unrechtmäßige Ausübung von Gewalt tragen, müssen (auch strafrechtlich) zur Rechenschaft gezogen werden können.
Wir sollten einen besonderen Schwerpunkt unseres Friedenshandelns
• auf die Verbindung zu Partnerkirchen und Friedensdiensten in Konfliktregionen,
• auf die Unterstützung der Opfer militärischer Gewalt,
• auf die öffentliche Debatte über eine Stärkung des humanitären Völkerrechts
• und die strafrechtliche Verfolgung der Verantwortlichen legen.
3.2. Die Liebe Christi drängt uns, den Friedensauftrag Europas zu stärken
In der Vorbereitung der 11. Vollversammlung des Weltrates der Kirchen in Karlsruhe spielt das Thema „Europa und Versöhnung“ eine große Rolle: Dass nach 1945 Versöhnung möglich war, der Fall Mauer, die friedliche Auflösung des Ostblocks, all das interessiert viele in der Ökumene. Für sie steht Europa für die Suche nach einem Konzept gemeinsamer Sicherheit, für Zivilität und Menschenrechte, für stabile Demokratie und ein Rechtssystem, das die Würde des einzelnen Menschen in den Mittelpunkt rückt und Konflikte verlässlich konstruktiv und zivil löst. Vielleicht hat dieses Bild auch die Entscheidung für Karlsruhe beeinflusst, das sich gerne als Hauptstadt des Rechts bezeichnet und dessen hohe Gerichte diese Rechtskultur auch international vertreten. 2021 werden wir gefragt: Wie stellt Europa die Weichen angesichts der aktuellen Herausforderungen von Klimagerechtigkeit und Migration, Menschenrechtsverletzungen und gewaltförmigen Konflikten?
Als Kirchen setzen wir uns für einen Vorrang des Zivilen und das Konzept der gemeinsamen Sicherheit als Grundlinien europäischer Politik ein, die weiter reicht als die Grenzen der EU und sich gerade im Verhältnis zu Russland, Georgien, der Ukraine und andere Staaten im Osten Europas bewährt. Dazu müssten der OSZE und anderen multilateralen Organisationen mehr Gewicht in der europäischen Friedenspolitik eingeräumt werden, die einer gemeinsamen Sicherheit eine wirksame Gestalt geben.
Kritisch zu befragen sind dagegen die Bestrebungen der EU, die eigene strategische Autonomie dadurch zu verbessern, dass sie ihre militärischen Möglichkeiten ausbaut und ihre Rüstungskapazitäten stärkt. Statt sich am Wettrennen um militärische Potentiale zu beteiligen, könnten die europäischen Zivilgesellschaften und Staaten ihre Geschichten der Versöhnung, der Überwindung von Grenzen und des konstruktiven Umgangs mit Vielfalt als Kraftquellen und Wegweiser in die Zukunft nutzen. Wer im Innern Rechtsstaat, Demokratie und Zivilität stärken will, sollte sich nicht erhoffen, dass er die eigene strategische Autonomie dadurch entwickelt, dass er seine wirtschaftliche und militärische Macht ausbaut.
Zur Leitlinie eines neuen Europas sollte die politische Verantwortung für eine gerechte und friedliche Weltordnung werden. Hier kann und muss Europa mehr internationale Verantwortung übernehmen, etwa für den Aufbau rechtsstaatlicher Strukturen einschließlich ausreichendem Personal für internationale Polizeimissionen und zivile, gut ausgestattete Friedensmissionen, für eine Transformation hin zu einer Ökonomie, die Unternehmen in die Pflicht nimmt, nachhaltig, konflikt- und menschenrechtssensibel zu produzieren und zu investieren, für eine frühzeitige Analyse und eine intensive Präventionsarbeit durch Friedensfachkräfte angesichts sich abzeichnender Konflikte. Jeder militärisch ausgetragene Konflikt „ist eine politische Niederlage“ (Renke Brahms).
Als Kirchen können wir unsere ökumenischen Erfahrungen und Verbindungen in diesen Transformationsprozess einbringen und die politisch Verantwortlichen darin bestärken, einen realistischen und reflexiven Umgang mit den aktuellen Konflikten zu suchen. Europa hat die wirtschaftliche, politische und geistige Kraft und die zivilen und demokratisch legitimierten Ressourcen rechtserhaltender Gewalt (Polizei, Staatsanwaltschaft), sich gegen Bedrohungen und Erpressungen zu wehren und einen konsequenten und nachhaltigen Beitrag zu einer gerechten Friedensordnung in der Welt zu leisten.
Christus ist unser Friede. Seine Liebe drängt uns, Frieden zu stiften. Wir vertrauen uns seiner Bewegung an, versuchen, mit ihm Schritt zu halten, ihm nicht im Weg zu stehen, seinen Frieden in unseren Rechtsordnungen Gestalt gewinnen zu lassen.
Dabei bewahre uns der Friede Gottes, der höher ist als alle Vernunft.
Vortrag von Landesbischof Prof. Dr. Jochen Cornelius-Bundschuh zum Schwerpunktthema der EKD-Synode 2019