Eine Eisdiele als Fluchtpunkt

Wie Einrichtungen für Menschen mit Behinderung die Krise meistern

Beschäftigte der Celler Allertal-Werkstatt bauen während der Corona-Isolation auf dem Gelände der diakonischen Lobetalarbeit in Celle eine Feuerstelle

Menschen mit Behinderungen, die in Werkstätten arbeiten und in Wohngruppen leben, haben es in der Corona-Krise besonders schwer. Die meisten von ihnen dürfen noch nicht wieder an ihre Arbeitsplätze zurückkehren und in der Regel die Einrichtung auch nicht verlassen. Beschäftigte der Celler Allertal-Werkstatt haben deshalb während der Corona-Isolation auf dem Gelände der diakonischen Lobetalarbeit in Celle eine Feuerstelle gebaut.

Celle/Gifhorn (epd). Sie pflegen eigentlich Beete und Bäume, pflastern Wege und beflocken Fußballtrikots. Doch die Beschäftigten der Celler Allertal-Werkstatt dürfen wegen der Corona-Pandemie seit Wochen ihre Arbeitsstätten nicht betreten, dazu Wohngruppen und Familien nicht verlassen. Sie alle haben eine körperliche oder geistige Behinderung. Und häufig einen enormen Bewegungsdrang, erzählt Susanne Kok, die eine Wohngruppe in der Celler Lobetalarbeit betreut, zu der die Werkstatt gehört.

Nun seien viele hundert Menschen 24 Stunden am Tag auf engstem Raum zusammen. „Diese Situation ist hart und tut uns allen sehr leid. Die sozialen Kontakte, das Umarmen, das fehlt enorm.“ Dabei sei menschliche Nähe ein wesentlicher Faktor in der diakonischen Lobetalarbeit, sagt Kok.

So viel Abwechslung wie möglich

Rund 312.000 Menschen mit Behinderung sind in Deutschland zurzeit in 736 Werkstätten beschäftigt in Niedersachsen sind es 29.000 in mehr als 200 Einrichtungen. Nach der dortigen Corona-Verordnung dürfen diese seit Ende Mai unter strengen Auflagen wieder öffnen. So sollen auch in Celle ab dem 8. Juni wieder die Werkstatt und die Tagesförderstätte geöffnet werden. Allerdings lässt der Erlass dies zunächst nur für diejenigen zu, die nicht auf dem Gelände oder dort allein wohnen. Die große Mehrheit der knapp 800 Erwachsenen und knapp 40 Kinder mit Behinderungen wohnt betreut auf dem Gelände und bleibt somit außen vor.

Die Lage bleibt schwierig. Umso wichtiger sei es gewesen, sie nicht eskalieren zu lassen, sagt Kok: „Unser hauseigener psychologischer Dienst ist die gesamte Zeit über auf Konflikte vorbereitet – die es aber kaum gegeben hat. Vielleicht liegt das auch daran, dass wir den Bewohnern so viel Abwechslung wie möglich verschafft haben.“

Gleich zu Beginn der Schließung habe die Einrichtung Paletten, Farben und weiteres Material gekauft, und dann hätten die Bewohner vielfach ganz selbstständig Möbel gebaut, den Garten umgebuddelt und eine Feuerstelle gestaltet. Zudem seien Betreuer mit ihnen in Kleinbussen zu Burger-Restaurants oder zur Eisdiele gefahren. So hätten viele das Gelände unter Aufsicht zumindest eine Zeit lang verlassen. „Natürlich durften sie nicht aus dem Auto aussteigen. Aber es hat allen trotzdem viel Freude gemacht.“

Hohes Risiko

Die Entscheidung des Landes, Einrichtungen wie Lobetal gewissermaßen stillzulegen, können die Verantwortlichen trotz aller individuellen Härten nachvollziehen: „Wir haben die Gefährdungslage individuell analysiert und sind auf 230 Hochrisiko-Patienten unter den Bewohnern gekommen“, sagt Michael Spiller, der den Lobetal-Krisenstab leitet. „Deshalb halten wir uns strikt daran, Mitarbeitende nicht in mehreren Bereichen einzusetzen.“ Dienste tauschen oder Aushelfen, das gehe aktuell nicht.

Angesichts der Isolation der Bewohner sind das größte Risiko in Lobetal die knapp 1.300 Betreuer, die täglich auf das Gelände kommen und so das Coronavirus von außen einschleppen könnten. „Wir haben schon vor der landesweiten Regel das Tragen eines Mund-Nasen-Schutzes per Dienstanweisung zur Pflicht erhoben“, sagt Spiller.

Das Besuchsrecht ist inzwischen gelockert worden, eine Person pro Bewohner darf jeweils zu Besuch kommen. Zwischen beiden steht ein Tisch von zwei Metern Breite. Und niemand darf den anderen anfassen.

Verlust der Tagesstruktur

Auch die Diakonischen Werkstätten Kästorf bei Gifhorn sind – wie praktisch landesweit alle Arbeitsstätten für Menschen mit Behinderung – seit März zwangsweise geschlossen. Nur ein minimaler Notbetrieb mit wenigen Menschen findet statt. „Das Betretungsverbot war das Bitterste in dieser Krise“, sagt Geschäftsführerin Gabriele Merkel. „Denn wir haben hier im Grunde sehr komfortable Räume. Dennoch durften die zwei Häuser weiter wohnenden Beschäftigten nicht an ihren Arbeitsplatz kommen, der für sie persönlich oft große Bedeutung hat.“

In der Werkstatt arbeiten 35 Menschen mit seelischen Behinderungen. Davon sind zehn im Berufsbildungsbereich tätig, wo sie – gefördert von der Arbeitsagentur – für den ersten Arbeitsmarkt fitgemacht werden sollen.

Besonders wichtig war es Merkel zufolge, die psychischen Beeinträchtigungen der Beschäftigten gut im Blick zu behalten: „Der Verlust der Tagesstruktur musste aufgefangen werden. Und es war wichtig, dass die Leute keine Ängste entwickeln, etwa beim Busfahren.“ Es sei gelungen, an den Beschäftigten dranzubleiben: „Wir wussten immer, ob etwas kippt.“

Alexander Nortrup (epd)