Statement des Vorsitzenden der Deutschen Bischofskonferenz (DBK), Karl Kardinal Lehmann, bei der Vorstellung des Gemeinsamen Wortes der DBK und des Rates der EKD zur Zukunft unseres demokratischen Gemeinwesens „Demokratie braucht Tugenden“
Karl Lehmann
Vor fast zehn Jahren haben wir mit dem Gemeinsamen Wort des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland und der Deutschen Bischofskonferenz „Für eine Zukunft in Solidarität und Gerechtigkeit“ eine Bestandsaufnahme der wirtschaftlichen und sozialen Lage in Deutschland versucht. Diese ist schon damals recht nüchtern ausgefallen. Wir haben die ungeheure Massenarbeitslosigkeit und den wachsenden Riss zwischen Wohlstand und Armut als Übel in unserem Land beschrieben, an die man sich nicht gewöhnen kann und darf. Dennoch waren wir damals trotz mancher deutlichen Worte vielleicht noch zu zurückhaltend in der Formulierung von notwendigen Reformen, die sich daraus ergeben.
In den vergangenen Jahren hat sich die Lage in Deutschland noch einmal verschärft. Insbesondere stand vor zehn Jahren wohl kaum jemandem vor Augen, was die Internationalisierung der weltweiten Austauschbeziehungen, die Globalisierung, für Folgen für unsere Volkswirtschaft und damit für die Menschen in unserem Land hat. Fast noch dramatischer ist eine zweite Entwicklung, die von Experten schon lange vorausgesagt wurde, die aber erst jetzt in der breiten öffentlichen Wahrnehmung und in der politischen Debatte angelangt ist: der dramatische demographische Wandel. Diese Herausforderungen vor allem machen entschiedene Veränderungen in unserem System sozialer Sicherung notwendig, damit es auch für die nach uns kommenden Generationen noch Bestand hat und ihnen in allem Wandel eine – wenn auch veränderte – Sicherheit geben kann. Wir haben als Kirchen wiederholt solche langfristig ausgerichteten Reformen angemahnt und versucht, dazu Mut zu machen, diese Reformen auch umzusetzen. Ich denke hier besonders an den auf katholischer Seite veröffentlichten bischöflichen Impulstext „Das Soziale neu denken“ und an die kürzlich erschienene Armutsdenkschrift des Rates der EKD „Gerechte Teilhabe“. Im Kern unserer ordnungspolitischen und sozialethischen Linie stand dabei der Versuch einer gewissen Neubestimmung des Verhältnisses von Solidarität und Eigenverantwortung im Sinne des Subsidiaritätsprinzips.
Angesichts der Notwendigkeit zu langfristig ausgerichteten Reformen, müssen neueste demoskopische Erhebungen allerdings bedenklich stimmen: Wenn der ARD-Deutschlandtrend in diesem November ausweist, daß 51 % der Deutschen mit dem Funktionieren der Demokratie unzufrieden sind, dann scheint die Sorge nicht unbegründet, daß die arbeits- und sozialpolitische Situation und die damit zusammenhängenden, immer noch ungelösten Probleme das System unserer Demokratie insgesamt in Frage stellen könnten. Wir hatten deshalb den Eindruck, dass wir als Kirchen noch einmal grundsätzlicher die Situation unseres demokratischen Gemeinwesens beleuchten sollten.
Es ist unzweifelhaft: Unser demokratisches Gemeinwesen steht vor Aufgaben, die mit Routinepolitik nicht zu bewältigen sind. Erschüttert ist die Vorstellung, alle Einzelinteressen fügten sich harmonisch zum Gemeinwohl, überließe man sie nur der unsichtbaren Hand des Marktes oder der sichtbaren Hand des Staates. Seit Jahren wird intensiv diskutiert, was zu tun ist. Aber die Wahrnehmung der Herausforderungen und die lebhafte Auseinandersetzung darüber, wie diesen zu begegnen sei, haben unser Land noch nicht wirklich in Bewegung gesetzt. Mit kleinen Schritten und gelegentlichen Appellen an den Patriotismus sind die heute notwendigen Veränderungen nicht zu erreichen. Allerdings: Etwas anderes als vergleichsweise kleine Schritte, so zeigen es Umfragen und auch Wahlergebnisse, wünscht eine Mehrheit von Wählerinnen und Wählern offenbar nicht.
Doch zugleich ist die Erkenntnis weit verbreitet, dass die Zukunft so nicht zu gewinnen ist. Die Verantwortung dafür wird freilich immer anderen zugewiesen, vorzugsweise „der Politik“. Es fehlt die Einsicht, dass für die Handlungs- und die Leistungsfähigkeit eines demokratischen Gemeinwesens seiner Natur gemäß alle verantwortlich sind. Und es fehlt ebenso die Einsicht, dass die Demokratie nicht nur verlässliche Strukturen und Verfahren der politischen Entscheidungsfindung braucht, sondern zugleich auf die aktive Beteiligung der Bürgerinnen und Bürger an der politischen Willensbildung angewiesen ist. Demokratische Institutionen können auf Dauer ihre Funktion nur erfüllen, wenn die politisch Handelnden Grundhaltungen erkennen lassen, die über die Strategieregeln des Erwerbs und Erhalts von Macht und Einfluss hinausgehen. Demokratische Institutionen sind zugleich nur lebensfähig, wenn alle Bürgerinnen und Bürger sich für diese Institutionen mitverantwortlich wissen. Die Demokratie braucht politische Tugenden.
Der Begriff Tugend mag hier überraschen. Lange war er aus der einfachen und auch gehobenen Alltagssprache geradezu verschwunden. Die heutige Ethik hat die Bedeutung der Tugend in der großen klassischen Philosophie, aber auch in gegenwärtigen Konzeptionen verschiedener Herkunft wiederentdeckt. Diese neue Aufmerksamkeit für die Tugendethik stellt neben den ethischen Prinzipien, Normen und Pflichten auch die moralischen Akteure wieder in den Vordergrund. Die ethischen Grundhaltungen spielen auch und gerade im Bereich des politischen Handelns eine wichtige Rolle. Dies ist auch für unser Thema ein Gewinn.
Die Kirchen äußern sich zu diesen Fragen und Herausforderungen nicht, um selbst Politik zu machen oder für einzelne politische Aufgaben Lösungen anzubieten. Ihren Auftrag und ihre Kompetenz sehen sie vor allem darin, für eine Wertorientierung in der Politik einzutreten, in deren Zentrum die Würde jedes Menschen, die Achtung der Menschenrechte und die Ausrichtung am Gemeinwohl stehen. Zu den Voraussetzungen einer an diesen Maßstäben ausgerichteten Politik gehören entsprechende Einstellungen und Verhaltensweisen auf Seiten aller am politischen Leben beteiligten Akteure, also politische Tugenden. Mit diesem Gemeinsamen Wort wollen der Rat der Evangelischen Kirche in Deutschland und die Deutsche Bischofskonferenz die heute notwendigen politischen Tugenden beschreiben. Sie wollen aber vor allem zur Ausbildung dieser Tugenden ermutigen.
Der Text geht dabei bewußt über das politische Tagesgeschäft hinaus. Und er will die politisch Handelnden auf alle Ebenen, von der Kommune bis zum europäischen und internationalen Rahmen ansprechen. Der Text ist deshalb auch nicht auf eine Regierungskonstellation hin geschrieben. Sie sehen das auch daran, daß die Kommission zur Vorbereitung des jetzt veröffentlichten Textes bereits 2004, also noch zu Zeiten der früheren Regierung auf Bundesebene, eingesetzt wurde.
Den Vorsitzenden, Bischof Dr. Reinhard Marx und Bundesminister a. D. Dr. Jürgen Schmude, und allen Mitgliedern dieser Kommission gilt unser herzlicher Dank. Wir hoffen, dass die hier vorgelegte Antwort auf die Frage nach der Zukunftsfähigkeit unseres demokratischen Gemeinwesens Beachtung findet und Resonanz hervorruft.