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„Die Bedeutung christlicher Werte für die Zukunft der Gesellschaft“ - Vortrag beim Johannis-Sommerempfang 2008 der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Hannover

I.

Wertedebatten gibt es derzeit landauf landab. Auch Hannover stand unlängst im Zentrum solcher Debatten. Denn hier ließ sich vor kurzem ein Ableger des schweizerischen Sterbehilfe-Vereins Dignitas nieder. Dignitate ist dieses Mal der Name – zur besseren Unterscheidung. Die Ankündigung, einem schwerkranken Menschen bei seinem Suizid in Deutschland zu assistieren, löste eine noch keineswegs ausgestandene Kontroverse aus. Mit einem Prozess durch alle gerichtlichen Instanzen des Landes soll eine Änderung der Rechtslage in Deutschland vorbereitet werden. Zu den flankierenden Maßnahmen gehört, dass der Hamburger Ex-Politiker Roger Kusch eine Tötungsmaschine vorstellte, mit der sich ein Lebensmüder selbst eine tödliche Injektion verabreichen kann.

In Diskussionen dieser Art sind die Einsichten der zehn Gebote von ungebrochener Aktualität. Im fünften Gebot heißt es einfach und wegweisend: „Du sollst nicht töten“. Was dieses Gebot bedeutet, hat Martin Luther so beschrieben: „Wir sollen Gott fürchten und lieben, dass wir unserm Nächsten an seinem Leibe keinen Schaden noch Leid tun, sondern ihm helfen und beistehen in allen Nöten.“ Das ärztliche Ethos nimmt das in der Verpflichtung auf, niemandem zu schaden (neminem laede). Wer aber einem anderen Menschen beim Selbstmord assistiert, ihn wegen unterlassener Hilfeleistung zu Tode kommen lässt oder gar zur Tötung auf Verlangen bereit ist, leistet keinen Beitrag zu einer Kultur der Fürsorge, sondern zu einer Kultur des Entsorgens von menschlichem Leben.

Freilich muss man die Hintergründe wahrnehmen, die zu solchen Vorhaben Anlass geben. Viele Menschen haben die Sorge, auf dem Weg ihres Sterbens ohne Begleitung und Fürsorge auskommen zu müssen. Sie fürchten, hilflos den Maßnahmen der Apparatemedizin ausgeliefert sind. Ihre Angst ist, dass die Segnungen der Medizin für sie zum Fluch werden könnten; ihnen wird die Zeit zum Sterben genommen. Hier gilt es anzusetzen und nicht bei der geschäftsmäßigen Entsorgung von Leben.

Die christliche Tradition sieht die Begleitung Sterbender und Leidender als eine der zentralen Pflichten des menschlichen Miteinanders an. Dem christlichen Glauben gilt sie als eines der Werke der Barmherzigkeit. Schon hier erweist sich das Dreifachgebot der Liebe als der Schlüssel zu dem, was man heute eine christliche Wertorientierung nennt. Ich sage dazu lieber: eine christliche Lebenshaltung. Sie ist dadurch bestimmt, dass wir auf die Liebe Gottes, die sich in Jesus Christus zeigt, mit der Liebe zu Gott, mit der Liebe zu unserem Nächsten und mit der Liebe zu uns selbst reagieren. Mit anderen Worten: Gottvertrauen, die Fürsorge für fremdes Leben und die Verantwortung für das eigene Leben sind zentrale Elemente einer christlichen Lebenshaltung.

Gottvertrauen lenkt unsere Aufmerksamkeit darauf, dass Gott es mit unserer Welt gut meint und dass wir deshalb mit Zuversicht auf unsere Aufgaben zugehen. Die Fürsorge für fremdes und die Verantwortung für das eigene Leben lenkt unsere Aufmerksamkeit auf die ganze Spanne des menschlichen Lebens, von seinen Anfängen, die wir aus Gottes Hand empfangen, bis zu seinem Ende, wenn wir es wieder in Gottes Hand zurückgeben. Das ist der Horizont dafür, wie Christen sich an aktuellen Debatten beteiligen. Dazu noch einige weitere Bemerkungen.

Zu den Einsichten des christlichen Glaubens gehört, dass Sterben seine Zeit hat und dass wir das Sterben zulassen sollen. Die evangelische Kirche sagt ja dazu, wenn Sterbende auf eine Weiterführung der Behandlung verzichten und dem Sterben Raum geben, weil eine Krankheit unwiderruflich zum Tod führt. Die Grenze ist das, was man verharmlosend aktive Sterbehilfe nennt. Dabei geht es – das hat dankenswerterweise der Nationale Ethikrat in seiner Stellungnahme „Selbstbestimmung und Fürsorge am Lebensende“ terminologisch klargestellt – konkret um die Beihilfe zum Suizid oder die Tötung auf Verlangen. Das sind zwei Handlungsweisen, die der christliche Glaube nicht akzeptieren kann.

Es hängt nach meiner Überzeugung sehr viel an der Frage, ob es gelingt, Palliativmedizin, Hospizarbeit, Patientenverfügungen und vorsorgende Vollmachten in einer guten und besonnenen Weise weiterzuentwickeln. Denn Menschen, die sich vor einer von ihnen als sinnlos empfundenen Verlängerung des Leidens fürchten, brauchen ein Zutrauen, dass auch das Sterben als ein Teil des Lebens anerkannt wird. Auch die letzte Lebensstrecke eines Menschen ist in Würde zu gestalten. Gott ist ein Freund des Lebens. Unser Leben ist sein Geschenk. Das fünfte Gebot will uns dafür gewinnen, dass wir dem Leben dienen, wo es nur möglich ist. Deshalb wünsche ich mir in der letzten Stunde des Lebens, nicht durch die Hand eines anderen Menschen zu sterben, sondern an der Hand eines nahen Menschen. Die Begrenzung des Lebens liegt allein bei Gott.

In diesen Tagen rückt wieder die Frage der Patientenverfügung ins Zentrum der Aufmerksamkeit. Sie soll Vorsorge für eine Situation treffen, in der über eine medizinische Behandlung entschieden werden soll, ohne dass ich mich selbst dazu äußern kann. Was soll in einem solchen Fall mangelnder Äußerungsfähigkeit geschehen? Kann der Gesetzgeber helfen? Reicht es zu fordern, dass Patientenverfügungen „eins zu eins“ umzusetzen sind?

In dieser Forderung besteht der Kern eines Gesetzentwurfs, über den der Deutsche Bundestag in der nächsten Woche debattiert.  Er sieht vor, dass dem schriftlichen Willen des Patienten unabhängig von der aktuellen Situation zu folgen ist. Nur so sei die Selbstbestimmung des Patienten zu gewährleisten. Doch entspricht die schriftliche Festlegung noch dem aktuellen Willen? Hätte der Patient sich genauso geäußert, wenn er über die konkrete Diagnose und die bestehenden Therapiemöglichkeiten hätte informiert werden können? Gilt eine Patientenverfügung nur im Blick auf das Grundleiden, das unwiderruflich zum Tode führt?

Fragen über Fragen. Sie weisen darauf hin, dass kein Fall wie der andere ist. Deshalb erscheint mir folgende Feststellung als notwendig: Schriftliche Patientenverfügungen sind ein wichtiger Ausdruck menschlicher Selbstbestimmung. Doch sie können nicht alles regeln. Wie soll beispielsweise eine lange vorher getroffene Festlegung unabhängig von Art und Stadium der Krankheit gelten? Eine Patientenverfügung kann nicht für sich allein betrachtet werden. In vielen Fällen ist eine Vorsorgende Vollmacht das Allerwichtigste. Ein naher Angehöriger oder ein verlässlicher Freund soll Gesprächspartner des Arztes sein, wenn der Patient nicht mehr für sich selbst sprechen kann. Nur so kann es gelingen, die Selbstbestimmung des Patienten und die Fürsorge für sein Leben in Einklang zu bringen. Am wichtigsten ist die Einsicht, dass das menschliche Leben ist zu keinem Zeitpunkt verfügbar. Denn es gilt die biblische Einsicht: „Geboren werden hat seine Zeit, Sterben hat seine Zeit.“

Das führt uns zu einer knappen Überlegung zum Beginn des menschlichen Lebens. Die Diskussion der letzten Jahre in unserer Kirche hat in dieser Frage zu wichtigen Einsichten geführt. Wir gehen mit der Frage von Schwangerschaftskonflikten klarer als früher um. Wir wissen, dass menschliches Leben nur mit der Mutter, nicht gegen sie geschützt werden kann. Wir beharren darauf, dass die Väter sich aus ihrer Verantwortung nicht wegstehlen können. Wir nehmen ernst, dass die Schwangerschaft ein Lebensverhältnis ist; und wir wollen das Unsere dazu beitragen, dass dieses Lebensverhältnis gelingt. Und wir beharren nach wie vor darauf, dass der Skandal legalisierter Spätabtreibungen, bei denen lebensfähige Embryonen getötet werden, ein Ende findet. Dass der Gesetzgeber zur Korrektur dieses Irrwegs noch immer kein Mittel gefunden hat, erscheint mir als inakzeptabel.

Die Reproduktionsmedizin hat neue Fragen aufgeworfen, an denen sich die Gemüter erhitzen. Wenn Embryonen in der Petrischale erzeugt werden, dann erstreckt sich die Verantwortung für menschliches Leben auch schon auf dessen erste Stufen. Und wir halten mit großer Klarheit daran fest, dass menschliches Leben, wenn es denn überhaupt künstlich hergestellt wird, nur um seiner selbst willen hervorgebracht werden darf. Embryonen dürfen nur zu reproduktionsmedizinischen Zwecken, nicht zu Forschungszwecken hergestellt werden. Darüber gab und gibt es in unserer Kirche keinen Zweifel. Unter welchen Bedingungen Embryonen, die dann faktisch nicht für die Entstehung von menschlichem Leben in Anspruch genommen werden, sondern zum Absterben verurteilt sind, für Aufgaben der Forschung oder der Therapie in Anspruch genommen werden dürfen und welche Grenzen dafür gelten, war die komplexe Frage, in der in den letzten Monaten unterschiedliche Auffassungen vertreten wurden. Der Klarheit in unserem Eintreten für das Leben tut das keinen Abbruch.

II.

Ich habe mich in den bisherigen Überlegungen nur auf einen von zahlreichen Zusammenhängen bezogen, in denen zunehmend wieder von den zehn Geboten die Rede ist. Das deutsche Hygienemuseum in Dresden hat ihnen eine Vortragsreihe gewidmet. Theaterprogramme werden an ihnen orientiert, Ausstellungen ihnen gewidmet.

Eine neue Serie der Fernseh-Talkrunde Tacheles widmet sich derzeit den zehn Geboten. Junge Leute werden in einem solchen Zusammenhang gefragt, welche Gebote ihnen die wichtigsten seien: „Du sollst nicht töten“ heißt die Antwort. Und: „Du sollst Vater und Mutter ehren.“ Und welche Gebote hinzugefügt werden sollen, werden die jungen Leute auch gefragt. Sie antworten: „Du sollst die Kinder achten.“ Und: „Du sollst die Umwelt für Deine Nachkommen bewahren.“ Eindrucksvoll antwortet auch die Agnostikerin Thea Dorn: „Du sollst deine Lebenszeit nicht nutzlos verbringen.“ Und weniger ernsthaft, aber auch des Nachdenkens wert, der verstorbene Dichter Robert Gernhardt: „Du sollst nicht lärmen.“

Kaum einem fällt in solchen Zusammenhängen übrigens auf, dass die zehn Gebote mit keiner der so oft zitierten Aufforderungen beginnen. Sie beginnen überhaupt nicht mit einer Aufforderung. Ihr erster Satz heißt: „Ich bin der Herr, dein Gott, der ich dich aus Ägyptenland, aus der Knechtschaft, geführt habe.“ Dann kommt erst die erste Aufforderung, das erste Gebot: „Du sollst keine anderen Götter haben neben mir.“ So wie die Einleitung unterschätzt wird: die Zusage der Freiheit, so wird auch das erste Gebot unterschätzt: die Wegweisung der Freiheit. Dabei ist auch sie von kaum zu überschätzender Aktualität.

Zu offenkundig ist, dass wir in der Gefahr stehen, uns neuen Göttern zu unterwerfen, so oft wir auch die Behauptung wiederholen, wir lebten in einer säkularen Gesellschaft. Die Götter des Erfolgs, der Selbstverwirklichung, der Eigenverantwortung, die Neigung dazu, wirtschaftliche Maßstäbe über alles und jedes herrschen zu lassen, beispielsweise auch über den Sonntag, all das zeigt, mit welcher Art von Götzendienst wir uns heute auseinanderzusetzen haben. Dass Menschen auch in Zeiten der Globalisierung noch den Sinn für Proportion behalten, versteht sich keineswegs von selbst.

Die verbreitete Unsicherheit im Umgang mit den Fragen der Gerechtigkeit spricht in dieser Hinsicht eine deutliche Sprache. Die Evangelische Kirche hat versucht, hier eine klare Orientierung zu geben. Wir treten unverändert für Gerechtigkeit und Solidarität in unserer Gesellschaft ein, wie wir es im Gemeinsamen Wirtschafts- und Sozialwort der Kirchen 1997 formuliert haben. Was wir damit meinen, haben wir in der Denkschrift zur Armut in Deutschland unter dem Titel „Gerechte Teilhabe“ verdeutlicht. In einer Denkschrift, die in wenigen Wochen veröffentlicht wird, werden wir daraus Konsequenzen für unternehmerische Verantwortung ziehen. An konkreten Beispielen werden wir verdeutlichen, warum wir als Kirche einem immer weiteren Auseinanderklaffen von Reich und Arm in unserer Gesellschaft entgegentreten. Wir halten dem die Goldene Regel entgegen, neben dem Dreifachgebot der Liebe eine andere Form, in der Jesus die christliche Lebenshaltung zusammenfasst: „Was ihr wollt, dass euch die Leute tun sollen, das tut ihnen auch.“ Auch für wirtschaftsethische Zusammenhänge ist das eine klare und hilfreiche Orientierung. Jesu berühmtes Zinsgroschenwort muss heute wohl so aufgenommen werden, dass man freimütig sagt: „Gebt der Wirtschaft, was der Wirtschaft ist, und Gott, was Gottes ist.“ Das ist übrigens ein Grundsatz, dessen Befolgung der Wirtschaft selbst keineswegs zum Schaden gereichen würde.

Es gehört auch zu den Auswirkungen der Globalisierung, dass wir solche Fragen in einer Situation erörtern, die durch religiöse Pluralität gekennzeichnet ist. Es ist ja wahr: Nach der Bedeutung christlicher Werte für die Zukunft unserer Gesellschaft fragen wir auch deshalb mit neuem Nachdruck, weil andere, nämlich islamische Werte in unserer Gesellschaft verstärkt Geltung beanspruchen. Welche Haltung nehmen wir zu dieser Entwicklung ein? Wie zeigen wir den Respekt vor der Religionsfreiheit auch Andersgläubiger in überzeugender Weise und bezeugen doch zugleich den Respekt gegenüber der Prägekraft des christlichen Glaubens für Gegenwart und Zukunft? Wie praktizieren wir Toleranz ohne falsche Unterwürfigkeit? Diese Frage ist von offenkundiger Aktualität.

Diese Frage wurde exemplarisch am Thema der Moscheebauten diskutiert. Meinerseits habe ich in diesem Zusammenhang gelegentlich darauf aufmerksam gemacht, dass gegenwärtig mehr Moscheen neu gebaut werden, als bisher in Deutschland existieren. Meine Überlegungen zu dieser Entwicklung gehen davon aus, dass Religionsfreiheit immer auch die Freiheit des Andersgläubigen ist. Wir können zwar darauf hinweisen, dass auch die Diskussion über Moscheebauten in Deutschland davon profitieren würde, wenn Christen in Saudi-Arabien neue Kirchen bauen könnten und wenn die Religionsfreiheit auch für christliche Gemeinden in der Türkei gewährleistet wäre, statt dass das Christentum in der Region um seine Existenz fürchten müsste, in die der Apostel Paulus einige seiner wichtigsten Briefe schrieb. Trotzdem gilt ebenso: Wir selbst können unser Verständnis von Freiheit nicht davon abhängig machen, ob sie in anderen Ländern gewährt wird oder nicht. Das schließt natürlich auch den Bau von Moscheen hierzulande ein. Ich halte es in diesem Zusammenhang für besser, Muslime bewegen sich in ihren Moscheen als in irgendwelchen Hinterhöfen.

Was wir in diesem Land brauchen, ist nach meiner Überzeugung ein wirklich standhafter und prinzipienfester Dialog mit dem Islam. Er geht davon aus, dass unsere muslimischen Mitbürgerinnen und Mitbürger keineswegs von vornherein aus unserer Werte- und Verfassungswelt herausdefiniert werden. Vielmehr müssen wir versuchen, sie in die Mitverantwortung für Religionsfreiheit und Toleranz hineinzuziehen. Aber dazu gehört auch die Bereitschaft, Machtansprüche in Frage stellen, ohne unsere freiheitlichen Prinzipien aufzugeben. Ich bin froh darüber, dass dieser Ansatz auch in der Öffentlichkeit verstanden wird. Dass er zugleich lebhafte Kontroversen auslöst, versteht sich von selbst. Und wenn die Frage gestellt wird, ob die Position der Evangelischen Kirche in Deutschland in solchen Fragen sich weiterentwickelt hat, frage ich zurück, wem wohl damit gedient wäre, wenn wir in derart wichtigen Fragen nicht dazu lernen würden. Die evangelische Kirche jedenfalls versteht sich, wenn ich das einmal ganz weltlich ausdrücken darf, als ein lernendes System. Und wenn ich es geistlich sagen darf: Sie vertraut auf den Heiligen Geist. Und der hat es ja bekanntlich damit zu tun, dass er nicht nur weht, wo und wann er will, sondern dass er bei diesem Wehen auch Neues bringt.

III.

Als Christen wissen wir uns in eine Hoffnungsperspektive hineingestellt, die sich am kürzesten in den Worten erfassen lässt, mit denen die biblische Erzählung von der Sintflut schließt: „So lange die Erde steht, soll nicht aufhören Saat und Ernte, Frost und Hitze, Sommer und Winter, Tag und Nacht“ (1. Mose 8, 22).

Saat und Ernte, Frost und Hitze, Sommer und Winter, Tag und Nacht bestimmen bei aller technischen Weiterentwicklung bis heute unseren Lebensrhythmus. Die Kenntnis dieses sich Jahr für Jahr neu entwickelnden Zyklus ist die Grundlage nicht nur für wirtschaftlichen Erfolg, sondern auch für unsere Ernährung. Und gleichzeitig erleben wir immer stärker, dass dieser Rhythmus zwar im Großen beständig, im Detail aber sehr gefährdet ist. Er wird von Menschenhand beeinflusst und verändert. Genau in dieser Hinsicht verwandeln sich die Errungenschaften der modernen Wissenschaft in Gefährdungen, wenn beispielsweise durch die Emission von Treibhausgasen die Klimaerwärmung forciert oder durch die Begradigung von Wasserläufen die Hochwassergefahr erhöht wird. Wir spüren, dass der kurzfristige Vorteil nicht dafür bürgt, dass unser Handeln langfristig verantwortbar ist.

Das Wissen, dass die Verantwortung für unser Handeln dessen langfristige Folgen einschließt, ist in der Land- wie in der Forstwirtschaft seit Jahrhunderten fest verankert. Das heute so beliebte Wort „Nachhaltigkeit“ ist zuerst überhaupt für die Forstwirtschaft geprägt worden. Sie musste nämlich auf den guten Altersaufbau eines Waldes achten, wenn ein langfristiger Ertrag gesichert werden sollte. Hier wurde zunächst die Vorstellung von einem Generationenvertrag geprägt, dem zufolge wirtschaftlich effektives Handeln sich nicht nur am eigenen Vorteil, sondern auch am Nutzen für die nächste Generation ausrichtet. Heute sehen wir – zumindest ansatzweise – ein, dass zukunftsfähiges Handeln sich an solchen Grundsätzen der Nachhaltigkeit und des Generationenvertrags ausrichten muss. Dass diese Art von Verantwortung für unsere Zukunftsfähigkeit, für die Bildung tragender Werte, für die Nachhaltigkeit unseres Lebens und Wirtschaftens von entscheidender Bedeutung ist.

Doch selbstverständlich sind solche Einsichten nicht. Meistens beschränkt man die Anwendung dieser Konzeption auf den Bereich der Ökologie. Doch so wichtig dieser Bereich ist, so wichtig ist es, dass wir neben der ökologischen und der ökonomischen auch die soziale und kulturelle Nachhaltigkeit im Blick haben. Ob unsere Gesellschaft zukunftsfähig ist, entscheidet sich nicht nur daran, ob wir mit den natürlichen Ressourcen verantwortlich umgehen und unsere Wirtschaft leistungs- und wettbewerbsfähig erhalten. Es entscheidet sich ebenso daran, ob wir die Institutionen des sozialen Zusammenlebens pfleglich behandeln, ob wir unsere kulturelle Identität bewusst bewahren und weiterentwickeln, ja, ob es uns gelingt, ein Bild von der Zukunft unserer Gesellschaft zu entwerfen. Sonst könnte es sein, dass wir wichtige Elemente des sozialen Zusammenhalts und des kulturellen Erbes innerhalb kurzer Zeit verspielen, ohne dass irgendein tragfähiger Ersatz dafür in Aussicht steht.

Das Schlüsselthema, an dem sich für mich eine solche umfassendere Betrachtung von Nachhaltigkeit entscheidet, ist das Thema der Familie. Der demographische Wandel, den wir erleben, nötigt uns dazu, den ursprünglichen Sinn des vierten Gebots wieder zu erkennen: „Du sollst Vater und Mutter ehren“. Im ursprünglichen Sinn des Gebots sind damit die alt gewordenen Eltern von Erwachsenen gemeint, die auf Ehre und Fürsorge in besonderer Weise angewiesen sind. Doch wir sollten bedenken, dass Dankbarkeit und Fürsorge in gleicher Weise auch aufgebracht werden sollten, wo es um die Gabe des Lebens, das Geschenk des Geborenwerdens, das Aufwachsen von Kindern geht. Das wir an dieser Stelle zu einem Paradigmenwechsel kommen, ist in meinen Augen eine der dringlichsten Aufgaben unserer Zeit.

Auch am Beispiel des Sonntags lässt sich erläutern, was ich meine. Auch nach der Föderalismusreform steht der Umgang mit ihm unter dem Verfassungsgebot, den Sonntag und die staatlich anerkannten Feiertage „als Tage der Arbeitsruhe und der seelischen Erhebung“ zu achten. Durch die Steigerung der Zahl der verkaufsoffenen Sonntage, wird dieses Verfassungsgebot in manchen Bundesländern Schritt für Schritt ausgehöhlt. Die beiden Kirchen haben sich deshalb dazu entschlossen, im Blick auf die gesetzliche Regelung dieser Frage das Bundesverfassungsgericht anzurufen.

Die christlichen Kirchen bringen auch in diese Diskussion das christliche Menschenbild ein. Wir sagen deutlich: Der Sonntag ist als Tag des Gottesdienstes, der Muße und der Besinnung zu erhalten. „Ohne Sonntag gibt es nur noch Werktage“ – dieser Satz, den wir als evangelische Kirche vor wenigen Jahren in einer öffentlichen Kampagne vertreten haben, gilt auch heute. Im vergangenen Jahr haben wir die Sonntags-Kampagne wieder neu aufgenommen: „Gott sei Dank, es ist Sonntag.“ Mit diesem Satz sprechen wir eine noch deutlichere Sprache – und weisen ausdrücklich darauf hin, wem der „Tag des Herrn“ gewidmet ist – oder doch gewidmet sein sollte. „Du sollst den Feiertag heiligen.“ So sagt es das dritte Gebot. Es geht in der Diskussion um den Sonntagsschutz um die Bewahrung einer wichtigen sozialen Institution, um die kulturelle Qualität des Zusammenlebens, um den Raum für die Freiheit der Religion. Dabei muss man betonen, dass eine Aushöhlung des Sonntagsschutzes, wie dies Bundesverfassungsrichter Udo di Fabio deutlich gemacht hat, keineswegs der Religionsneutralität des Staates entspricht. Sondern ein solches Verhalten bevorzugt eine religionslose, ja atheistische Einstellung. Das ist gerade kein Ausdruck von Religionsneutralität, sondern von religiöser Parteinahme, wenn auch in antireligiöser Absicht.

Es ging und es geht uns als evangelischer Kirche um Nachhaltigkeit und um einen christlich geprägten Wert, den ich für die Zukunft unserer Gesellschaft für ein unerlässliches Gut halte. Wir wollen nicht zulassen, dass das Menschenbild in unserer Gesellschaft auf Konsumentengröße gestutzt wird. Der Sonntag ist ein Symbol für die Würde und die Freiheit, die dem Menschen von Gott aus zukommt und durch die das Bild des Menschen in unserer Gesellschaft grundsätzlich geprägt ist. Ich wünschte, unsere Gesellschaft insgesamt könnte den Sonntag mit den Worten begrüßen: „Gott sei Dank, es ist Sonntag!“

IV.

Die Würde des Menschen vom Anfang bis zum Ende seines Lebens, die Bedeutung der Goldenen Regel für das Zusammenleben in der Gesellschaft und die Aufgabe nachhaltigen Handelns: das waren die drei Beispiele, an denen ich verdeutlichen wollte, dass die Frage nach der Bedeutung christlicher Werte für die Zukunft unserer Gesellschaft eine verheißungsvolle Frage ist. In allen drei Hinsichten bewährt sich eine Orientierung an Gottvertrauen, Fürsorge für den Mitmenschen und Verantwortung für das eigene Leben als den drei Leitsternen einer christlichen Lebenshaltung. Viele andere Beispiele ließen sich dafür nennen. Wir Christen haben gute Gründe dafür, unsere Grundhaltungen und Perspektiven selbstbewusst in die gesellschaftliche Debatte einzubringen. Orte, an denen diese Grundhaltungen und Perspektiven vermittelt werden, finden sich weit über Hannover hinaus, wenn an ihnen zusammenfinden: Nächstenliebe und Zuversicht, Gottvertrauen und Orientierung am gemeinsamen Besten.

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