Predigt im Gottesdienst für die Mitarbeiterschaft des Evangelischen Zentrums in der Bartholomäus-Kirche zu Berlin
Wolfgang Huber
Johannes 1,19-23
Gnade sei mit euch und Friede von dem, der da ist und der da war und der da kommt. Amen.
Liebe Gemeinde, wir feiern heute keinen Weihnachtsgottesdienst. Vielmehr nutzen wir die Gunst dieses Freitagmittags dafür, den vierten Advent aufklingen zu lassen. Denn ihm wird es, seien wir ehrlich, nicht allzu gut gehen in diesem Jahr. Er wird verschlungen werden vom Heiligen Abend. Nehmen wir uns also die Freiheit, ihn schon heute zu feiern. Das ist besser als die vielfach vorausgenommenen Weihnachten. Als ob es Weihnachten im Plural gäbe!
Ein kleines englisches Mädchen lernte, im Gottesdienst das Vaterunser zu beten. Brav sprach es nach, was die Erwachsenen ihm vorsprachen. Nur an einer Stelle vertat sich das Mädchen. Das Wort „trespasses“ hatte es noch nie gehört – dieses alte englische Wort für „Übertretungen“. Deshalb verstand das Mädchen die Bitte des Vaterunser um die Vergebung der Schuld falsch und betete aus vollem Herzen: „And forgive us our christmasses“ – und vergib uns unsere Weihnachten.
Ein ungewolltes Bußgebet. Es ist, so glaube ich, auch heute angesagt – nach all den Weihnachten zur falschen Zeit! Feiern wir also miteinander Advent! Widmen wir uns der Vorbereitung auf den, der kommt, der Vorbereitung darauf, wie alles begann und immer wieder neu beginnt.
Bei dieser Vorbereitung gibt es einen hilfreichen Begleiter. Der Esel, der Gottes Sohn direkt in die Weihnachtsgeschichte hineinträgt, sei deshalb heute unser Gewährsmann. Der Esel, das Arbeitstier, ist in der Bibel eine tragende Kreatur. Nicht nur, dass der Prophet Sacharja in seiner Verheißung ankündigt, der Messias werde auf einem Esel eintreffen. Auch der Prophet Jesaja kommt in seinem Zorn nicht ohne den Esel aus. Er hat sogar den Ochsen dabei: Ein Ochse kennt seinen Herrn und ein Esel die Krippe seines Herrn, aber Israel kennt’ s nicht und mein Volk versteht’ s nicht. In den zehn Geboten heißt es zur Bewahrung der Freiheit, dass es nicht legitim ist, seines Nächsten Weib zu begehren – und auch nicht dessen Esel. Sie sehen schon, ohne den Esel geht nichts. Ohne die tragende Kreatur mit den großen Augen wären Maria und Josef wohl nie von Nazareth bis nach Bethlehem gekommen.
Der Esel, das Lastentier, führt in das Zentrum des christlichen Glaubens. Beim Einzug Jesu nach Jerusalem erfüllt sich die Weissagung des Sacharja; auf einem Esel zieht Jesus in die Stadt ein; das ist die adventliche Szene schlechthin. Dass die Menschen iihm das Hosianna singen, ist der entscheidende adventliche Ton: Tochter Zion, freue Dich! Hosianna, Davids Sohn! So singen wir deshalb mit Freude.
Dass wir auf Jesus schauen und ihm das Hosianna singen, ist auch die Botschaft des Predigtabschnitts für den Vierten Advent, auf den wir heute hören wollen. Er findet sich beim Evangelisten Johannes im ersten Kapitel – und er handelt von dem Täufer Johannes.
Dies ist das Zeugnis des Johannes, als die Juden zu ihm sandten Priester und Leviten von Jerusalem, dass sie ihn fragten: Wer bist du? Und er bekannte und leugnete nicht, und er bekannte: Ich bin nicht der Christus. Und sie fragten ihn: Was dann? Bist du Elia? Er sprach: Ich bin's nicht. Bist du der Prophet? Und er antwortete: Nein. Da sprachen sie zu ihm: Wer bist du dann? dass wir Antwort geben denen, die uns gesandt haben. Was sagst du von dir selbst? Er sprach: «Ich bin eine Stimme eines Predigers in der Wüste: Ebnet den Weg des Herrn!», wie der Prophet Jesaja gesagt hat.
So sieht ein wahrer Vorläufer aus. Der Unterschied zur falschen Sorte ist unverkennbar. Es war bei den Olympischen Sommerspielen 1972 in München. Die Zuschauer auf den Rängen des Olympiastadions erwarteten den Sieger des Marathonlaufs. Ein junger Mann aus Rheda-Wiedenbrück hatte sich kurz vor dem Stadion in einem Läufertrikot mit frei erfundener Startnummer auf die Bahn geschmuggelt und lief, als vermeintlicher Sieger beklatscht, eine Ehrenrunde durchs Stadion ins Ziel. Den eigentlichen Sieger, der kurze Zeit später ankam, beachteten die Zuschauer kaum. Erst später merkten sie: Wir haben den falschen beklatscht: nicht den Sieger, sondern einen falschen Vorläufer!
Heute rückt das Evangelium eine Gestalt in den Blick, die sich selbst als Vorläufer bezeichnet, einen wahren Vorläufer also: Johannes den Täufer. Er wehrte ab, als man ihn beklatschen wollte: Nach mir kommt ein Größerer, einer, der wichtiger ist. Ich laufe vor ihm her, bereite ihm den Weg. Ich mache Platz für den, der nach mir kommt. Ich bin nur der Vorläufer, der die Blicke auf den lenkt, der nach ihm kommt.
Vor uns sehen wir eine Szene, wie aus Worten gemeißelt. Ihr Titel: „Die Zeugenaussage Johannes des Täufers“. Die bohrende Frage, der er nicht ausweichen kann: Wer bist du? Die dreifache Negation: nicht der Messias, nicht Elias, nicht der Prophet. Dann das Nachsetzen der Frage: Wer dann? Die abschließende Antwort: Eine Stimme, die ruft: Macht begehbar den Weg des Herrn. Räumt die Hindernisse aus dem Weg. Der Weg, den Gott will, soll von uns bereitet werden. Wer Gott ernst nimmt, den wird er fröhlich machen. Wer seine Ankunft sucht, wird die eigene Zukunft finden.
„Johannes, wo bleibt das Positive?“ so möchte man fragen. Sechs Fragezeichen in vier biblischen Versen zeigen an, dass hier auf drängende Weise nach Klarheit gesucht wird. Das Profil unserer Szene liegt darin, dass ihre Mitte eine Verneinung ist: „Ich bin nicht der Christus!“
Diese Negation ist in sich selbst positiv. Sie befreit uns davon, mehr sein zu wollen, als wir sind. Man braucht nicht erst auf uns zu zeigen und zu sagen: „Die kochen auch nur mit Wasser!“ Wir wissen das selbst. Das ist eine große Entlastung – und damit in sich selbst positiv.
Aber auch unser Auftrag wird dadurch klar. Wir können froh und zuversichtlich von uns weg auf das Kind in der Krippe hinweisen. Die Verneinung führt auf das Evangelium hin. Ich bin nicht der Messias, du bist nicht Elia und zusammen sind wir keine Propheten. Das dreimalige Nein befreit, entlastet und macht fröhlich. Die Antwort Johannes des Täufers fährt wie ein frischer Wind in die erdrückende Wolkendecke der schwerwiegenden Erwartungen, die wir an uns selbst richten oder mit denen Zeitgenossen einhüllen, oder in die überzogenen Gewissheiten, die wir uns selbst einreden oder mit denen uns andere entgegentreten. Von uns weg auf Christus zu zeigen, ist eine adventliche Befreiung. Und wenn ich es doch schon heute verraten darf: Von uns weg auf das Kind in der Krippe zu zeigen, ist die eigentliche Weihnachtsbescherung.
Der Vorläuferrolle des Johannes verdanken wir, so scheint es, eine neue Bewertung der Vorläufigkeit überhaupt. Das vermag zu faszinieren. Vorläufigkeit ist nicht belanglos. Sie prägt vielmehr den Charakter alles menschlichen Handelns. Wir machen immer nur von unserer endlichen Freiheit Gebrauch; eine andere Freiheit steht uns gar nicht zur Verfügung. Die Irrwege der Geschichte liegen offen vor unseren Augen, wenn wir danach fragen, wo Menschen ihre endliche Freiheit mit einer unbegrenzten Freiheit verwechselt und deshalb absolute Macht für sich in Anspruch genommen haben. Wie gut, wenn wir an die Vorläufigkeit all unseres Handelns erinnert werden! Auch im alltäglichen Leben ist das befreiend. Menschen, die anderen nicht die Show stehlen, die gönnen können und sich am Erfolg der anderen mitfreuen, die selbstbewusst sind, ohne sich selbst zu wichtig zu nehmen – solche Menschen sind ein Gottesgeschenk.
Eine adventliche Kirche ist sich ihrer Vorläufigkeit bewusst. Sie weiß: ihre wichtigste Aufgabe ist es, die Freudenbotschaft mit der Treue und Zähigkeit eines Esels durch die Zeiten hindurch zu den Menschen zu tragen. Es ist die Aufgabe unserer Kirche, auf den hinzuweisen, der kommt und der größer ist als wir selbst. Unsere Arbeit im zu Ende gehenden Jahr wurde vom Bewusstsein dafür getragen, dass Christus unsere Mitte ist. In den Gemeinden landauf landab ist das zu spüren. Es bildet auch die Grundlage für all unsere Arbeit im Evangelischen Zentrum. Gerade weil diese Arbeit vorläufig ist und Hinweischarakter trägt, verdient sie Dank. Was Sie alle, was wir alle tun, ist deshalb wichtig, weil es auf einen Größeren verweist. Das macht den Adel und die Ehre unserer Arbeit aus. Haben Sie von Herzen Dank dafür, dass Sie sich daran beteiligen, Tag für Tag. Ich danke Gott für all die Christen in den Gemeinden und im Evangelischen Zentrum, die nicht vergessen: Ich bin der Briefträger, nicht der Brief! Ich bin der Wegweiser, nicht der Weg. Unsere Kirche möge vor dem hilflosen Versuch bewahrt bleiben, dem Sieger Christus die Show stehlen zu wollen – wie der junge Mann aus Rheda-Wiedenbrück 1972 beim Zieleinlauf des olympischen Marathon.
Vom Esel wollten wir uns leiten lassen. Die Journalistin Elisabeth von Thadden hat gerade unter der Überschrift „Heilige Last“ eine Spurensuche unternommen. Es ging ihr darum herauszufinden, wie der Esel an die weihnachtliche Krippe kommt. Ihre Erklärung heißt so:
In seinem Kern, geht es dem Christentum daru“ – so schreibt Elisabeth von Thadden – , dass einer des anderen Last trage, dass den Schwachen Beistand gewiss ist, allen, die mühselig und beladen sind. Der Esel bleibt aktuell. Unlängst wurde eine Frau, sie heißt passender weise Stefanie Christmann, mit dem Bundesverdienstkreuz ausgezeichnet. Sie hat Geld aufgetrieben, um tausenden alleinerziehenden Frauen in Afrika Esel zur Seite zu stellen, die ein Leben in Würde ermöglichen, indem sie Wasser schleppen. Der neue Anfang, der mit der Geburt Jesu in die Welt kam, sollte den Geringsten unter den Menschen verheißen sein, nicht allein den ohnehin mächtigen Eseltreibern der Erde.
Gehen wir auf Weihnachten zu mit dem Esel, dem treuen Lastenträger. Er hat den Platz an der Krippe verdient. Auch wir dürfen uns an seine Seite stellen und einstimmen in den festlichen Jubel. Nur zwei Tage noch! Und deswegen sage ich es schon jetzt: Ich wünsche Ihnen und Ihren Lieben ein gesegnetes Weihnachtsfest und einen guten Übergang in das neue Jahr.
Amen