Laudatio der Jury-Vorsitzenden zur Vergabe des Hanna-Jursch-Preises
Helga Kuhlmann
Sehr verehrte Frau Konz, verehrter Herr Bischof, Spectabilis, meine Damen und Herren,
die dritte Ausschreibung des Hanna-Jursch-Preises zum Thema “Menschenbilder- Menschenrechte-Menschenwürde” stieß auf ein breites Echo. Ungeahnt viele, 25 Arbeiten, darunter weit mehr als die Hälfte höchst qualifizierte wissenschaftliche Arbeiten evangelischer Theologinnen aus dem Zeitraum seit 2002, wurden eingereicht, so dass die Jury durch die Lektüre sehr bereichert wurde, andererseits aber auch eine schwere Entscheidung treffen musste. Gleichwohl fiel diese dann klar aus. Die Arbeit von Dr. Britta Konz zum Thema “Bertha Pappenheim: Ein ‘weiblich-jüdisches Projekt der Moderne’? Die religiöse Grundlegung von Frauenemanzipation, sozialer Arbeit und Pädagogik” wurde einstimmig für den Preis ausgewählt.
Diese Arbeit zeigt eine Facette unterschiedlicher Qualitäten. Sie bietet ein herausragendes, überzeugendes und stimmiges Gesamtbild der jüdischen Pionierin der Frauensozialarbeit Bertha Pappenheim. Eine große Fülle von Quellenmaterial aus unterschiedlichen Archiven und Nachlässen wird hier teils erstmalig zusammengetragen und ausgewertet.
Präsentiert wird die Lebensgeschichte einer Tochter, der es gelingt, sich aus einem psychischen Abhängigkeitsverhältnis zum Vater zu befreien, in dem sie sich dazu verpflichtet sah, ihn zu pflegen, die in die Geschichte einer Frau im Kontext der religiösen Frauenbewegungen, und speziell der jüdischen Frauenbewegung mündet. Wie Bertha Pappenheim verstanden sich mehrere Frauen der jüdischen Frauenbewegung als modern, ohne ihre Religionsbindung aufgeben zu können und zu wollen. Dies äußerte sich darin, dass sie die Quellen ihrer Tradition auf das befreiende Potential der Gleichstellung von Frauen untersuchten und diese Entdeckungen dann im Rahmen jüdisch-theologischen Denkens interpretierten. Damit gerieten sie nicht selten in ein doppeltes Spannungsverhältnis, zum nicht assimilierten konservativen Judentum sowie zum assimilierten liberalen Judentum.
Eins der zentralen religiösen und zugleich sozialen Anliegen Bertha Pappenheims war ihr Kampf gegen die Prostitution und gegen den Mädchenhandel. Hier musste sie sich gegen Vertreter liberaler Positionen zur Wehr setzen, die eine freizügige Sexualität, allerdings beschränkt auf die Freiheit für Männer anstrebten, wie gegenüber konservativen Männern, die Prostitution überhaupt nicht thematisieren wollten und als Tabu behandelten. In christlichen Kreisen musste sie gegen das im Kontext des antisemitischen Klischeebilds vom “lüsternen Juden” erhobene Vorurteil kämpfen, dass die Mädchenhändler jüdische Männer seien. Bertha Pappenheim sah sich der Wahrheit und dem Recht verpflichtet, die sie als Schutz der körperlichen und sexuellen Unversehrtheit von Frauen beanspruchte, und geriet mit diesem Engagement zwischen viele Fronten.
Die Hauptthese der Arbeit richtet sich auf die inhaltliche Konzeption des Engagements von Bertha Pappenheim. Britta Konz qualifiziert Pappenheims Arbeit als “Projekt der jüdischen weiblichen Moderne”, die ihren Fokus darin findet, dass die Freiräume des traditionell Weiblichen, nämlich der Raum der Familie, die Fürsorge von Kindern und anderen Hilfsbedürftigen zum Ort weiblicher religiöser Identität werden. Bertha Pappenheim realisierte ihr eigenes Projekt der Moderne in dem Frankfurter sozialen Bildungszentrum für Mädchen, ehemalige Prostituierte, Alleinerziehende und verlassene Frauen. Dort strukturierte sie den Tagesablauf klar und streng. Die Praxis des gemeinsamen Gebets und die Schriftlektüre gehörten selbstverständlich hinein.
In diesem Zusammenhang analysiert die Arbeit von Frau Konz die nicht zahlreichen, aber doch eindrücklichen religiösen und theologischen Texte von Bertha Pappenheim. Sie macht in ihrem Gesamtporträt deutlich, dass Bertha Pappenheim sich nicht nur innerhalb der jüdischen Gruppen von orthodoxen sowie von nicht mehr religiös gebundenen Gruppen, sondern zugleich - mit anderen in der jüdischen Frauenbewegung - vom Antisemitismus in Gruppen der religiösen und der nicht-religiösen Moderne abgrenzen musste. Nur wenige Vertreterinnen der konfessionellen Frauenbewegungen bezogen gegenüber dem Antisemitismus eine klare explizite Abgrenzung. Christinnen und Christen werden durch diese Arbeit daran erinnert, dass das Engagement für Frauenrechte keineswegs vor der Toleranz oder gar der Koalition mit menschenverachtenden politischen Optionen gefeit ist.
Schließlich zeichnet Frau Konz den Generationenkonflikt nach, in den Bertha Pappenheim mit jüngeren Frauen der Frauenbewegung geriet, die das strenge Regiment innerhalb der Sozialarbeit nicht mehr mittragen wollen, die sich selbst bereits als emanzipiert verstanden und die liberalere und auch unverbindlichere Formen bevorzugten
Meine Prognose ist, dass die Arbeit dazu geeignet ist, eine neue und spezifische Rezeption der Person und des Lebenswerks Bertha Pappenheims anzuregen und dass sie darüber hinaus eine neue Perspektive auf die konfessionellen Gruppen der Frauenbewegung in ihrem Engagement für soziale und pädagogische Arbeit fördert.
Indem Britta Konz Bertha Pappenheim als eine Frau in ihrer ganzen Geschichte und mit ihrem ganzen Werk vorstellt, verweigert sie zwei üblichen Deutungen den Geltungsanspruch, die das bisherige Bild Bertha Pappenheims bestimmt haben. Weder kann sie vorrangig als eine psychisch problematische Figur im Schema einer schwierigen Vater-Tochter-Beziehung verstanden werden noch nur als Protagonistin der bürgerlichen Frauenbewegung ohne religiösen und theologischen Bezug.
Am Beispiel Bertha Pappenheims stellt die Arbeit heraus, dass das klassische Feld der Frauentätigkeit durchaus für die öffentliche Gestaltung der Sozialarbeit relevant ist. Die noch immer begegnende These der Modernetheorie, dass Religion tendenziell antimodern sei, widerlegt die Arbeit grundlegend. Die Verankerung im Glauben stärkt im Fall von Bertha Pappenheim die Konzeption und die praktische Realisierung sozialer Arbeit statt sie zu schwächen, und sie ermöglicht die Ausbildung spezifischer Formen dieser Arbeit. Modernes Denken, moderne Anthropologie und moderne soziale Arbeit konnten somit durchaus innerhalb der Religion fruchtbar und überzeugend in einen Zusammenhang gebracht und weiterentwickelt werden. Dabei lag, wie Britta Konz darlegt, in den von Frauen erwarteten sozialen und pädagogischen Aufgaben, die traditionell in der Familie verortet wurden und eine verschattete Nische der Aufmerksamkeit bildeten, eine besondere Chance, Religion, Moderne und Sozialarbeit zu verknüpfen. Die “geistige Mütterlichkeit”, die Bertha Pappenheim als genuine “Kulturaufgabe” aller Frauen betrachtete, bildete ihr Motto für die Anfänge öffentlicher Für-Sorge für Mädchen und Frauen. Als “Partnerin Gottes” sah Pappenheim die jüdische Frau beauftragt, durch soziale und pädagogische Arbeit Gerechtigkeit in der Welt durchzusetzen.
Überraschend aktuell erscheint noch heute der von Britta Konz nachgezeichnete Generationenkonflikt zwischen der ersten und der zweiten Generation der Frauenbewegung. Die jungen Frauen kritisierten die Konzentration der Frauenbewegung auf Initiativen, die die Geschlechterdifferenz nicht radikal genug in Frage stellten und damit eine vollständige Gleichstellung der differenten Geschlechter nicht zu überwinden in der Lage seien. Die Verbesserung der Lage der Frauen erschien ihnen als zu geringes Ziel.
Die Arbeit dokumentiert, dass theologische Perspektiven und Positionen nicht nur in der Lage sind, interdisziplinäre Gesichtspunkte zu bearbeiten und einen fachübergreifenden Horizont zu erschließen, sondern darüber hinaus, dass ohne die spezifische Berücksichtigung theologischer Perspektiven ein Gesamtbild einer Biographie und sozialpolitischen Engagements in vielen Fällen nur unzureichend erworben werden kann. Erst die Erhellung der Situation der Tochter in einem konservativen jüdischen Familienkontext und der Anliegen der erwachsenen Frau, der tätigen Nächstenliebe Gestalt zu geben, bietet die Chance eines tiefergehenden Verständnisses von Bertha Pappenheim. Ihre pädagogische und ihre soziale Arbeit mit jungen Frauen stellte sie in einen Rahmen regelmäßiger gemeinschaftlicher Praxis des Betens, der Lektüre der Heiligen Schriften und der Reflexion wichtiger überlieferter Glaubensinhalte.
Die Lektüre regt zunächst dazu an, religiösen Orientierungen innerhalb der Analyse pädagogischer und sozialer Arbeit größere Beachtung zu schenken, sowie zur Weiterarbeit am Thema mit der Fragestellung, was die Zugehörigkeit der engagierten Frauen zu unterschiedlichen Religionen und Glaubensorientierungen für die sozialpädagogische Arbeit bedeutet hat und heute vielleicht noch bedeutet. Vergleichende Studien fehlen, das konstatiert auch Britta Konz in ihrer Arbeit. Mit einer solch vergleichenden Analyse beginnt ihr Buch, indem sie Bertha Pappenheim in den Kontext der jüdischen, der konfessionellen und nicht-konfessionellen Frauenbewegungen einzeichnet, eine vertiefende Behandlung des Themas erforderte eine eigene Untersuchung.
Zugleich steht die Arbeit exemplarisch dafür, dass die Fokussierung auf Themen der Geschlechterdifferenz keine Abkopplung von allgemeinen theologischen und historischen Fragen bedeutet. Vielmehr kann gerade der genaue Blick auf die spezifischen Lebensbedingungen von Frauen, die sich von denen der im Licht der Öffentlichkeit und der Arbeitswelt stehenden Männern unterscheiden, ein angemessenes Verständnis komplexer historischer Zusammenhänge bieten. Erst dieser Blick erhellt, dass und wie im gemeinsamen Leben von Frauen spezifische Inhalte theologischen Denkens und spezifische Formen religiöser Gestaltung bedeutsam werden können.
Schließlich kann die Arbeit durch ihre breite und gleichzeitig in die Tiefe gehende Annäherung an die Person, das Werk, die Theologie und die Motivationen Bertha Pappenheims auch christliche Frauen und Männer dazu veranlassen, über die Verbindungen ihres beruflichen Engagements und ihrer Frömmigkeit stärker nachzudenken. Das Porträt Bertha Pappenheims stellt eine aktive Kämpferin der jüdischen Frauenbewegung, eine Initiatorin öffentlicher Sozialarbeit und eine überzeugte Jüdin vor, von der noch heute auch Christinnen und Christen lernen können.
Mit dem Hanna-Jursch-Preis werden Arbeiten ausgezeichnet, die für die wissenschaftliche theologische Arbeit von Frauen Maßstäbe setzen. Die Jury des Hanna-Jursch-Preises erkennt diese Qualität in hervorragendem Maß in der Arbeit von Frau Konz. Im Namen der Jury gratuliere ich der Preisträgerin und wünsche dem Buch, dass es von vielen gelesen wird.