„Von der Freiheit eines Christenmenschen" im Rahmen der Vortragsreihe „Freiheit in den Religionen"

Landesbischof Heinrich Bedford-Strohm, Ratsvorsitzender der Evangelischen Kirche in Deutschland, in der Salvatorenkirche Duisburg am 8. Februar 2018 in der Salvatorenkirche Duisburg

1. Einleitung: Freiheit als Programmwort heute

Das Thema „Freiheit“, über das ich heute spreche, führt mitten hinein in die Theologie der Reformation. Und es führt mitten hinein in die gesellschaftliche Verantwortung heute. „Von der Freiheit eines Christenmenschen“ ist eine der berühmtesten Schriften Martin Luthers. Ein Satz des Paulus über die Freiheit hat mich immer schon fasziniert: „Der Herr ist der Geist, und wo der Geist des Herrn ist, da ist Freiheit“ (aus dem 2. Korintherbrief). Es ist der letzte Satz meiner Habilitationsschrift, es ist auch einer der Sprüche, den ich bei meiner Ordination zugesprochen bekommen habe. Und es ist der Spruch, den ich als das Motto über meine Zeit als Bischof gestellt habe: „Der Herr ist der Geist, und wo der Geist des Herrn ist, da ist Freiheit.“

Das biblisch gegründete Thema „Freiheit“ zeigt, wie relevant die Reformation für heute ist. Es war für Luther zentral. Die Schrift Martin Luthers „Von der Freiheit eines Christenmenschen“ ist aus meiner Sicht die wichtigste und brillanteste der ganzen Reformationszeit. Und dass das Thema Freiheit auch heute zentral ist, liegt auf der Hand. Es ist, wie man heute sagt, ein Mega-Thema in der öffentlichen Debatte. Wenn wir uns die Ereignisse der jüngsten Geschichte vor Augen halten, dann spielt genau dieses Thema immer eine zentrale Rolle. Der letzte Satz der Rede, die Martin Luther King jr. in Washington vor Millionen von Menschen gehalten hat, die berühmte „I have a dream“-Rede, endet mit den Worten: „Free at last, free at last – „endlich frei“.

Das war der Traum der Schwarzen in den USA. Mit der Präsidentschaft von Barack Obama, dem ersten schwarzen Präsidenten der USA, ist dieser Traum jedenfalls ein stückweit in Erfüllung gegangen, so beklagenswert die Rückschläge sind, die mit der gegenwärtigen Präsidentschaft seines Nachfolgers verbunden sind.

Wir haben noch einen zweiten großen Mann, für den dieses Thema auch ein Mega-Thema war: Die Biographie über den südafrikanischen Präsidenten Nelson Mandela hat den Titel: „A long walk to freedom“ – „ein langer Weg zur Freiheit“. Wieder das Thema „Freiheit“ als ein Thema, das eine eindrucksvolle Biographie beschreibt, das aber auch den Streit, das Ringen eines Volkes um Freiheit jedenfalls mit anklingen lässt, nämlich das Ringen des südafrikanischen Volkes um Freiheit.

Und schließlich brauchen wir nur auf unsere eigene Geschichte schauen: Ich selber bin 10 km von der sogenannten Zonengrenze in Oberfranken aufgewachsen, in Coburg. Jeden Nachmittag am Sonntag sind wir spazieren gegangen und haben den Stacheldraht gesehen. Und ich habe mir nie träumen lassen, dass ich eines Tages noch selbst erleben würde, dass diese Stacheldrahtanlagen nicht mehr da sind. Und jedes Mal, wenn ich jetzt über diese Grenze fahre, werden mir die Knie weich und ich bin innerlich bewegt. Es ist etwas Ungeheures gewesen in einer Biographie wie jetzt in meiner, dass wir das erleben durften, dass Menschen, die mit Stacheldraht eingesperrt waren, heute sich frei bewegen dürfen. Freiheit - auch als Thema unseres eigenen Landes, und als ein Thema, in dem wir wunderbare Erfahrungen machen durften – so dornig der Weg nach wie vor ist.

Und Freiheit ist ein Thema, das in fast jedem Parteiprogramm eine zentrale Rolle spielt. In den aktuellen Debatten um die Wirtschaft berufen sich die Vertreter einer „freien Marktwirtschaft“ auf den Begriff und nennen sich sogar latinisiert „Wirtschaftsliberale“. Sie verstehen unter Freiheit die größtmögliche Begrenzung der Einschränkung unternehmerischen Handelns durch staatliche Rahmengesetzgebung. Andere sehen die Freiheit genau dann gesichert, wenn der Staat durch entsprechende verbindliche Regeln für sorgt, dass soziale Gerechtigkeit herrscht.

Auch in den aktuellen Debatten um die richtige Reaktion auf terroristische Anschläge wird die Freiheit durchaus unterschiedlich ins Spiel gebracht. Während die einen sagen, dass es Freiheit nur durch Sicherheit geben kann, warnen die anderen vor der Einschränkung der Freiheit durch überzogene Sicherheitsmaßnahmen.

Also, „Freiheit“ ist ein Thema, das tief in unsere Geschichte, tief in die Geschichte der Völker eingeschrieben ist. Und Freiheit ist ein Thema, das heute eine zentrale Rolle spielt. Deshalb ist die Frage: „Was heißt dieser Begriff eigentlich?“ eine ganz zentrale Frage. Und, für diese Frage gibt die christliche Tradition eine kraftvolle Antwort, denn das Thema „Freiheit“ ist schon ein urbiblisches Thema gewesen.

2. Freiheit als Thema der Reformation

Man kann die Reformationszeit als eine Zeit bezeichnen, in der die Menschen in Deutschland sich befreien wollten von politischen, aber auch von kirchlichen Bürden. Als eine Zeit, in der die Menschen auch das innerliche Gefängnis abwerfen wollten und nach Freiheit strebten. Die Reformation war eine spezifische Antwort auf alle diese Fragen nach der Freiheit, und eine Antwort, die uns zwischen den Konfessionen glücklicherweise heute nicht mehr grundsätzlich trennt, eine Antwort, auf die wir als Evangelische und als Katholiken gemeinsam zugehen können. Und das hat sehr viel zu tun mit dem entscheidenden Stichwort, das für Martin Luther so etwas wie das Tor zur Freiheit gewesen ist, nämlich der Botschaft von der Rechtfertigung allein aus Glauben und nicht aus den Werken.

Rechtfertigung – so hat er in seiner Freiheitsschrift dargelegt – heißt innere Freiheit und es heißt zugleich äußere Freiheit. Wie beides miteinander in Beziehung steht, ist das zentrale Thema seiner Schrift.

2.1. Innere Freiheit

Martin Luther selber hat in seiner Biographie erlebt, was es heißt, immer unter dem Druck stehen zu müssen, einem bestimmten Gesetz gerecht zu werden: Die Gebote Gottes, das Gesetz, das uns in der Bibel vor Augen tritt, hat Martin Luther als etwas verstanden, was er erfüllen muss, um bei Gott gerettet zu sein, um auf die offenen Arme Gottes hoffen zu können. Und er ist daran verzweifelt. Er hat getan, was er konnte; er hat sich gegeißelt, er hat gefastet; er hat alles versucht, was er konnte, um diese Gebote zu erfüllen. Und er hat gemerkt, dass er nur daran scheitern kann. Und er hat weiter in der Bibel gelesen. Und ist dann auf diesen Satz gestoßen, der erst einmal so nüchtern und strohern klingt: „Der Mensch ist allein gerechtfertigt aus dem Glauben und nicht aus den Werken.“

Für ihn war es die große Befreiung des Lebens. Denn Luther hat gemerkt: Ich muss gar nicht einem Anspruch hinterherjagen, sondern Gott liebt mich allein aus Gnade, allein durch die Gottesbeziehung darf ich mich in die Arme Gottes werfen. Alles, was daraus kommt, alle Werke gründen darauf, dass ich mich in Gott geborgen weiß. Und er hat es in einem wunderbaren Bild zum Ausdruck gebracht in der Schrift „Von der Freiheit eines Christenmenschen“, dass man einen „fröhlichen Wechsel“ nennen kann. Er beschreibt, wie der Christ seine Sünden mit dem Brautring auf den Bräutigam Christus streift, wie sie bei Christus ersäuft werden und wie Christus als Tausch sozusagen dem Gläubigen die Gerechtigkeit zurückgibt:

Werke braucht der Mensch für die innere Freiheit nicht. Sondern die Werke fließen aus genau dieser inneren Freiheit. Es kann gar nicht anders sein! Auch das macht Luther gleichnishaft deutlich:

„So dass alle Wege die Person zuvor gut und fromm sein muss vor allen guten werken, und gute Werke folgen und gehen aus von der frommen, guten Person. Ebenso wie Christus sagt: „Ein böser Baum trägt keine gute Frucht. Ein guter Baum trägt keine böse Frucht.“ (Matth. 7,18) Nun ist es offenbar so: Die Früchte tragen nicht den Baum, so wachsen auch die Bäume nicht auf den Früchten, sondern umgekehrt, die Bäume tragen die Früchte, und die Früchte wachsen auf den Bäumen. Wie nun die Bäume eher sein müssen als die Früchte und die Früchte die Bäume weder gut noch böse machen, sondern die Bäume die Früchte machen, so muss der Mensch in der Person zuvor fromm und böse sein, ehe er gute oder böse Werke tut. Seine Werke machen ihn nicht gut oder böse, sondern er macht gute oder böse Werke.“

Ein weiteres Bild entnimmt Luther den Handwerken: „Ein gutes oder schlechtes Haus macht keinen guten oder schlechten Zimmermann, sondern ein guter oder schlechter Zimmermann macht ein schlechtes oder gutes Haus.“

Das ist das, was die innere Freiheit ausmacht. Und das ist die Basis all dessen, was dann auch die äußere Freiheit ausmacht.

Das ist der Zusammenhang, den Martin Luther in seiner Freiheitsschrift beschrieben hat. Diese Schrift beginnt einfach mit zwei Thesen, die sich auf den ersten Blick zu widersprechen scheinen:

1.These: Ein Christenmensch ist ein freier Herr aller Dinge und niemandem untertan.

2.These: Ein Christenmensch ist ein dienstbarer Knecht aller Dinge und jedermann untertan.

Man könnte jetzt sagen: Welches von beiden gilt denn nun? Beides auf einmal geht nicht! Luther sagt: Beides ist richtig! Wer diese beiden Thesen in ihrem Zusammenhang ernst nimmt, der hat die Grundlage für ein Verständnis von Freiheit, das heute so aktuell ist wie damals. Wie ist dieser Zusammenhang nun zu verstehen?

2.2. Innere Freiheit und Gewissensbindung

Die Konsequenz der ersten These – „niemandem untertan“ – drückt sich heute aus in dem, was wir „Zivilcourage“ nennen. Menschen stehen zu dem, wovon sie überzeugt sind. Menschen folgen ihrem Gewissen auch dann, wenn die Autoritäten vielleicht etwas anderes sagen. Ganz dem Gewissen zu folgen, weil wir wissen, dass wir am Ende nur Gott selbst verantwortlich sind - das ist innere Freiheit!

Man kann in diesem Gedanken durchaus eine der Wurzeln der modernen Freiheitsidee sehen, so sehr Luther selbst sie durch manche Aussagen immer wieder dementiert hat, am schlimmsten durch seine antijudaistischen Ausbrüche am Ende seines Lebens. Das ist umso trauriger als Luther im Laufe seines Lebens in Glaubensfragen immer wieder für Gewaltlosigkeit plädiert hatte. Als 1522 die Bilderstürmer in Wittenberg zum Mittel der Gewalt griffen, wehrt er sich dagegen: „Predigen will ich's, sagen will ich's, schreiben will ich's. Aber zwingen, mit Gewalt dringen, will ich niemanden, denn der Glaube will willig, ungenötigt angenommen werden... Was meint ihr wohl, was der Teufel denkt, wenn man die Sache mit Gewalt, mit Rumor ausrichten will? Er sitzt hinten in der Hölle und denkt: Oh, wie werden nun die Narren so ein feines Spiel machen!“[1]

Die Orientierung am eigenen Gewissen, die Luther noch die Reichsacht eingebracht hat, gehört heute zu den unhintergehbaren Grundlagen unserer modernen menschenrechtlichen Leitkultur.

2.3. Freiheit als Dienst am Nächsten

Weil wir heute in unserem modernen Freiheitsverständnis nun aber dazu neigen, den Schutz des Individuums vor den Ansprüchen Anderer zum alleinigen Zentrum zu machen und den Freiheitsbegriff damit individualistisch zu verengen, deswegen ist die zweite These vom Beginn der Freiheitsschrift so wichtig.

„Ein Christenmensch ist ein dienstbarer Knecht aller Dinge und jedermann untertan.“

Wir Christenmenschen sagen, wenn wir diese innere Freiheit spüren, eben nicht: Freiheit heißt für mich, dass ich wählen kann, so oder so zu handeln. Freiheit heißt für mich, dass ich unabhängig bin. Freiheit heißt für mich, dass ich keine Bindungen mit anderen Menschen eingehen muss. Das genau heißt es nicht! Sondern: Freiheit kann nie wirklich Freiheit sein, wenn sie nicht gleichzeitig Dienst am Nächsten ist.

So wichtig die Unabhängigkeit von äußeren Autoritäten ist, so wichtig es ist, dem eigenen Gewissen zu folgen, so sehr wir deswegen gemäß diesem Freiheitsverständnis auch die individuellen Freiheitsrechte hochzuhalten

haben, die wir heute glücklicherweise auch in unseren Verfassungen verwurzelt haben, so wichtig ist es, den zweiten Teil des christlichen Freiheitsverständnisses gleichermaßen in den Blick zu nehmen - nämlich den Dienst am Nächsten.

Freiheit ist immer nur dann Freiheit, wenn sie nicht gegen die Nächstenliebe, sondern mit der Nächstenliebe zusammen gedacht wird. Martin Luther hat diesen Zusammenhang in einem Zitat zum Ausdruck gebracht, welches zu meinen Lieblingszitaten gehört. Er sagt: „Sieh, so fließt aus dem Glauben die Liebe und die Lust zu Gott. Und aus der Liebe ein freies, fröhliches, williges Leben, dem Nächsten umsonst zu dienen. Denn so, wie unser Nächster Not leidet und unseres Überflusses bedarf, so haben ja auch wir Not gelitten und seiner Gnade bedurft. Darum sollen wir so, wie uns Gott durch Christus umsonst geholfen hat durch seinen Leib und seine Werke, nichts anderes tun, als dem Nächsten zu helfen.“

Die Lust zu Gott ist es, die uns zum Nächsten hindrängt. Die Liebe, die wir von Gott in unser Herz hinein erfahren, ist es, die uns dazu bringt, uns für die Anderen zu engagieren, für die Gemeinschaft zu engagieren.

Das ehrenamtliche Engagement so vieler Menschen in unserem Land, die Kranken beistehen, die Menschen in sozialen Notlagen helfen, die sich trotz aller Hürden und auch Enttäuschungen auf dem Weg zur Integration für Flüchtlinge in unserem Land einsetzen ist so etwas wie ein Kommentar mitten aus dem Leben zur Freiheitsschrift Martin Luthers.

Im Feld der Sozialethik hat Martin Luther die Konsequenzen der christlichen Freiheit am deutlichsten auf dem Gebiet der Wirtschaftsethik formuliert.

Konkretion der Freiheit: Luthers Wirtschaftsethik

3.1. Kritik an Handelsgesellschaften

In der Schrift „Von Kaufshandlung und Wucher“ von 1524 setzt Luther sich gründlich mit den Praktiken der global agierenden Handelsgesellschaften wie der Fugger auseinander. Er listet zahlreiche Vorgehensweisen dieser Unternehmen auf, in denen er eine Verletzung der gebotenen moralischen Standards sieht. Auf viele dieser Problemanzeigen hat das Modell reagiert, das wir heute „soziale Marktwirtschaft“ nennen.

Besonders scharf wird seine Kritik, wenn diese Vorgehensweisen darauf beruhen, dass die Not der anderen ausgenutzt wird: „Das sind alles öffentliche Diebe, Räuber und Wucherer“. Er kritisiert die Monopolisierung, also das Aufkaufen aller Bestände und der dann anschließenden Verteuerung. Er prangert das Verdrängen anderer vom Markt durch Dumpingpreise an, dass dann eine marktbeherrschende Stellung schafft. Er kritisiert spekulative Termingeschäfte: Zunächst wird die Ware teuer verkauft und erst danach selbst billiger gekauft und geliefert. Er wendet sich gegen die Bildung von Kartellen, die zu unfairen Preisabsprachen führen.

3.2. Wirtschaft und Politik

In seiner Schrift „Von Kaufshandlung und Wucher“ von 1524 nimmt er die engen Beziehungen der Fürsten zu den Handelsgesellschaften in den Blick:

„Könige und Fürsten sollten hier dreinsehen und dem nach strengem Recht wehren. Aber ich höre, sie haben Anteil daran und es geht nach dem Spruch Jes. 1, 23: »Deine Fürsten sind der Diebe Gesellen geworden.« Dieweil lassen sie Diebe hängen, die einen Gulden oder einen halben gestohlen haben, und machen Geschäfte mit denen, die alle Welt berauben und mehr stehlen, als alle anderen, damit ja das Sprichwort wahr bleibe: Große Diebe hängen die kleinen Diebe, und wie der römische Ratsherr Cato sprach: Kleine Diebe liegen im (Schuld)Turm und Stock, aber öffentliche Diebe gehen in Gold und Seide.“ (Von Kaufshandlung und Wucher 282).

Luther hätte wahrscheinlich eine Beleidigungsklage bekommen, wenn er das heute so sagen würde und wäre dabei auch als kirchenleitende Person in ziemliche Ungnade gefallen. Das hat ihn aber ganz offensichtlich nicht davon abgehalten, solches zu schreiben und zu sagen, denn er wollte damit die Verantwortlichen zur Buße treiben.

3.3. Angebot und Nachfrage

Luther übt scharfe Kritik an der Orientierung des Warenpreises am Gesetz von Angebot und Nachfrage.

Die Kaufleute – sagt Luther – haben „unter sich eine allgemeine Regel, das ist ihr Hauptspruch und Grund aller Wucherkniffe, dass sie sagen: Ich darf meine Ware so teuer geben, wie ich kann. Das halten sie für ein Recht, da ist dem Geiz der Raum gemacht und der Hölle alle Tür und Fenster aufgetan. Was ist das denn anders gesagt als so viel: Ich frage nichts nach meinem Nächsten? ... Wird daselbst nicht des Armen Not ihm selbst zugleich mit verkauft?“ Luther wehrt sich gegen eine Orientierung des Preises am Markt, weil sie keine Rücksicht nimmt auf die Bedürfnisse der Schwachen. Gegen den Marktpreis setzt er eine Orientierung am gerechten Preis.

3.4. Christliche Freiheit und moderne Wirtschaft

Luthers Überlegungen zur Wirtschaftsethik haben trotz der zeitlichen Distanz nichts von ihrer Aktualität verloren. In seinen Worten kommt eine wirtschaftsethische Kompetenz zum Ausdruck, die in mehrfacher Hinsicht hoch relevant ist:

Sie offenbaren erstens eine bemerkenswerte Sensibilität für Machtungleichgewichte und deren Ausnutzung durch den jeweils Stärkeren. Luthers klares Auge dafür, wo durch Machtungleichgewichte Unrecht entstehen kann, also die Not von Menschen ausgenutzt werden kann, ist einer der wesentlichen Gründe für die Schärfe mancher seiner Äußerungen.

Sie zeigen zweitens eine politische Klugheit, die aus ethisch klaren Maßstäben ergebnisoffen die jeweils situationsgerechtesten politischen Konsequenzen zieht, anstatt nur Fundamentalkritik zu üben. Luther kennt immer auch Ausnahmen von der Regel, wie das Beispiel des Zinsnehmens zeigt, wenn es dem Ziel, um das es ihm geht, nämlich dass den Armen geholfen wird.

Sie bringen drittens ein klares Bewusstsein für die ethische Dimension des Rechts zum Ausdruck. Das Recht soll den Menschen dienen. Das ist der tiefe Sinn seiner „Zwei-Regimente-Lehre“ und – konsequent weitergeführt - auch seiner Wirtschaftsethik. Luther will, dass Regeln geschaffen werden, die so sind, dass nicht am Ende der Stärkere das letzte Wort hat und den Schwächsten erdrücken kann.

Luther Wirtschaftsethik hat viertens eine klare ideologiekritische Spitze. Er spießt mit seinen Ausführungen oft Rechtfertigungsrhetorik mit Sarkasmus auf, indem er kritisch kommentiert, was Leute vorgeben oder warum sie bestimmte Dinge tun. Dann entlarvt er ihre Worte als Verschleierung von am Ende rein egoistischen Motiven.

Luthers wirtschaftsethische Überlegungen sind fünftens klar gegründet in der biblischen „Option für die Armen“, die eng verknüpft wird mit der „Goldenen Regel“ und dem Doppelgebot der Liebe. „Darum wäre nichts Richtigeres, denn dass ein jeglicher Mensch, so er mit seinem Nächsten soll handeln, ihm vorsetzt, dieses Gebot ‚Was du willst, dass man dir tue, das tue auch deinem Nächsten“.

Was lässt sich aus diesen Überlegungen für heute schließen?

Die Idee der Sozialen Marktwirtschaft integriert in ihren Grundgedanken wesentliche Intuitionen, die schon Luther zum Ausdruck gebracht. Die Frage, ob auch die Schwächsten am Wohlstand teilhaben, ist in diesem Wirtschaftsmodell nicht ein Anhängsel, das aus Barmherzigkeit auch bedacht wird, sondern es wird in die Wirtschaftsordnung selbst eingebaut. Machtungleichgewichte etwa sollen dadurch verhindert werden, dass es starke Gewerkschaften gibt, die als Teil der Tarifautonomie die Interessen der Arbeitnehmer vertreten. Die Herausforderung heute ist es, mit Luther im Rücken die durch solche Merkmale geprägte Soziale Marktwirtschaft immer wieder kritisch zu befragen und zu prüfen, ob sie wirtschaftsethischen Maßstäben, wie schon Luther sie entwirft, noch gerecht wird.

Darin besteht die bleibende Aktualität der Wirtschaftsethik Martin Luthers für heute.

4. Reformation hin zu einer authentischen öffentlichen Kirche der Freiheit

4.1. Die Kirche muss Ja sagen zur Freiheit

Die Individualisierung, die die Entwicklung unserer Gesellschaft in den vergangenen Jahrzehnten zunehmend geprägt hat, führt keineswegs, wie manchmal angenommen, automatisch in einen selbstzentrierten Individualismus. Vielmehr heißt Individualisierung zunächst nur, dass Menschen heute im Prinzip die Freiheit haben, ihr Leben selbst so zu gestalten, wie sie es wollen, anstatt Rollen und Lebenswege vorgegeben zu bekommen. Das Wort von der „Bastelbiographie“, erfunden vom Soziologen Ronald Hitzler, ist in diesem Zusammenhang fast schon in den allgemeinen Sprachschatz übergegangen. Es bezeichnet den mit Chancen wie Risiken verbundenen Versuch, sein Leben soweit wie möglich selbst zu gestalten. Das Engagement zahlloser Ehrenamtlicher in Parteien, Kirchen und Vereinen zeigt, dass solche Individualisierung keineswegs in Egoismus und Vereinzelung führen muss. Der in solchem Engagement zum Ausdruck kommende solidarische Gebrauch der Freiheit ist ein lebendiges Zeugnis dafür, dass Individualisierung und Gemeinschaft nicht in Gegensatz zueinanderstehen müssen. Vielmehr entsteht Gemeinschaft von Individuen heute auf dem Hintergrund bewusster und überlegter Entscheidungen der Einzelnen. Wer sich heute in der Kirche engagiert, tut das aus einer bewussten Entscheidung heraus und nicht, weil er oder sie im Grunde kaum eine andere Wahl hätte.

Und auch Kirchenaustritte erscheinen in einem neuen Licht, wenn sie auch als Ausdruck einer zu bejahenden Individualisierung gesehen werden. So schmerzlich Kirchenaustritte als Konsequenz von bewussten Entscheidungen sind, so gewichtig ist gleichzeitig die Tatsache, dass eine erfreulich hohe Zahl von Menschen – in Deutschland gegenwärtig rund 46 Millionen - auch unter den Bedingungen von Individualisierung bewusst Mitglied der Kirche sein wollen.

4.2. Die Kirche der Freiheit muss eine geistlich gegründete Kirche sein.

All das, was ich an Beispielen genannt habe, über das öffentliche Leben, über die Wirtschaft, über die Konsequenzen dafür, wird natürlich dann schal, wenn es nicht gegründet ist in dem, was Martin Luther über die geistliche Freiheit sagt. Nämlich immer wieder von neuem zu erfahren, dass wir Christenmenschen einen Gott haben, der mit uns geht in guten und in schweren Tagen. Der uns immer wieder von Neuem Kraft gibt dann, wenn wir im Gottesdienst beieinander sind, wenn wir Gott loben, zu ihm beten, wenn wir durch die Musik das Herz geöffnet bekommen, immer wieder von Neuem das, was die Kraft Jesu Christi ausmacht, in unser eigenes Leben einbringen können und erfahren dürfen. Dass der Gottesdienst, das Gebet, ja auch die persönliche Frömmigkeit wirklich immer wieder von neuem diese wunderbare Freiheit in die Seele einsickern lässt, die wir durch das Lesen in der Bibel, durch das Beten, durch den gemeinsamen Gottesdienst, durch das Hören auf das Wort, immer wieder von Neuem spüren dürfen. Das macht die innere Freiheit eines Christenmenschen aus, das ist die Grundlage alles dessen, was wir als Kirche tun und das, was wir als Kirche heute sein können.

4.3. Die Kirche muss hineinsprechen in die Fragen, die für die modernen, ganz säkularen Menschen von heute die zentralen Lebensfragen sind.

Wenn wir heute auf das schauen, was moderne Menschen von heute erhoffen und ersehnen und dann in unsere Bibel schauen, dann werden wir staunen. „Dankbar leben lernen“, das würden die meisten Menschen als ein wesentliches Ziel sehen. Ich wüsste nicht, welche Grundorientierung mich dankbarer machen könnte, als der Glaube an den Gott, den wir als Schöpfer der Welt bekennen. Ein Glaube, der immer wieder von Neuem deutlich macht, dass wir uns nicht selbst verdanken, sondern dass wir alles, was wir haben, alles was wir sind, ein Geschenk Gottes ist, dass wir jeden Tag aus der Hand Gottes entgegennehmen dürfen und „danke“ dafür sagen - das tun wir im Gebet, das tun wir in einem Gebet vielleicht zu Hause, das tun wir in jedem Gottesdienst (da sprechen wir ein Dankgebet). - Und ich daher sage auch: Im täglichen Leben lebt es sich anders, wenn man danken gelernt hat.

Die Glücksratgeber reichen jedenfalls nicht aus. Wenn ich die aufschlage und dasteht: „Lernen Sie dankbar zu leben“, dann wird das erstmal nur meinen Kopf erreichen. Es muss aber in die Seele einsickern! Es braucht ein Sich-Einlassen auf eine Tradition, die mich lehrt, dankbar zu werden; die mich lehrt zu staunen. Das ist es, was das alte Wort „Frömmigkeit“ bezeichnet. Frömmigkeit ist kein Auslaufmodell; ich glaube, es ist ein

Zukunftsmodell. Wer Psalm 103 liest: „Lobe den Herrn, meine Seele, und vergiss nicht, was er Dir Gutes getan hat!“, der lernt dankbar zu leben.

Das Wort „self made man“ ist aus dieser Perspektive eine glatte Häresie. Wir sind nicht self-made-men, sondern God-made-men and-women. Die Überwindung dieser Häresie führt in die Solidarität. Weil wir wissen, wie sehr wir selbst das, was wir sind und was wir haben, anderen verdanken, weil wir es von unserem Glauben her als Geschenk Gottes verstehen dürfen, deswegen werden wir frei für andere.

Noch ein Beispiel: Aus der Zuversicht leben lernen. Mit den Hoffnungstexten der Bibel im Rücken leben.

Die Kirche lebt aus solchen Hoffnungsgeschichten, die die ganze Bibel durchziehen. Schon die im Alten Testament in vielfältigen Quellen geschilderte Geschichte des Volkes Israel mit seinem Gott, in die die Kirche hineingenommen ist, ist eine solche Hoffnungsgeschichte. Die Herausführung des Volkes Israel aus der Sklaverei in Ägypten steht dafür, aber auch die Wüstenwanderung, die das Volk allein deswegen durchgehalten hat, weil die Aussicht auf das verheißene Land am Leben gehalten hat.

Jahrhunderte später ist es die Zeit im Exil in Babylon, in der das Volk Israel am Boden liegt. Vertrieben aus dem eigenen Land. Ohne Perspektive. Scheinbar verlassen von dem Gott, der weit weg in Jerusalem im Tempel wohnte.  Und dann lassen Propheten mitten hinein in ein zertrümmertes Leben die Stimme Gottes laut werden. Es ist eine Stimme der Hoffnung. Der Lebensmut kommt zurück. Einige der berührendsten Hoffnungslieder, die die Menschheit kennt, entstehen.

„Wenn der HERR die Gefangenen Zions erlösen wird, so werden wir sein wie die Träumenden. Dann wird unser Mund voll Lachens und unsre Zunge voll Rühmens sein… Die mit Tränen säen, werden mit Freuden ernten. Sie gehen hin und weinen und tragen guten Samen und kommen mit Freuden und bringen ihre Garben“ (Ps 126,1-2.5-6).

In der Menschwerdung Gottes, die wir an Weihnachten feiern, hat die Hoffnung, aus der wir Christen leben einen Namen und ein Gesicht bekommen. „Gelobt sei Gott, der Vater unseres Herrn Jesus Christus, der uns nach seiner großen Barmherzigkeit wiedergeboren hat zu einer lebendigen Hoffnung durch die Auferstehung Jesu Christi von den Toten“ (1. Petrus 1,3).

Welche Kraft in dieser Hoffnung steckt, hat Dietrich Bonhoeffer einmal so zum Ausdruck gebracht: „Wenn schon die Illusion im Leben der Menschen eine so große Macht hat, dass sie das Leben in Gang hält, wie groß ist dann erst die Macht, die eine absolut begründete Hoffnung für das Leben hat, und wie unbesiegbar ist so ein Leben.“ (DBW 8, 544)

4.4. Wir können heute nur Kirche der Freiheit sein als eine ökumenisch ausgerichtete Kirche.

Da, wo wir unsere Konfessionen lieben, da wo wir authentisch evangelisch, authentisch katholisch sind, da müssen wir auch die ökumenische Sehnsucht im Herzen haben. Es geht gar nicht anders. Denn wir haben ja über unserem Glauben den einen Zugang zu unserem Herrn Jesus Christus, und das ist kein katholischer Christus, kein evangelischer Christus und auch kein orthodoxer Christus, sondern der eine Herr. Und deshalb dürfen wir unsere jeweiligen Traditionen als Türöffner für den ganzen Reichtum, der sich uns auftut, sehen, wenn wir Christus nachjagen. Dass schon Martin Luther weit davon entfernt war, konfessionalistisch mit seiner neuen Lehre umzugehen, zeigen Sätze von ihm aus dem Jahr 1522:

„Erstens bitte ich, man wolle von meinem Namen schweigen, und sich nicht lutherisch, sondern einen Christen nennen. Was ist Luther? Ist doch die Lehre nicht mein. Ebenso bin ich auch für niemanden gekreuzigt. Paulus wollte nicht leiden, dass die Christen sich Paulisch oder Petrisch hießen, sondern Christen. Wie käme denn ich armer stinkender Magensack dazu, dass man die Kinder Christi dürfte nach meinem nichtswürdigen Namen nennen? Nicht so, meine lieben Freunde! Lasst uns tilgen diese parteiischen Namen und uns Christen heißen nach Christus, dessen Lehre wir haben.“

Ich werde auf der nächsten Synode keine Umbenennung unserer evangelisch-lutherischen Kirche in Bayern stellen, aber dieses Zitat sollten wir immer wieder hören, damit wir unseren Namen nicht konfessionalistisch missverstehen, sondern als das verstehen, was er sein soll; als die Aufnahme des Impulses Martin Luthers, um den es ihm immer gegangen ist, nämlich auf Christus schauen, „was Christum treibet.“ Das ist das Zentrum der Bibel und das ist das Zentrum unseres Glaubens, und deswegen bin ich fest davon überzeugt, dass die Zukunft unserer Kirche eine ökumenische sein wird.

Deswegen haben wir auch das Reformationsjubiläum 2017 als Christusfest in ökumenischer Perspektive gefeiert.

4.5. Die Kirche muss im interreligiösen Dialog die Freiheit ausstrahlen, von der sie spricht.

Gegenwärtige öffentliche Diskussionen über Religion und insbesondere über das Verhältnis von Christentum und Islam sind häufig geprägt von einseitiger Wahrnehmung der Defizite und Gefahren. Wenn die Verfallsformen einer Religion Grundlage für ein endgültiges Urteil sein könnten, hätte das Christentum angesichts seiner leider auch zu diagnostizierenden Gewaltgeschichte schlechte Karten. Kreuzzüge, Inquisition, Vernichtung der amerikanischen Ureinwohner, mörderische Konfessionskriege und vieles mehr müsste diese Religion grundsätzlich in Frage stellen. Wir Christen können dankbar sein, dass die radikale Liebe Jesu Christi selbst durch die schlimmsten Perversionen derer, die sich auf ihn berufen haben, nicht disqualifiziert werden konnte.

Auch und gerade aus der Sicht des Christentums sage ich deswegen: Zukunft hat nur ein Umgang mit anderen Religionen, der von den Stärken der jeweils anderen Religion ausgeht und diese Stärken durch einen wertschätzenden Umgang fördert. Wo auf der Basis eines solchen wechselseitig wertschützenden Umgangs Vertrauen wächst, ist auch ein offener Umgang mit den jeweiligen Unterschieden zwischen den Religionen möglich. Und die Unterschiede zu anderen Religionen liegen da klar zutage, wo wir Christen von Christus als dem Gekreuzigten und Auferstandenen und von Gott als dem dreieinigen Gott sprechen.

Die größte Überzeugungskraft entwickelt die christliche Botschaft, wenn sie ausstrahlt, wovon sie spricht. Der christliche Glaube bekommt seine Kraft nicht aus der Abgrenzung, sondern aus der eigenen Glaubensgewissheit. Ich wünsche mir, dass wir Christen überzeugend von unserem Glauben erzählen können und dass man uns die zentrale Aussage unseres Glaubens abspürt: dass in Jesus Christus Gottes Liebe Mensch geworden ist. Wir bezeugen ihn dann am klarsten, wenn wir den Frieden und die Versöhnung, die mit Christus in die Welt gekommen ist, selbst ausstrahlen.

Genau das ist der Kern dessen, was wir in der christlichen Tradition Freiheit nennen.


[1] Luther, Martin: Acht Sermone gepredigt zu Wittenberg in der Fastenzeit. Luther-Werke Bd. 4, S. 69f.