Predigt im Gottesdienst zum Beginn der Adventszeit in der deutschsprachigen evangelischen Gemeinde in Khartoum
Wolfgang Huber
Das neutestamentliche Wort, das nach der Ordnung der Herrnhuter Brüdergemeine diesen Tag bestimmt, findet sich im 2. Thessalonicherbrief des Apostels Paulus und heißt: Der Herr ist treu; der wird euch stärken und bewahren vor dem Bösen.
Ich lese den Zusammenhang im dritten Kapitel dieses Briefes: Weiter, liebe Brüder (und Schwestern), betet für uns, dass das Wort des Herrn laufe und gepriesen werde wie bei euch und dass wir erlöst werden von den falschen und bösen Menschen; denn der Glaube ist nicht jedermanns Ding. Aber der Herr ist treu; der wird euch stärken und bewahren vor dem Bösen. Wir haben aber das Vertrauen zu euch in dem Herrn, dass ihr tut und tun werdet, was wir gebieten. Der Herr aber richte eure Herzen aus auf die Liebe Gottes und auf die Geduld Christi. (2. Thessalonicher 3,1-5)
I.
Pray for us: betet für uns – so hieß heute morgen der letzte Gruß von Bischof Micah Laila Dawidi, als er uns mit anderen Vertretern des Sudan Council of Churches in Juba, der Hauptstadt des Südsudan, verabschiedete. Pray for us: Manchmal wird das bei kirchlichen Begegnungen eher gedankenlos dahingesagt, so ähnlich wie God bless, wobei dann nicht einmal mehr gefragt wird, wem Gottes Segen denn gelten soll.
Heute habe ich das anders erlebt. Die Bitte Betet für uns war gefüllt mit den gemeinsamen Erlebnissen eines ganzen Tages: auf den Straßen Jubas, die unpassierbar sein müssen, wenn der Regen kommt; an den Rändern dieser Stadt, an denen man das äußerste Elend von Krankheit und Hunger erleben kann; bei den politisch Verantwortlichen, die den vereinbarten Frieden mit Leben erfüllen sollen, und kaum wissen, womit zu beginnen ist; und dabei läuft die Zeit der vereinbarten sechs Jahre wie eine laute, weithin hörbare, tickende Uhr. Große Aufgaben stehen in einer solchen Lage auch vor den Gemeinden, den Kirchen, der ökumenischen Gemeinschaft am Ort wie über Grenzen hinweg. Wie stehen sie den Notleidenden bei, nehmen die zurückkehrenden Flüchtlinge auf, unterrichten die Kinder, trösten diejenigen, die die Spuren des Bürgerkriegs an Leib und Seele tragen? Betet für uns, pray for us: nicht ins Leere hinein ist das gesagt.
II.
Pray for us, betet für uns: Diese Bitte richtet schon der Apostel Paulus mit seinen Mitarbeitern Silvanus und Timotheus an die Gemeinde in Thessaloniki. Die Hoffnung, dass andere Christen in der Fürbitte mit uns verbunden sind, ist eine der entscheidenden Kraftquellen des christlichen Glaubens. Die Fürbitte für andere ist deshalb, auch wenn das in unseren Bekenntnisschriften nicht so stehen sollte, eines der entscheidenden Kennzeichen der christlichen Gemeinde.
So wichtig ist die Hoffnung auf solche Fürbitte, dass manche christlichen Kirchen dafür ganze Heiligenkalender aufgestellt haben und auch heute nicht müde werden, Heilige zu kreieren, wie man das offiziell nennt. Diese Heiligen suchen sie dabei nicht nur – wie es auch evangelischer Überzeugung entspricht – als Vorbilder im Glauben, sondern als Fürsprecher bei Gott. Sie wollen sicher sein, dass ihre Bitte Pray for us nie unerhört bleibt.
Wer einmal die Große Römische Litanei mit ihrem stetig wiederholten ora pro nobis (bete für uns) erlebt hat – wie zum Beispiel auf dem Petersplatz in Rom beim Requiem für Papst Johannes Paul II. – , der weiß etwas von der begütigenden Kraft dieser Hoffnung auf die Fürbitte der Heiligen. Alle werden sie angerufen und einzeln beim Namen genannt und jeder wird mit der flehentlichen Bitte ausgestattet: ora pro nobis, bete für uns.
Wir anderen, die in diese Litanei nicht einstimmen, begnügen uns mit der Hoffnung auf die Fürbitte der Menschen und darauf, dass Christus selbst für uns bei seinem Vater eintritt. Deshalb dürfen auch wir an Gott herantreten und sagen: Abba, lieber Vater. Wir vertrauen darauf, dass rund um den Erdball Christen durch eine einzige große Fürbitte verbunden sind. Es ist dieses große Gebet, das uns jetzt schon zusammenschließt zu dem einen Leib Christi. Dass wir einander besuchen über große Entfernungen hinweg, hat darin seinen tiefsten Sinn: dass wir wissen, für wen wir Gott ins Gebet nehmen, dass wir wissen, was wir beten sollen.
III.
Aber was sollen wir beten? Der Apostel Paulus ist von besonderer Unbescheidenheit. Er sagt nicht nur, wie Bischof Micah heute morgen: Pray for us. Er liefert den Inhalt des Gebets gleich mit: Betet für uns, dass das Wort des Herrn laufe und gepriesen werde wie bei euch und dass wir erlöst werden von den falschen und bösen Leuten.
Ich bewundere den Realismus dieses Gebetsvorschlags: Erfolg in seiner Mission und ein Ende des Misstrauens – das sind die Gebetswünsche des Apostels.
Erfolg in der Mission. Dafür wählt Paulus den wunderbaren Ausdruck, dass das Wort des Herrn laufe. Allzu oft wird diese erste Bitte der Christenheit vergessen. Zu selten wird darum gebetet, dass Gott gepriesen wird. Nur wenn Menschen durch die Verkündigung erreicht, ja ergriffen und verwandelt werden, nur wenn sie das Lob Gottes laut werden lassen, werden sie auch zur Fürbitte fähig sein.
Die Mission des Paulus ist auch heute nicht zu Ende. Zu allen Zeiten wird nämlich der Satz richtig bleiben, der Glaube sei nicht jedermanns Ding – oder, wie es heute in Deutschland heißt: mit der Kirche habe man nichts am Hut. Fürbitte aber gibt es nicht am Glauben vorbei; die Kette des Gebets reißt, wenn die Kette des Glaubens abbricht. Dem Einsatz für Gerechtigkeit und Frieden werden die Menschen fehlen, wenn es an Glaubenden fehlt. Deshalb sollten wir die erste Bitte des Paulus nicht überspringen. Auch heute ist das Gebet darum nötig, dass das Wort des Herrn läuft.
Das Ende des Misstrauens zwischen den Menschen ist der andere Gebetswunsch, den der Apostel uns nahe legt. Realistisch ist auch er. Misstrauen bestimmt unser Leben. Immer wieder fühlen wir uns von falschen und bösen Menschen umzingelt und umstellt.
In diesen Tagen haben wir Gäste aus Deutschland das deutlich gespürt: das Misstrauen zwischen Christen und Muslimen, weil Religionsfreiheit unter der Herrschaft der Scharia nicht wirklich gewährt wird; das Misstrauen zwischen Süd und Nord, weil der Zweifel herrscht, ob die Friedensvereinbarung wirklich umgesetzt werden soll; das Misstrauen zwischen denen in der Peripherie – Darfur ist überall – und dem Zentrum, weil die einen sich vor Tod und Vertreibung fürchten und die anderen dem Grundsatz zu folgen scheinen, dass Macht vor Recht geht.
Nur die Ehrlichkeit des Apostels hilft weiter: Das Streben nach Macht verführt zur Lüge; wir unterstellen einander nicht nur Böses, wir tun es auch. Es gibt falsche und böse Menschen. Gebe Gott, dass wir Falschheit und Bosheit überwinden, ohne dass darüber Menschen sterben müssen.
IV.
Ein realistisches Bild tritt vor uns. Paulus stellt es den Thessalonichern vor Augen; wir sehen es hier im Sudan. Können Realisten hoffen – oder müssen sie zu Zynikern werden? Die Antwort steckt in dem biblischen Wort für diesen Tag: Der Herr ist treu; der wird euch stärken und bewahren vor dem Bösen.
Was verhilft uns zu einer Zuversicht, die auch an Schwierigkeiten nicht zerbricht? Der Blick auf Christus, in dem uns Gottes Treue begegnet. Er hielt auch der äußersten Schwierigkeit stand, der Schwierigkeit des gewaltsamen Todes, der er um sein Leben gern ausgewichen wäre – aber nicht wie ich will, sondern wie du willst. Er zeigt eine Treue Gottes, die uns nicht vor dem Konflikt ausweichen lässt, sondern in ihm stärkt. Er zeigt eine Treue Gottes, die nicht alles Böse – sozusagen im vorhinein – aus der Welt schafft, uns aber vor der Herrschaft des Bösen bewahrt.
Denn dass das Böse nicht in unserem Herzen zur Herrschaft kommt, ist die Bedingung dafür, dass wir ihm widerstehen. Dass der Krieg nicht in den Herzen regiert, ist eine Bedingung dafür, dass der Frieden im Sudan eine Chance hat. Dafür braucht dieses Land Menschen, die Anwälte des Friedens und der Versöhnung sind: mit dem nüchternen Blick, den der Realismus des Glaubens lehrt, aber zugleich mit der unerschütterlichen Hoffnung derer, die sich darauf verlassen: Der Herr ist treu.
Amen.