Predigt am 1. Weihnachtstag im Dom zu Lübeck

Predigt der Ratsvorsitzenden der EKD, Bischöfin Kirsten Fehrs, zu Johannes 1

Liebe Weihnachtsgemeinde,

der Morgen danach. Eine ganz besondere Stimmung, alle Jahre wieder. Der Heilige Abend mit all seinem Gewusel und den Geschenken, dem Krippenspiel, schönen Besuchen, Christbaum und Kerzen, vielleicht auch mit Wehmut und Einsamkeit, all das liegt hinter uns.

Die Ratsvorsitzende der EKD, Bischoefin im Sprengel Hamburg und Luebeck, Kirsten Fehrs.

Und – das ist eben auch Weihnachten 2024 – es liegt ein Heiligabend hinter uns, der in besonderer Weise von Trauer überschattet wurde, um die Opfer und Verwundeten von Magdeburg. Das „O du fröhliche“ kam, vermute ich, erst einmal zögerlich über die Lippen. Denn die Bilder aus Magdeburg gehen ja wirklich zu Herzen. So viel sinnloser Tod, zerbrochene Lebensentwürfe und verlorene Träume. So viel Leid und Trauer. Und Fassungslosigkeit, wie ein einzelner radikalisierter, völlig wirrer Menschenverächter ein ganzes Land in Angst und Trauer versetzt. Und in Wut. Wut, die immer aufgeheizter und von Extremisten im Netz geschürt wird. Das ist doch zum Fürchten.

Deshalb ist die Weihnachtsgeschichte in diesen Tagen so wichtig, liebe Geschwister. Mit ihrer leisen Besonnenheit. Und zugleich ihrem hingebungsvollen Dennoch. Ihrem engelgesungenen „Fürchtet euch nicht!“

Auf gar keinen Fall nämlich dürfen Angst und Zorn die Macht über uns gewinnen. Also hinhören! Die Weihnachtsgeschichte ist ein einziges kraftvolles und zärtliches Dennoch der Liebe gegen jeden Hass. Und ihre vertrauten Worte ein Zuhause für all die aufgewühlten Seelen. Damit sie zur Ruhe kommen.

Fürchte dich nicht. Dieses Dennoch der Zuversicht trägt die Menschheit von jeher durch die Kriege und Nöte der Jahrhunderte. Es singt „O du fröhliche“ und weiß dennoch genau, dass gerade dieses Lied im Schmerz geboren wurde, wie unser Jesuskind selbst.

Also! Gestern „Freue dich, o Christenheit“, und heute auch. Dennoch. Denn vor uns liegt ein neuer Morgen, liebe Geschwister. Weihnachtslicht am hellen Tag. Festliche Stimmung der Frühaufsteher, Choräle und Orgelklang. Ich liebe diesen 1. Weihnachtstag mit Ihnen und euch. Die Feierlichkeit und das Abendmahl, die Gemeinschaft und die vielen Engel hier.

Heute lässt sich das Geschehen in Bethlehem mit frischem Blick noch einmal neu lesen. Da sieht man eben nicht allein das traute, hochheilige Paar, angereichert mit Ochs und Esel und bösen Wirten. Nein, man sieht tiefer. Nähert sich diesem ergreifenden Geheimnis, wie Gott in einem Kind nieder-kommt. Versucht zu erfassen, dass tatsächlich Gott in seiner unendlichen Größe winzig kleine Hände und unabgelaufene Füße bekommen hat. Sagenhaft.

Ich liebe diese zu Herzen gehende Geschichte, die solch Geheimnis in meine kleine Welt hineinträgt, mit all ihren Bildern und feinsinnigen Worten. Da klingt‘s doch in unserem Predigttext recht abstrakt und deutlich nüchterner: „Am Anfang war das Wort – und das Wort war bei Gott und Gott war das Wort. Und das Wort ward Fleisch.“ Mensch! Tatsächlich Mensch, Krippenkind, Friedefürst, die Liebe auf zwei Beinen, Hoffnung ohne Ende.

Mensch, was liebe ich dieses Jesuskind. Und ich liebe den Mut der Hirten, die dem Engel vertrauen und sofort zum „Kindkieken“ loseilen, um das Wunder, das Geheimnis zu sehen. Und ich liebe die Courage der jungen Maria, wie sie ledig, schwanger, Vaterschaft unklar, in der Fremde, ohne vernünftiges Obdach, ohne Hebamme, ohne hilfreiche Großfamilie in einem kalten Stall Gottes Sohn gebiert. In dieses ganze Elend der Welt hinein.

Und wenn schon Maria es nur ahnt, wir wissen es: Er wird die ganze Welt verändern. So sehr, dass wir hier über 2.000 Jahre später im Dom zu Lübeck seine Geburt feiern. Happy Birthday Jesus. Jedes Jahr geht es mir neu zu Herzen, wie zwischen staubigen Haaren, verpieselten Windeln und rauen Händen das Leben in all seiner unfassbaren Schönheit lebendig wird, wie es Kraft und Mut in diese Welt trägt, es mit den Krisen aufzunehmen. Also: Fürchte dich nicht, Mensch!

All das hat der philosophisch begabte Johannes am Anfang seines Evangeliums, den wir eben hörten, verdichtet. Luthers Übersetzung las ich eben. Man könnte es aber auch so übersetzen: „Am Anfang war die Weisheit. Und die Weisheit war bei Gott. Und die Weisheit war wie Gott.“ Und wird Mensch. Also: Weisheit auf zwei Beinen.

Denn – das ist interessant – Johannes nimmt hier die jüdische Weisheitstradition auf. Die Weisheit hat in dieser Vorstellung nämlich Figur, buchstäblich bella figura, sie ist göttliche Mitschöpferin und begleitet Gott mit ihrem Rat, als er die Erde schuf, allein durch sein Wort. Eine Seelenstimme ist sie, die die Lebensfreude in die Welt bringt, ein Energiebündel. Chokmah heißt die Weisheit auf Hebräisch, Chok für Potential, Möglichkeit. Mah: Das, was ist. Also: Das Potential zu sein. Weise zu sein. Diese Möglichkeit wird an Weihnachten Materie. Heißt: Das göttliche weise Wort wird Fleisch. Wird Mensch wie wir, verletzbar, mit Haut und Herz, zusammengesetzt aus 100 Billionen Zellen. Gottes Sohn. Willkommen, kleiner Herre Christ, du Licht der Welt.

„Und es wohnte bei uns.“ Ein wunderbares Bild: Das Wort wohnt. Als Licht. Macht die Welt zu einem hellen Ort. Und bedeutet ja nichts anderes als: Ein jüdischer Mensch, Jesus von Nazareth, geboren in Bethlehem, zieht bei uns ein. Als menschgewordene Weisheit, die unseren Verstand erhellen will. Einer, der mit seinem Leben, seinen Reden und seinem Blick auf die Welt erkennen lässt, wie Gott ist. Wie ein Mensch nämlich, der alle zum Festessen einlädt, auch die, die eigentlich niemanden haben mag.

Ein Vater, der seinen Sohn in die Arme schließt, auch wenn er sich danebenbenommen hat. Ein Mensch, der sich hingibt und der Liebe unbedingt treu bleibt. Ein Freund, der Brot, Fisch und Wein und sein Wort teilt. Einer, der Angst hat und stirbt. Einer, der dich kennt und an dich glaubt. Einer, der deinen Glanz und deine Schönheit sieht. Einer, der das Leben liebt und dich umarmt.

Weihnachten feiert diese Menschlichkeit. Es ist diese einfache, aber umwerfende Idee, an die sich an Weihnachten auch Menschen erinnern, die ansonsten mit dem Christsein nichts am Hut haben. Aber menschlich sein, das ist eine universale Sehnsucht. Ein Mensch sein, das heißt: denken, reden, lachen. Sich mit anderen freuen. Schmerz und Leid mitempfinden. Andere trösten und sich selbst annehmen. Anderen zuhören und verstehen wollen. Da sein, Gutes wünschen. Segnen. Lieben. Aus all diesen Möglichkeiten heraus Mensch sein, Mensch werden, menschlich handeln. Dass das geht, wirklich und wahrhaftig, das feiern wir an Weihnachten – und erleben es doch täglich, schauen wir uns um!

Dass es allerdings die Menschlichkeit in dieser Welt nicht gerade leicht hat, weiß schon Johannes. „Das wahre Licht – die Welt erkannte es nicht. Die Seinen nahmen ihn nicht auf.“ Ein Aufnahmestopp sozusagen, für die Weisheit, für das Wort Gottes und seine Menschlichkeit, das gab es immer schon. Heute ist das nur allzu oft zu erleben. Etwa in der Migrationsdebatte derzeit. Ist es möglich, dass in unserem Land mit seiner Geschichte tatsächlich das Grundrecht auf Asyl angefragt wird?

Dass die syrischen Mitbürger und Mitbürgerinnen jetzt mal schnell nach Hause zurückkehren sollen? Wie hört sich das alles für die Menschen an, die seit Jahren hier leben, arbeiten, Steuern zahlen und als Alten- und Krankenpflegerinnen, Busfahrer, Bäckereiverkäuferin tätig sind?

Vor einigen Wochen war ich wieder einmal im Hoffnungsgrund, ihr wisst, das umgebaute ehemalige Pastorat in Sandesneben, jetzt eine Herberge für Geflüchtete. 19 Menschen finden dort in diesen Tagen Zuflucht und Ruhe. 10 Erwachsene und 9 Kinder, aus Syrien, Afghanistan, Tschetschenien, aus aller Herren Länder, ein Neugeborenes darunter. Das ist die Realität von Flüchtlingsinitiativen, die von unzähligen Ehrenamtlichen getragen werden: Familien in großer Not erfahren hier Achtung und Hilfe. Nächstenliebe wird zum Hoffnungsgrund. Die Menschlichkeit wohnt dort in jedem Zimmer, in der Küche, im Kindergarten, ja, im ganzen Dorf.

Ahmet aus dem Iran hat just an diesem Tag seinen Abschiebungsbescheid bekommen und große Angst. Dabei war er kurz davor, seine Ausbildung als Altenpfleger zu beginnen. Und Olena aus der Ukraine sagt: „Es ist so verletzend, wenn du immer hörst: ,Geht doch nach Hause.‘ Doch in Bachmut, wo ich herkomme, ist kein Haus mehr.“ Kein Willkommen also für sie, kein Bleiberecht für die, die aus Kriegs- und Krisengebieten kommen und zu Recht Schutz suchen? Diese eigentümlich ver-schattete Debatte richtet so viel Unheil an. „Das wahre Licht – die Welt erkannte es nicht.“ Tatsächlich. Dabei möchte Gott so gern hier unter uns wohnen!

Allerdings: Eine Wohnung zu finden und zu halten, ist inzwischen wirklich schwierig – viele verarmen bei den hohen Mieten. Und vielleicht ist das wahre Licht auch im Abseits gelandet, weil der Mensch zu alt oder nicht agil genug ist. Weil er in der falschen Branche arbeitet oder alleinerziehend ist? Das Göttliche wird ein kleiner, zerbrechlicher, geflüchteter Mensch und ist nicht gewollt. Es fand keinen Platz unter uns. Das Menschliche ist verletzlich und zart, bedürftig und empfindsam. Die Welt aber hat harte Grenzen.

Ja, das ist wahr, Johannes hat recht. Wir kommen an unsere Grenzen mit der Menschlichkeit. Und die sich ehrenamtlich oder auch beruflich engagieren, erfahren diese Grenzen oft. Dennoch – das beeindruckt mich so! – sie lassen sich nicht bange machen. Kümmern sich tapfer um Geflüchtete oder Obdachlose, helfen Pflegebedürftigen, Vereinsamten, psychisch Belasteten und Verzweifelten. Wissend, dass es Grenzen des Möglichen gibt.

Deshalb ist es so wichtig, dieses Dennoch der Weihnacht: Der Hoffnungsgrund. Die Nähe Gottes zu uns ereignet sich genau da, wo wir alles nur unmöglich finden. Gerade dort, wo‘s wehtut, kalt ist und man sich ohnmächtig fühlt. So will Gott bei uns einziehen – hell und lebensfreudig, hoffnungsstark und friedensmutig.

Öffnen wir ihm Tür und Tor. Dann haben nämlich all die Trauer und die Wut, der Hass und die Angst nicht mehr so viel Platz in unserem Lebenshaus. Dafür dann aber die Freude, die Lebendigkeit. Das also, was zum Dennoch der Weihnachtsgeschichte ja unbedingt dazugehört, das „Jauchzet, frohlocket!“

Ich wünsche Ihnen fröhliche und gesegnete Weihnachten! Mit seinem Frieden, höher als alle Vernunft. Er bewahre unsere Herzen und Sinne in Christus Jesus. Amen.