Daseinsvorsorge
Gemeinsame Stellungnahme des Bevollmächtigten des Rates der EKD und des Kommissariats der deutschen Bischöfe zum Entwurf der EU-Kommission über die Anwendung von Artikel 86 EG-Vertrag auf staatliche Beihilfen
Das Kommissariat der deutschen Bischöfe, der Bevollmächtigte des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) bei der Bundesrepublik Deutschland und der Europäischen Union sowie die kirchlichen Wohlfahrtsverbände, der Deutsche Caritasverband und das Diakonische Werk der EKD nehmen Stellung zu dem Entwurf der Entscheidung der Kommission über die Anwendung von Artikel 86 EG-Vertrag auf staatliche Beihilfen, die bestimmten Unternehmen als Ausgleich für die Erbringung von Dienstleistungen von allgemeinem wirtschaftlichen Interesse gewährt werden, und zu dem Entwurf für eine Mitteilung der Bundesregierung der Bundesrepublik Deutschland an die Europäische Kommission.
Es ist zu begrüßen, dass die Europäische Kommission mit den vorliegenden Entwürfen Entscheidungskriterien für die Anwendung des Beihilfenrechts im Bereich der Daseinsvorsorge entwickelt.
Es sind jedoch Ergänzungen erforderlich, die u.a. der Tatsache Rechnung tragen, dass die Europäische Union keine originäre Regelungskompetenz für den sozialen Bereich besitzt, vielmehr die Union die Tatsache anerkennt, dass die Mitgliedstaaten für Struktur und Ausgestaltung der sozialen Dienste zuständig sind. Des weiteren sollten die Besonderheiten des sozialen Bereiches noch stärker Berücksichtigung finden.
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Allgemeines
Dienstleistungen im sozialen Bereich werden in den Mitgliedstaaten von unterschiedlichen Traditionen geprägt und von gesellschaftlichen Kräften getragen. In diesem Zusammenhang sei darauf hingewiesen, dass in der Bundesrepublik Deutschland der Staat weder den gesamten Bereich der sozialen Dienste übernommen hat, noch dieser Bereich primär der Gewinnmaximierung geöffnet ist. Deutschland wollte gerade ein System, in dem sich gesamtgesellschaftliche Solidarität verwirklicht. Deshalb sind die sozialen Dienste regelmäßig in gemeinnützige Strukturen eingebettet, die – zumindest in Deutschland – darauf zielen, dass erwirtschaftete Gewinne nicht frei auf dem Kapitalmarkt angelegt werden dürfen, sondern unmittelbar in den sozialen Zweck der Organisation investiert werden müssen. Demgemäss lassen sich in der Bundesrepublik bestimmte Dienstleistungen von allgemeinem Interesse als "Gemeinnützige Dienstleistungen" definieren, auf die der Staat gerade wegen der gesamtgesellschaftlichen Solidarität besonderen Wert legt und die er besonderen Reglungen unterwirft.
In Deutschland wird ein erheblicher Teil der Dienstleistungen im sozialen Bereich durch die freie und insbesondere durch die kirchliche Wohlfahrtspflege geleistet. Die Kirchen und ihre Wohlfahrtsverbände verstehen diese Tätigkeit als Religionsausübung unter dem Schutz von Art. 4 des Grundgesetzes, Art. 9 der Europäischen Menschenrechtskonvention und Art. 10 der Europäischen Grundrechte-Charta. Zugleich wird das diakonische und karitative Handeln der Kirchen durch das grundgesetzlich garantierte und von der Europäischen Union respektierte Selbstbestimmungsrecht der Kirchen geschützt (Art. 140 GG iVm Art. 137 WRV; Art. 6 Abs.3 EU-Vertrag iVm Erklärung Nr. 11 zum Vertrag von Amsterdam, sowie Art. I-51 des Entwurfs für einen Verfassungsvertrag.) Diesen Besonderheiten muss auch die europäische Rechtssetzung und Rechtsauslegung Rechnung tragen.
Wie die Kirchen und ihre Wohlfahrtsverbände in ihrer Stellungnahme zum Grünbuch über Dienstleistungen von allgemeinem Interesse vorgetragen haben, erfüllen Caritas und Diakonie einen wesentlichen Auftrag der Kirche in der Welt. Sie leisten ihre Dienste also nicht nach staatlichem Auftrag, sondern aus ihrem eigenen Selbstverständnis heraus als Dienst dem Nächsten gegenüber (siehe unter Punkt I der Stellungnahme). Des weiteren wird in der Stellungnahme die besondere Situation in Deutschland beschrieben. In der Bundesrepublik werden die Aufgaben der "Daseinsvorsorge" im Bereich der Gesundheits-, Jugend-, Familien-, Alten- und Behindertenpflege sowie im Bildungsbereich seit jeher und ursprünglich sogar ausschließlich durch die Kirchen bzw. ihre karitativen diakonischen Werke und Einrichtungen wahrgenommen. Der Staat hat in einem langen historischen Prozess in den genannten Bereichen eine Gewährleistungsverantwortung übernommen, beansprucht in Deutschland aber bei der Durchführung der Aufgaben kein Monopol. Vielmehr respektiert und nutzt er die historisch gewachsene Zuständigkeit der Kirchen und Wohlfahrtsverbände. Das Zusammenwirken von staatlicher und kirchlicher Wohlfahrtspflege hat seinen Niederschlag in zahlreichen Normen der Sozialgesetzgebung gefunden und ist Ausdruck des grundgesetzlich garantierten Selbstbestimmungsrechts der Kirchen, das vom Staat anerkannt und öffentlich gefördert wird. Auch auf europäischer Ebene hat die Bedeutung der Zusammenarbeit mit den Verbänden der Wohlfahrtspflege im sozialen Bereich Niederschlag gefunden in der Erklärung Nr. 23 zum Maastrichter Vertrag.
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Die Entscheidung der Europäischen Kommission
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Grundsätzliches
Der Anwendungsbereich der Entscheidung wird in Artikel 1 beschränkt auf Ausgleichszahlungen für die Erbringung von Dienstleistungen von allgemeinem wirtschaftlichen Interesse, die eine staatliche Beihilfe darstellen. Art. 3 der Entscheidung stellt klar, dass die Entscheidung nur für Dienstleistungen von allgemeinem wirtschaftlichen Interesse gilt.
Bisher ist allerdings noch nicht geklärt, wie wirtschaftliche und nicht-wirtschaftliche Tätigkeiten voneinander abzugrenzen sind. Es ist zweifelhaft, ob die Wohlfahrtseinrichtungen in Deutschland im Sinne des europäischen Wettbewerbsrechts überhaupt wirtschaftlich tätig sind. Jedenfalls sollte die Bedeutung der Gewinnerzielungsabsicht und des besonderen Handlungsauftrags bei der Beurteilung eine Rolle spielen, denn nicht der Markterlös, sondern die Leistung an sich stehen im Vordergrund. Die sozialen Dienste unterscheiden sich von den netzgebundenen Leistungen, wie beispielsweise im Bereich der Telekommunikation, der Strom- und Gaswirtschaft sowie der Post durch ihre besondere Eigenart, ihre Vielfalt und ihren unmittelbaren Bezug zum Menschen. Gesundheit, Betreuung, menschliche Zuwendung und Hilfe in schwierigen Lebenslagen sind nicht handelsfähig. Entscheidend ist nicht vorrangig der Preis der Dienstleistungen, sondern im Vordergrund steht deren Güte.
Des weiteren erfolgen für Leistungen im System der gesetzlichen Sozialversicherung Zahlungen seitens der Sozialversicherungsträger, die aus Beiträgen der Versicherten gespeist werden. Zudem werden in großen Bereichen des sozialen Sektors in Deutschland Zuschüsse nach diskriminierungsfreien Kriterien allen betroffenen Einrichtungen und Unternehmen gewährt. Auch ist das Merkmal der Handelsbeeinträchtigung nach wie vor nicht bedeutungslos. Gerade bei Krankenhäusern, aber auch bei Pflegeeinrichtungen und Behinderteneinrichtungen, gibt es keine grenzüberschreitende Tätigkeit dieser Einrichtungen, ebenso nicht bei lokal erbrachten Tätigkeiten z.B. in der Familienberatung, Jugendhilfe etc. Die Leistungen dieser Einrichtungen können auch sinnvoll nur vor Ort erbracht werden.
Daher sollte in der Entscheidung der Kommission zum Ausdruck kommen, dass soziale Dienstleistungen in der Regel nicht dem Beihilfeverbot des Art. 87 EG-Vertrag unterfallen, auch wenn letztlich "vorsorglich" eine Freistellung sozialer Dienstleistungen von der Notifizierungspflicht in der Entscheidung erfolgt. Sollte eine solche Klarstellung erfolgen, halten wir den vorliegenden Entscheidungsentwurf der Europäischen Kommission nach einer ersten Prüfung grundsätzlich für geeignet, auch den Besonderheiten der kirchlichen Wohlfahrtspflege in Deutschland Rechnung zu tragen.
Die geäußerten Anliegen und Bedenken sollte durch Änderungen im Text der Entscheidung der Kommission Berücksichtigung finden.
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Artikel 1 (Geltungsbereich)
Die Absicht der Europäischen Kommission, Ausnahmetatbestände für Ausgleichsleistungen in geringer Höhe und für Unternehmen, die Besonderheiten aufweisen, zu formulieren, ist zu begrüßen.
Grundsätzlich ist allerdings im Hinblick auf die Ausgleichszahlungen von geringer Höhe die Klarstellung erforderlich, dass sich die Schwellenwerte auf einzelne Einrichtungen und nicht etwa auf einen Träger beziehen. Nur wenn sich die Bemessung an Hand des Umsatzes und der staatlichen Ausgleichszahlung an der einzelnen Einrichtung orientiert, kann sichergestellt werden, dass die Einrichtungen im Bereich der sozialen Daseinsvorsorge ihre Aufgaben weiterhin ungehindert erfüllen können. Darüber hinaus wird am Beispiel des Krankenhausbereichs - auch nach Meinung der Kommission - deutlich, dass auch Einrichtungen mit hohen Umsätzen und entsprechenden Ausgleichszahlungen nicht zwangsläufig dazu führen, dass der Wettbewerb maßgeblich verfälscht wird. Dieser zutreffende Gedanke gilt grundsätzlich für alle Bereiche der sozialen Dienstleistungen wie beispielsweise den Pflegebereich und den Bereich der Jugendhilfe. Daher scheint die Festlegung einer Umsatzschwelle in bestimmten Bereichen nicht der richtige Anknüpfungspunkt zu sein.
Des weiteren sollten die Besonderheiten der mitgliedstaatlichen sozialen Sicherungssysteme nicht nur für den Krankenhaussektor, sondern vollständig, beispielsweise auch im Hinblick auf den Pflegebereich, das Hospizwesen, die Behindertenbetreuung, die Jugendhilfe und den Bereich der sozialen Beratungsstellen Berücksichtigung finden.
Angesichts dieser Überlegungen erscheint eine abstrakt-generelle Regelung für den Bereich der sozialen Dienstleistungen vorzugswürdig. Diese könnte folgendermaßen lauten:
"Sie werden zugunsten von Unternehmen und Trägern gewährt, die gesetzliche und soziale Dienstleistungen erbringen und deren Aufwendungen aus staatlichen Pflichtversicherungssystemen erstattungsfähig sind oder aus dem Steueraufkommen erstattet werden können."
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Art. 4 (Betrauung)
Zu begrüßen ist ebenfalls, dass sich die Europäische Kommission in dem Entscheidungsentwurf bei den Voraussetzungen für den europarechtlich erforderlichen Betrauungsakt an der Rechtsordnung des betreffenden Mitgliedstaates orientiert. So bleibt Raum für mitgliedstaatliche Besonderheiten.
Zu den Besonderheiten des deutschen Sozialstaats gehört, dass soziale Dienste eigenständig und in eigener Verantwortung erbracht werden können. Dies sollte ausdrücklich Erwähnung finden. Des weiteren sollte es nicht "öffentliche Versorgungsaufträge" heißen, sondern sollte die Terminologie des Altmark-Urteils aufgegriffen werden. Es wird deshalb folgende Formulierung vorgeschlagen:
"Die vorliegende Entscheidung gilt ausschließlich für gemeinwirtschaftliche Aufgaben (Pflichten), die im Wege eines oder mehrerer öffentlicher Rechtsakte übertragen oder als eigenständig und in eigener Verantwortung wahrgenommen anerkannt werden, wobei sich die Art des Rechtsaktes – Gesetz(e), Verordnung(en), Vertrag oder Erteilung eines Mandats – nach der Rechtsordnung des betreffenden Mitgliedstaates richtet. Aus den Rechtsakten muss folgendes hervorgehen:
- genaue Art der Gemeinwohlaufgaben (-verpflichtungen),
- die mit der Erfüllung des Auftrags betrauten Unternehmen bzw. die in eigener Verantwortung tätigen Unternehmen und der geografische Geltungsbreich."
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Berlin, den 5. April 2004