Statement des Vorsitzenden des Rates der EKD, Bischof Wolfgang Huber, bei der Vorstellung des Gemeinsamen Wortes der Deutschen Bischofskonferenz und des Rates der EKD zur Zukunft unseres demokratischen Gemeinwesens „Demokratie braucht Tugenden“
Wolfgang Huber
1991, im Jahr nach der Vereinigung der beiden deutschen Staaten, führten der sächsische Ministerpräsident Kurt Biedenkopf und der Pfarrer Friedrich Schorlemmer einen öffentlichen Dialog über Deutschlands Zukunftsperspektiven. Schorlemmer äußerte Zweifel, ob das Solidarbewusstsein in diesem Land ausreichen würde, um die Zukunft erfolgreich zu gestalten. Biedenkopf entgegnete: "Als Kirchenmann wissen Sie, dass Tugenden das Ergebnis von Überzeugungen sind und kein Naturzustand."
In diesem weithin vergessenen Satz kündigt sich das Thema des Gemeinsamen Wortes an, das wir Ihnen heute vorstellen: Tugenden sind nicht einfach da, sondern sie müssen ausgebildet werden. Und sie gedeihen auf dem Boden von Überzeugungen. Ich füge hinzu: von religiösen und weltanschaulichen Überzeugungen.
Nun zur Hauptaussage des Textes: Die Demokratie braucht Tugenden. Der christliche Glaube bringt Tugenden hervor. Insofern sind der Glaube und das demokratische Gemeinwesen sinnvoll aufeinander bezogen. Von dieser These her entfaltet sich der Gedankengang des Gemeinsamen Wortes in fünf Schritten:
1. Zunächst wird die Situation der deutschen Demokratie angesichts der gegenwärtigen Herausforderungen skizziert. Als zentrales Gegenwartsproblem wird die anhaltend hohe Arbeitslosigkeit, als zentrales Zukunftsproblem wird die demographische Entwicklung unserer Gesellschaft herausgestellt. Beiden Herausforderungen gilt es zu begegnen
2. Sodann wird an die Verantwortung der Kirchen in der Demokratie und für die Demokratie erinnert. Uns ist bewusst: Nicht immer stand den Kirchen die Zusammengehörigkeit zwischen dem christlichen Glauben und der Demokratie als Staatsform so klar vor Augen wie heute. Auch die Christenheit hat in ihrer Geschichte es erst durch Irrtümer hindurch lernen müssen, die Demokratie und ihren Wert zu schätzen. Vor diesem Hintergrund ist es für uns umso wichtiger, für diese Staatsform einzustehen und sie nach Kräften zu unterstützen. Dies gilt erst recht, wenn sie herausgefordert oder gar gefährdet ist.
3. Ferner wird die Notwendigkeit politischer Tugenden für das Gelingen der Demokratie betont und Dabei ist der Auffassung deutlich zu widersprechen, die demokratische Staats- und Regierungsform sei eine Art "Selbstläufer" und verfüge in der verfassungsmäßig abgesicherten Mechanik ihrer Institutionen über eine Erfolgsgarantie. Bestand und Zukunftsfähigkeit der Demokratie hängen vielmehr davon ab, dass sie von den Menschen bejaht, getragen und aktiv mitgestaltet wird. Das setzt eine entsprechende Haltung voraus. Diese Haltung beruht auf politischen Tugenden. Von diesen Tugenden muss geredet und vor allem : sie müssen gestärkt werden.
4. Deshalb entfaltet diese Handreichung – und das ist ihr ethisches Herzstück – "Orientierungen für eine politische Tugendlehre aus christlicher Perspektive". Dabei wird zwischen verschiedenen Rollen im demokratischen Gemeinwesen unterschieden. Es macht einen Unterschied, ob Personen als Bürgerinnen und Bürger im Allgemeinen, als Wählerinnen und Wähler im Besonderen, als Politikerinnern und Politiker, als Journalistinnen und Journalisten oder als Verbandsvertreter, also als Repräsentanten partikularer Interessen im politischen Prozess, in den Blick kommen. Jeder dieser Rollen sind jeweils besondere Tugenderwartungen zuzuordnen. Zugleich gibt es aber auch Tugenderwartungen, die für alle diese Rollen gelten, beispielsweise und vor allem anderen die Wahrhaftigkeit in der politischen Kommunikation.
5. In einem abschließenden Kapitel wird gezeigt, welche Möglichkeiten sich eröffnen, wenn Menschen sich auf der Grundlage des christlichen Glaubens für das demokratische Gemeinwesen engagieren.
In denkbarer knapper Form habe ich damit Aufbau und Gedankengang des Textes skizziert. Eine Hauptabsicht, die wir mit der Veröffentlichung dieses Textes verbinden, will ich abschließend hervorheben. Die Kirchen möchten mit diesem Gemeinsamen Wort den Menschen in unserem Land Mut machen: Mut zur Mitwirkung am demokratischen Gemeinwesen, Mut zu notwendigen Reformen der Gesellschaft, Mut zum politischen Engagement in unterschiedlichen Rollen und Funktionen. Insgesamt also: Mut zur Gestaltung der gesellschaftlichen Zukunft. Christinnen und Christen haben Mut, weil sie von einer Hoffnung erfüllt sind, die weit über den jeweiligen Tag hinausreicht. Diese Zuversicht hat schon vielen Menschen geholfen hat, schwierige Zeiten zu bestehen und neuen Herausforderungen gerecht zu werden.
"Als Kirchenmann wissen Sie, dass Tugenden das Ergebnis von Überzeugungen sind und kein Naturzustand", mit diesem Zitat von Kurt Biedenkopf aus dem Jahr 1991 habe ich begonnen. Friedrich Schorlemmer stimmte damals seinem Gesprächspartner ausdrücklich zu und sagte: "Sonst hätte ich die DDR gar nicht überlebt."