"Die Zukunft der evangelikalen Bewegung - Wünsche, Anfragen, Anregungen" - Kurzreferat beim Deutschen Evangelischen Allianztag in Bad Blankenburg

Hermann Barth

Vor einem knappen Vierteljahr veröffentlichte der Rat der Evangelischen Kirche in Deutschland unter dem Titel „Kirche der Freiheit“ ein so genanntes Impulspapier. Es nennt sich „Impulspapier“, weil es eine Diskussion über die zukünftige Gestalt der evangelischen Kirche auslösen will. Entsprechend lautet sein Untertitel: „Perspektiven für die evangelische Kirche im 21. Jahrhundert“. Das Thema des heutigen Allianztages hat eine ähnliche Ausrichtung; man hätte es auch so formulieren können: „Perspektiven für die evangelikale Bewegung im 21. Jahrhundert“.

Kürzlich habe ich das Impulspapier mit katholischen Gesprächspartnern erörtert. Sie waren von dem Text und dem damit verbundenen Vorhaben sehr angetan.  Sie gaben aber auch zu verstehen, daß der Text ihnen den Eindruck vermittle: Da reden Leute, denen geht es richtig schlecht, die haben große Sorgen. Dieser Effekt tritt immer wieder ein, wenn sich jemand öffentlich Gedanken über seine Zukunft macht. Die Hörer oder Leser bekommen den Eindruck: Der hat’s wohl nötig. Darum ist es gut, wenn wir all unserem Nachdenken und Reden über die Zukunft der evangelischen Kirche das folgende Wort Martin Luthers voranstellen:

„Wir sind es doch nicht, die da die Kirche erhalten könnten, unsere Vorfahren sind es auch nicht gewesen, unsere Nachkommen werden’s auch nicht sein, sondern der ist’s gewesen, ist’s noch und wird’s sein, der da spricht: ‚Siehe, ich bin bei euch bis an der Welt Ende’“ (aus: Wider die Antinomer [1539], WA 50, 468ff).

Sie haben mir die Aufgabe gestellt, im Blick auf die Zukunft der evangelikalen Bewegung Wünsche, Anfragen und Anregungen vorzutragen. Ich übergehe die heikle Frage, wie - von innen wie von außen betrachtet - die evangelikale Bewegung abzugrenzen ist, und widme mich in drei Abschnitten den drei im Thema genannten Stichworten.

I.

Was meine Wünsche angeht, so will ich am Impulspapier der EKD anknüpfen. Es entwickelt seine Vorschläge zur Zukunft der evangelischen Kirche von „vier biblisch geprägten Grundannahmen“ aus. An deren Spitze steht die Forderung: „Geistliche Profilierung statt undeutlicher Aktivität. Wo evangelisch draufsteht, muss Evangelium erfahrbar sein“ (S. 8, vgl. S, 45). Diese „Grundannahme“ entspricht der Mahnung, die die evangelikale Bewegung – und, Gott sei Dank, sie nicht allein – ihrer evangelischen Kirche immer wieder vorgehalten hat. Darum lautet mein Wunsch an die evangelikale Bewegung: Werdet nicht müde, diese Mahnung zu wiederholen! Aber bitte nicht mit dem rechthaberischen Unterton: Ich hab’s ja schon immer gesagt. Das bewirkt das Gegenteil. Sondern mit dem Unterton der Freude, daß wir in dieser grundlegenden Einsicht übereinstimmen.

Wenigstens mit ein paar Strichen will ich andeuten, worin die „geistliche Profilierung“ besteht, die stärker auszubilden die evangelikale Bewegung behilflich sein kann:

Die evangelische Kirche ist von der Reformation her die Kirche, die aus und mit dem Wort Gottes lebt. Aber wenn in den Kirchenmitgliedschaftsuntersuchungen der EKD gefragt wird, was unbedingt zum Evangelischsein gehöre, dann ist das Lesen in der Bibel regelmäßig das Schlusslicht. Das Impulspapier geht darum in die richtige Richtung, wenn es eine Verständigung anstrebt „über die zwölf wichtigsten biblischen Geschichten, die zwölf wichtigsten evangelischen Lieder, die zwölf wichtigsten Gebete ..., die Gemeinsamkeit und Beheimatungskraft zugleich ausstrahlen“ (S. 79, vgl. S. 52).

Im Glaubensbekenntnis sprechen wir: „Wir erwarten die Auferstehung und das Leben der kommenden Welt.“ Es ist Ausdruck der Selbstsäkularisierung in der evangelischen Kirche, wenn stattdessen der Blick aufs Diesseits fixiert und die Erwartung des Lebens der kommenden Welt an den Rand gedrängt oder ganz verdrängt wird.

In der evangelischen Kirche ist bei der Mehrheit der Mitglieder die Mentalität verbreitet, in Distanz zur eigenen Kirche und zum Gottesdienst zu leben. Dem setzt das Impulspapier entgegen: „Christ ist keiner für sich allein“ (S.33). „Die evangelische Kirche braucht ... eine neue Bereitschaft, aus Freiheit Verbindlichkeit wachsen zu lassen“ (S.13). Das Zitat geht dann folgendermaßen weiter: „Solche Bindung aus Freiheit mündet in ein Ja zur Kirche als sichtbarer Gemeinschaft der Glaubenden.“ In dieser Hinsicht hat auch die evangelikale Bewegung dazuzulernen, ich komme darauf zurück.

Schließlich: Die Kirche ist nur dann ihrem Auftrag treu, wenn sie missionarisch wirkt, also wenn sie Menschen neu für den Glauben an Jesus Christus und für die Zugehörigkeit zur Kirche gewinnt und alle ihre Aktivitäten auf diese missionarische Dimension hin zuspitzt.

II.

Meine Wünsche an die evangelikale Bewegung waren im Kern eigentlich Anerkennung und Dank. Bei den Anfragen kommt ein kritischer Ton herein. Aber dazu bin ich mit dem Thema ja aufgefordert worden.

Für meine erste Anfrage brauche ich einen kurzen Anweg. Die Kirchengemeinde, der ich in Hannover angehöre, beteiligte sich auch dieses Jahr wieder an der „Langen Nacht der offenen Kirchen“. Der überwiegende Teil der Bänke wurde aus der Kirche entfernt, um - unterstützt von einer künstlerischen Installation - einen großen Raum der Stille und der Meditation zu schaffen. Die neue Raumerfahrung war so eindrucksvoll, dass der Kirchenvorstand beschloss, sie einige Wochen beizubehalten. Am vergangenen Sonntag ging diese Periode mit einem großartigen Gottesdienst zu Ende, in dem unser Pastor, selbst in dem offenen Raum stehend, über den Psalmvers predigte: „Du, Gott, stellst meine Füße auf weiten Raum“ (31,9). Und damit nähere ich mich meiner Anfrage: Der weite Raum, in den Gott uns entlässt, meint ja auch die überwältigende Freiheit der Kinder Gottes. Mit Recht versteht sich eine im Evangelium gegründete Kirche als „Kirche der Freiheit“. Geht es in der evangelikalen Bewegung und in evangelikalen Kreisen nicht manchmal sehr eng zu - eng im Verständnis des Glaubens, in der Auslegung der Bibel, in den Regeln der Lebensführung? Der Predigttext für den morgigen Sonntag aus dem 1. Timotheusbrief enthält den Satz: „Alles, was Gott geschaffen hat, ist gut, und nichts ist verwerflich, was mit Danksagung empfangen wird“ (4,4). Ich entnehme daraus die Losung: Habt keine Berührungsängste! Es gibt nichts in der Welt, das nicht als Gabe Gottes dankbar in Gebrauch genommen werden könnte. Jedenfalls in der Vergangenheit gab es Zeiten, da wurde in evangelikalen Kreisen Jugendlichen wie Erwachsenen im Blick auf bestimmte Aktivitäten eingebleut: Hütet euch davor! Geht auf Sicherheitsabstand! Gott hat nichts damit zu tun.

Der Geist der Enge und der Ängstlichkeit, den ich hier und da im Umgang mit Fragen des Glaubens und der Lebensführung wahrnehme, hängt zusammen mit einem gebrochenen Verhältnis der evangelikalen Bewegung zum Pluralismus. Wenn Pluralismus gleichbedeutend wäre mit Beliebigkeit, dann könnte ich das ja verstehen und die Ablehnung teilen. Aber Pluralismus im Sinne einer begrenzten Bandbreite unterschiedlicher Auffassungen ist von purer Beliebigkeit streng zu unterscheiden. Die Bibel selbst ist ein ausgezeichnetes Beispiel für einen solchen Pluralismus: Da stehen Paulus und Jakobus, das Matthäus- und das Johannesevangelium, die Spruchweisheit und das Buch Hiob zusammen, obwohl sie theologisch an nicht unwichtigen Punkten auseinandergehen. Hat die rigorose Ablehnung jeder Form des Pluralismus etwas zu tun mit dem Verlangen nach größtmöglicher Eindeutigkeit? Dann muss man sich allerdings klarmachen: Die um jeden Preis hergestellte Eindeutigkeit ist das Markenzeichen des Fundamentalismus.

Noch eine dritte Anfrage: Sie betrifft – ich habe es schon angekündigt - das Verhältnis der evangelikalen Bewegung zur Kirche. Ich beobachte im evangelikalen Bereich eine Neigung, die Bindung vor allem an die großen kirchlichen Institutionen zu lösen und kleine, aber feine selbständige Gemeinden zu bilden. Diese Neigung ist nicht durchgängig, wohl aber in wachsendem Maße festzustellen, nicht zuletzt bei den jüngeren Menschen. Nun hat es in der Geschichte der Kirche schon immer Strömungen gegeben, die sich von den Großkirchen absetzten oder jedenfalls einem lockeren Verbund einzelner Gemeinden den Vorzug vor einer festen Einbindung in eine große Kirche gaben. Es gibt hier viele Schattierungen, und man darf nicht alles über einen Leisten schlagen. Daran aber ist festzuhalten: Die Einheit der Kirche kann nicht rein spirituell gedacht werden. In den Kirchen der Reformation bleiben wir zwar auf Distanz zum römisch-katholischen Verständnis kirchlicher Einheit, aber wir bemühen uns unsererseits, durch die Herstellung von Kirchengemeinschaft der Zusammengehörigkeit zu der einen Kirche Jesu Christi sichtbaren Ausdruck zu verleihen. Wie ist demgegenüber die Tendenz zur Bildung freier und in manchen Fällen auch selbstgenügsamer Gemeinden zu bewerten? Ist da noch ein Gefühl vorhanden für die Zusammengehörigkeit zur einen Kirche Jesu Christi, und in welcher Weise wird es praktisch zur Geltung gebracht?

III.

Zum Schluss meine Anregungen. Sie sind streckenweise fast so etwas wie Bitten, und dies gilt ganz besonders für die erste, mit der ich die Frage nach dem Verhältnis der evangelikalen Bewegung zur Kirche noch einmal aufnehme.

In der Information, die mit der Einladung zum heutigen Allianztag verschickt wurde, wird an eine Reihe von Fragen erinnert, die derzeit in der evangelikalen Bewegung gestellt werden, darunter auch die Frage, ob es in Deutschland neben den beiden Großkirchen eine eigenständige „dritte“ oder - wenn man der ACK oder der Vereinigung Evangelischer Freikirchen diesen Platz bereits zurechnet - „vierte“ Kraft geben muß oder kann. Diese Frage hat mich beunruhigt. Dabei lasse ich die Erwägung ganz beiseite, ob das überhaupt eine realistische Vorstellung und nicht vielmehr eine Verkennung der tatsächlichen Verhältnisse und eine Selbstüberschätzung darstellt. Was mich an der Frage beunruhigt hat, ist der Umstand, dass die Folgen für die evangelischen Landeskirchen wie die evangelischen Freikirchen offenbar gar nicht oder zu wenig im Blick sind. Ich will diesen Aspekt anhand meiner Erfahrung als Gemeindepfarrer beleuchten. Die Gemeinde in der Nordpfalz, in der ich siebeneinhalb Jahre tätig war, dürfte typisch sein für zahlreiche evangelische Gemeinden im ländlichen Raum. Sie hat einen weithin „volkskirchlichen“ Charakter, aber mit einem nicht ganz kleinen Anteil von Gemeindegliedern, die zugleich der Landeskirchlichen Gemeinschaft angehören. Es sind nicht zuletzt diese Gemeindeglieder, die so etwas wie das Rückgrat für die ehrenamtliche Arbeit in der Gemeinde und für ihr geistliches Leben bilden. Stelle ich mir für einen Moment vor, dieser Teil der Gemeinde wandere ab, um mit Gleichgesinnten eine „dritte“ Kraft in der Region zu bilden - die Folgen wären gravierend: Die landeskirchliche Gemeinde verlöre ein wichtiges Element, das für ihre „geistliche Profilierung“ sorgt, und dies vermutlich, ohne dass die Blütenträume einer „dritten“ Kraft reiften. Meine Anregung, meine Bitte heißt also: Die evangelikale Bewegung sollte bei den Überlegungen zu ihrer zukünftigen Rolle und Stellung nicht unterschätzen, was für positive Wirkungen das evangelikale Element in den landeskirchlichen und den freikirchlichen Gemeinden ausübt. Die Separierung in einheitliche Milieus wäre kein zukunftsfähiger Weg: zum einen, weil Gemeinden aus lauter Gleichgesinnten und Gleichgestimmten die Lebendigkeit verlieren und keine Attraktivität nach außen entfalten, zum anderen, weil wir füreinander Verantwortung haben und den Weg der Kirche als ganzer im Blick behalten müssen.

Das evangelikale Element trägt nicht nur bei zur „geistlichen Profilierung“ der Kirchen, es erweist sich auch immer wieder als förderlich, um Innovationen zum Durchbruch zu verhelfen und einen Mentalitätswandel voranzubringen. Die evangelikale Bewegung ist - von den dogmatischen und ethischen Positionen einmal abgesehen - offenbar weniger strukturkonservativ als die Kirchen und ihre Gemeindeglieder. Meine zweite Anregung zielt darauf ab, dieses Potential auch weiterhin in den Kirchen wirksam werden zu lassen. So ist die evangelikale Bewegung im Medienbereich gelegentlich ein Vorreiter; ich denke an den Evangeliumsrundfunk, an idea oder an Bibel.TV. Ich habe auch kritische Fragen an das zugrundeliegende Konzept und ärgere mich manchmal über idea. Aber diese Aktivitäten sind ein Ansporn. Wettbewerb belebt das Geschäft, und zwar auf beiden Seiten.

Das Stichwort ERF ist genau die richtige Stelle für einen kleinen Einschub: Ich habe mich sehr gefreut, zu erfahren, dass Jürgen Werth vom 1. Januar an die Nachfolge von Peter Strauch im Amt des Vorsitzenden der Deutschen Evangelischen Allianz antreten wird. Gott segne diesen Dienst!

Ich war dabei, das Anregungspotential der evangelikalen Bewegung zu würdigen. Es hat auch eine Rolle gespielt, als Idee und Konzept der Profilgemeinde entstanden. Zunächst überwogen in den Landeskirchen die skeptischen und vorsichtigen Stimmen. Heute wird jedenfalls im Impulspapier des Rates der EKD offensiv für die Differenzierung der Gemeindeformen plädiert (vgl. S. 53ff). Schließlich fällt auf - um ein letztes Beispiel zu nennen -, daß es in der evangelikalen Bewegung eine spürbare Offenheit dafür gibt, in Struktur- und Organisationsfragen und im Qualitätsmanagement der Gemeindearbeit vom wirtschaftlichen Denken zu lernen. Nicht jede Innovation bewährt sich. Auch im Blick auf Innovationen gilt: „Prüfet alles, und das Gute behaltet!“ Aber was nicht ausprobiert wird, kann auch nicht geprüft werden.

So offen man in der evangelikalen Bewegung für technische und organisatorische Innovationen ist - übrigens auch für neue Musikstile, was dann so weit gehen kann, daß die herkömmlichen Lieder und Instrumente fast verdrängt werden -, so schwer tut man sich mit kulturellen Modernisierungsprozessen, die sich auf das Verständnis der Bibel und die Interpretation des Glaubens auswirken oder auswirken könnten. Meine dritte Anregung lautet:

Die evangelikale Bewegung sollte sich nicht verrennen in falsche Alternativen zwischen Bibel und Naturwissenschaft, Glaube und modernem Denken. Das jüngste Beispiel ist die Auseinandersetzung um Evolutionstheorie und Kreationismus sowie der untaugliche Versuch, über das Konzept vom intelligent design des Schöpfergottes die biblischen Aussagen und naturwissenschaftliche Erklärungen in Einklang bringen zu können. Ich halte es für einen grundlegenden Denkfehler, die Schöpfungsberichte der Bibel als Weltentstehungsmodelle zu lesen. Es lohnt sich, einen Blick zurückzuwerfen auf den Streit um die historisch-kritische Interpretation biblischer Texte. Er begann in den 50er Jahren des letzten Jahrhunderts und erreichte seinen Höhepunkt in den 70er Jahren. Seither hat sich die Situation entspannt und beruhigt, nicht zuletzt deshalb, weil eine ganze Reihe von Bibelwissenschaftlern, die der evangelikalen Bewegung nahestehen, gezeigt haben: Die historisch-kritische Methode ist nicht in sich kritikwürdig oder gar unbrauchbar, es kommt vielmehr darauf an, wie sie gehandhabt wird.

Ich komme zum Schluss. In der EKD wird nach den Perspektiven für die evangelische Kirche im 21. Jahrhundert, bei der Deutschen Evangelischen Allianz nach der Zukunft der evangelikalen Bewegung gefragt. In beiden Fällen sollte nicht übergangen werden, was der Vorsitzende des Rates der EKD im Vorwort zum Impulspapier notiert:

In unserer Gegenwart - so Bischof Huber -„wird neu nach Gott gefragt. Religiöse Themen ziehen hohe Aufmerksamkeit auf sich ... Eine in den zurückliegenden Jahrzehnten verbreitete Gleichgültigkeit gegenüber den im christlichen Glauben gegebenen Grundlagen des persönlichen wie des gemeinsamen Lebens weicht einem neuen Interesse für tragfähige Grundeinstellungen und verlässliche Orientierungen. Darin liegen neue Herausforderungen für Verkündigung und Mission ... In diesem Umfeld gewinnen auch die Umstrukturierungen in der evangelischen Kirche einen neuen Sinn. Sie lassen Kreativität, Aufbruchsstimmung und Auftragsorientierung wachsen“ (S. 7).

Aufgabenorientierung und Aufbruchsstimmung - unter dieser Überschrift sollten EKD und Deutsche Evangelische Allianz ihre Zusammenarbeit weiterführen und ausbauen.