Chemikalienpolitik

Stellungnahme zu der Umsetzung des Weißbuches "Strategie für eine zukünftige Chemikalienpolitik" (KOM (2001) 88)

PDF: http://europa.eu.int/comm/environment/chemicals/0188_de.pdf

Vorwort

Die Evangelische Kirche in Deutschland (EKD) vereinigt die 24 lutherischen, reformierten und unierten Landeskirchen in der Bundesrepublik Deutschland. Zur Zeit gehören in Deutschland etwa 27 Millionen Christinnen und Christen den Landeskirchen in mehr als 18.000 rechtlich selbstständigen Kirchengemeinden an. Die EKD nimmt die ihr übertragenen Gemeinschaftsaufgaben wahr und vertritt die Gliedkirchen auch auf internationaler Ebene nach außen. Im Rahmen ihres Öffentlichkeitsauftrages nimmt sie Stellung zu ethischen, kirchenspezifischen, weltanschaulichen und gesamtgesellschaftlichen Fragen, insbesondere wenn Gesichtspunkte wie Frieden, Gerechtigkeit und die Bewahrung der Schöpfung berührt sind.

Anlass der Stellungnahme

Im Februar 2001 legte die Kommission das Weißbuch "Strategie für eine zukünftige Chemikalienpolitik" (KOM (2001) 88) vor. Zu dieser Initiative hat sich das Europäische Parlament am 15. November 2001 in einer Entschließung grundsätzlich zustimmend geäußert. Kernstück der vorgelegten Kommissionsempfehlung ist ein einheitliches Registrierungs-, Evaluierungs- und Zulassungssystem für neu auf den Markt kommende chemische Stoffe und sog. chemische Altstoffe (REACH). Die geplante Strategie basiert auf einem gestuften Testverfahren, das entsprechend der Richtlinie 67/548/EWG je nach produzierter Menge der Chemikalien in-vitro-Methoden oder Tierversuche vorschreibt. Auch wenn die genaue Anzahl der benötigten Versuchstiere vorab kaum präzise zu ermitteln ist, gehen doch Schätzungen von einer Größenordnung in Höhe mehrerer Millionen aus. Diese Dimension ist für die EKD der Anlass, zu der gegenwärtigen Diskussion über die rechtliche Umsetzung des Weißbuches Stellung zu beziehen.

Die Position der EKD

Christen gewinnen und verantworten ihr ethisches Urteil im Dialog mit den biblischen Schriften. Dem biblischen Zeugnis entnimmt die EKD einerseits einen geschöpflichen Unterschied zwischen Mensch und Tier, der ein Herrschaftsverhältnis einschließt. Andererseits "versachlicht" die Bibel das Tier aber auch nicht zu einem bloßen Ding – die biblische Ethik weist den Menschen an, die Zufügung von Leiden und Schmerzen zu begrenzen oder ganz zu vermeiden. Der Mensch wird deshalb nach unserer Überzeugung seiner geschöpflichen Verantwortung nur dann gerecht, wenn er die Gewalt seinem Mitgeschöpf gegenüber so weit wie möglich mindert. (1)

Innerhalb dieses Rahmens respektiert die EKD, dass sich unterschiedliche Positionen zu der Problematik von Tierversuchen vertreten lassen. Wer z.B. der Nutzung von Tieren bis hin zu ihrer Tötung durch Menschen zustimmt, der wird sich auch nicht prinzipiell gegen Tierversuche wenden. Wer hingegen die Rechtfertigungsgründe für die Tötung von Tieren sehr restriktiv fasst und die Tötung nur zur Abwehr von Gefahren und zur Deckung des elementaren Lebensbedarfs zulässt, der wird Tierversuche nur in äußerst begrenztem Umfang oder überhaupt nicht akzeptieren. Auch im Bereich der christlichen Kirchen werden z.T. unterschiedliche Auffassungen vertreten. Das folgende Votum zu dem durch das Weißbuch angestoßenen Prozess darf aber sicher als Ausdruck einer großen Übereinstimmung bezeichnet werden, die Christen in dieser Frage über solche Differenzen hinweg verbindet:

Die EKD begrüßt ausdrücklich das Vorhaben, die große Informationslücke bei den zum Gebrauch bestimmten Chemikalien zu schließen. Die Erhebung aller relevanter Daten und die konsequente Aufklärung der Bevölkerung leisten einen überfälligen Beitrag für den Umwelt- und Verbraucherschutz.

Dieses wichtige Ziel für die Sicherheit von Mensch und Umwelt darf allerdings nicht blind machen für den Preis, den nach jetzigem Stand der Planungen eine außerordentlich große Anzahl von Tieren zu zahlen haben. Das ernsthafte Bemühen, die Zahl der notwendigen Tierversuche auf das absolute Minimum zu reduzieren, muss aus Sicht der EKD oberste Priorität bei der Umsetzung der im Weißbuch gesteckten Ziele haben. Entsprechende Absichtsbekundungen der Kommission und Forderungen des Parlamentes werden sich an der Bereitschaft zu Konsequenzen messen lassen müssen, die zu einer drastischen Reduzierung der ursprünglich geschätzten Anzahl notwendiger Tierversuche führen.

Zu diesen Konsequenzen gehören aus Sicht der EKD:

  1. Notwendig ist eine Modifikation des vorgesehenen Testverfahrens. Wir plädieren diesbezüglich in Übereinstimmung mit der Forderung von Tierschutzverbänden für einen schrittweisen Ansatz, der nach jeder Teststufe eine Gefahrenvorhersage vorsieht. In einigen Fällen ist schon aufgrund der chemischen Struktur eine Bewertung der Chemikalie und ihrer Gefahren möglich. Voraussetzung für diese Prüfung auf der ersten Stufe ist freilich die Verpflichtung der Industrie, sämtliche zur Verfügung stehenden Daten über die chemischen Stoffe offenzulegen. Sofern sich bei dieser ersten Stufe der Verdacht einer Gefährdung ergibt, sind entweder auch ohne Tierversuche die Konsequenzen entsprechend dem Vorsorgeprinzip (Art. 174 Abs. 2 des Vertrages von Nizza) zu ziehen, oder es werden weitere Tests einschließlich Computersimulationen und in-vitro-Versuche nötig. Bleiben anschließend immer noch Verdachtsmomente bestehen, stellt sich umso dringlicher die Frage nach den geeigneten Konsequenzen. Nur wenn ein Verzicht oder Ersatz durch weniger schädliche Substanzen nicht möglich zu sein scheint und sämtliche zur Verfügung stehende alternative Testverfahren ausgeschöpft sind, kann aus unserer Sicht ein Tierversuch als letzter Ausweg in Betracht kommen. In jedem Fall sollten dabei aber vorher Tierschutz- und Umweltverbände konsultiert werden.

  2. Sofern unter Berücksichtigung dieses Stufenansatzes dennoch eine sehr begrenzte Anzahl von Tierversuchen unvermeidlich zu bleiben scheint, treten wir nachdrücklich dafür ein, die Leiden und Schmerzen der Tiere so weit wie möglich zu minimieren. Dazu gehört wesentlich, die Eingriffe an narkosefähigen und narkosebedürftigen Tieren nur unter einer zuverlässigen Betäubung vorzunehmen. Entscheidendes Kriterium für den Einsatz einer Narkose sollte dabei sein, ob eine Schmerz- und Leidensfähigkeit als wahrscheinlich angenommen werden muss.

  3. Im Blick auf zu erwartende Grenzfälle schlagen wir die Errichtung einer Ethik-Kommission vor, die aus Vertreterinnen und Vertretern der europäischen Institutionen und der Zivilgesellschaft, namentlich der Tierschutz- und Umweltverbände, zusammengesetzt ist. Ihr sollten die Fälle zur Beratung vorgelegt werden, bei denen ein Tierversuch unausweichlich zu sein scheint. Von entscheidender Bedeutung dabei ist aus unserer Sicht freilich eine ausgewogene Zusammensetzung dieser Gruppe, die strukturelle Minderheitenpositionen vermeidet.

  4. Bezogen auf die Zahl verbleibender unausweichlicher Tierversuche ist ferner sicherzustellen, dass im Zuge der Etablierung von Testverfahren niemandem ein ökonomischer Vorteil aus Tierversuchen erwächst. Das Schaffen oder auch nur die Akzeptanz eines finanziellen Anreizes wäre aus unserer Sicht unvereinbar mit dem bekundeten Ziel einer größtmöglichen Einschränkung von Tierversuchen.

  5. In jedem Fall plädieren wir für das Monitoring und eine intensivierte Förderung der Entwicklung alternativer Testmethoden, die freilich ihrerseits ethisch verantwortbar sein muss. Die bekundete Absicht, die Zahl der Tierversuche zu minimieren, muss sich in einer engagierten Forschung an Alternativen niederschlagen.

Die EKD versichert abschließend, dass sie als Dialogpartnerin den Institutionen der EU jederzeit gerne zur Verfügung steht. Wir stellen uns unserer Verantwortung für die Tiere als Mitgeschöpfe und werden deshalb den Prozess der Umsetzung des Weißbuches weiterhin aufmerksam beobachten und konstruktiv begleiten.

Brüssel, den 25.04.2003

(1) Die EKD hat sich hierzu grundsätzlich geäußert in dem Beitrag: "Zur Verantwortung des Menschen für das Tier als Mitgeschöpf (EKD-Texte 41, 2. Auflage 1991). Dieser Text ist der vorliegenden Stellungnahme beigefügt (s. Anlage).