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„Klugheit, Gerechtigkeit, Tapferkeit, Maß - und nicht nur diese vier - Zur Wiederentdeckung der Tugenden“ - Ansprache beim Johannisempfang der EKD in der Französischen Friedrichstadtkirche zu Berlin

I.

Eine „absolute Nervensache“ haben wir gestern Abend erlebt. Glaubt man den Berichterstattern, so lag es nur an den „typisch deutschen Tugenden“, dass sich die deutsche Mannschaft im letzten Augenblick noch durchsetzte. Deshalb muss auch heute von Tugenden die Rede sein. Aber ehrlich gesagt: Als ich mich zur Wahl dieses Themas entschloss, ahnte ich noch nicht, dass es zum zentralen Thema des Sommers 2008 werden würde. Aber wir haben es gestern Abend nicht zum ersten Mal erlebt: „Durch Kampf zum Sieg“ – das ist offenbar die Parole für die Europameisterschaft 2008.

Michael Ballack war es, der die Parole ausgab: „Die deutschen Tugenden sind das Allererste, was wir zeigen müssen.“ Die Auslegung dieses Satzes, die man in einem bissigen Kommentar dazu hören konnte, war nicht gerade fair. Da war die Rede von „dicken Oberschenkeln, tückischen Grätschen, gnadenlos erfolgreichem Ergebnisfußball“. Der Parole als solcher konnte das keinen Abbruch tun. „Die deutschen Tugenden“ – ohne jedes Zögern gab Sebastian Schweinsteiger diese Antwort auf die Frage, was denn der Grund für das glänzende Spiel der deutschen Nationalmannschaft gegen Portugal gewesen sei. „Die deutschen Tugenden“ – so hieß der Kommentar auch gestern nach einem weit weniger glänzenden, aber schließlich doch erfolgreichen Spiel.

Was ist damit gemeint? Die Antwort findet sich schnell: Teamgeist wird an erster Stelle genannt. Und weil auch Menschen mit einer DDR-Biographie schnell verstehen sollen, was gemeint ist, findet eine in Süddeutschland erscheinende Zeitung auf ihrer Seite 1 die zündende Formel: „Die Macht des Kollektivs“.

Ziemlich missverständlich kann die Rede von den deutschen Tugenden sein. Wenn ein Fußballkommentator die deutschen Tugenden mit Angst und Schrecken zusammenbringt, die unser Land in diese Welt gebracht hätte, dann zeigt das überdeutlich die Notwendigkeit genaueren Nachfragens an. Welche Tugenden sind denn gemeint? Was macht den Teamgeist denn aus? Disziplin? Gehorsam? Fußballerischer Ordnungssinn? Kehren die berühmten Sekundärtugenden, die außerhalb des Fußballfelds schon lange aus der Mode gekommen sind, unversehens zurück? Oder haben nicht auch Besonnenheit, Fairness, Mut und das rechte Maß das Spiel der Nationalmannschaft in diesen Tagen bestimmt. Dies sind ja nur andere Worte für Klugheit, Gerechtigkeit, Tapferkeit und Maß – und damit für das Viergespann der Kardinaltugenden, von denen schon die alten Griechen sprachen. Dann wäre der Begriff der „Tugend“ sogar gut gewählt. Nur um „deutsche“ Tugenden würde es sich nicht handeln, sondern eben einfach um – Tugenden.

II.

Doch nicht nur im Fußball hat die Rede von den Tugenden Konjunktur, sondern auch die Kirchen haben sie – sogar schon vor einiger Zeit – wieder entdeckt. Freilich war die Resonanz nicht gerade überwältigend, wie man zugeben muss. „Demokratie braucht Tugenden“ – so haben wir getextet und eine Gemeinsame Erklärung der beiden großen Kirchen zur Zukunft unserer Demokratie veröffentlicht. Im Kern geht es um die einfache These, dass die Demokratie nicht nur von Institutionen abhängig ist, sondern ebenso von Haltungen der Bürgerinnen und Bürger. Am Beispiel der Volksvertreter, der Lobbyisten, der Journalisten und schließlich der Wählerinnen und Wähler wird das verdeutlicht. Sie alle, so heben wir hervor, haben einen „Beruf zur Politik“. Sie alle müssen sich fragen lassen, wie wichtig ihnen das Gemeinwohl ist. Ihnen allen muss man die kritische Selbstprüfung abverlangen, wie sie es mit den Tugenden halten.

Es ist zuzugeben: Die These, die Demokratie hänge nicht nur von Institutionen, sondern auch von Haltungen ab, läuft eher unrund über das politische Feld. Jeder hält sie für richtig, aber niemand bringt den Ball mit einem Steilpass in Tornähe. Der politische Alltag hat es mit der Machtverteilung zwischen Bund und Ländern zu tun (womit noch nicht gesagt ist, wofür denn die verteilte Macht gebraucht wird), mit ausgeglichenen Haushalten (die doch an den schon aufgelaufenen Schulden nichts ändern) oder mit dem Funktionieren der europäischen Institutionen (wodurch diese nicht unbedingt verständlicher werden). Aber die Identifikationsbereitschaft der Bevölkerung mit ihrer Demokratie hängt nicht an institutionellen Vorkehrungen, sondern an Menschen. Sie hängt – das Wort lässt sich gar nicht vermeiden – an Vorbildern. Sie hängt daran, ob Menschen in öffentlichen Ämtern auch bereit sind, öffentliche Tugenden wie etwa Wahrhaftigkeit und Verlässlichkeit zu praktizieren, um nur die wichtigsten zu nennen. Denn das Schmieröl einer Gesellschaft ist Vertrauen. Alle vier Jahre wird dieses Vertrauen abgefragt.

Übrigens ist das Vertrauen nicht nur für die Politik ein unentbehrliches Kapital. Auch derjenige Bereich, der es in besonderer Weise mit Kapital zu tun hat, die Wirtschaft nämlich, braucht Vertrauen. Und Vertrauen braucht Tugenden. Auch Menschen in wirtschaftlicher Verantwortung tun für sich, für ihr Unternehmen und für die Gesellschaft etwas Gutes, wenn sie verlässlich und vertrauenswürdig agieren. Nicht nur die Demokratie braucht Tugenden, auch die soziale Marktwirtschaft braucht sie.

III.

Aber Tugenden hatten lange einen schlechten Ruf. Schon das Wort klingt für viele nach hochgeschlossenen Kleidern und moralinsauren Spaßverderbern. Tugendwächter und Tugendkataloge passen, wie es scheint, nicht in die moderne Welt. Und seit junge Männer als Tugendhüter ihrer Schwestern vor Berliner Schulen stehen, Väter die Rocklänge ihrer Töchter kontrollieren und sich Mädchen die Kopftücher tiefer ins Gesicht ziehen, hat auch der Marktwert der Demut noch einmal neu gelitten, wenn er nicht sowieso am Boden lag. Es scheint so, dass eher die Laster derzeit hoch im Kurs stehen. Geiz ist immer noch geil, Lügen führen zum Erfolg, so ein neuer Buchtitel im Bereich Beratungsliteratur. Der eine Soziologe diagnostiziert die Neidgesellschaft, der andere sieht in der Rede von der Sünde einen Feind des schönen Lebens. Und auf schönes Leben kommt es an, nicht auf Tugenden.

Doch das Ethos der europäischen Kultur hat einmal ganz auf die Tugenden gesetzt. Zu Recht, wie ich finde. Denn Tugenden sind eine Lebenshaltung, die alles andere als altmodisch ist. Klugheit und Besonnenheit, Gerechtigkeitssinn, Mut und Standhaftigkeit, das rechte Maß, aber auch Wahrhaftigkeit, Ausdauer und die Fähigkeit zur Eintracht, das sind Haltungen, wie sie in jeder Ausschreibung für Führungspositionen stehen könnten. Sie fördern die demokratische Gesinnung, sie machen in unsicheren Situationen kreativ und flexibel; sie sind Anzeichen starker Persönlichkeiten.

Dass in den Tugenden politische Brisanz schlummert, haben schon die antiken Politikberater gewusst. Cicero etwa gab der Führungselite seiner Zeit Tugendkataloge an die Hand, damit sie sich im Alltag orientieren konnten. Großen Worten traute Cicero nur, wenn sie sich mit alltagsfesten Haltungen verbanden. In den Tugenden sieht er sie verwirklicht. Tugenden sollten sich bewähren, wenn es brenzlig wird, wenn gut und böse nicht klar auf der Hand liegen und der Zeitdruck ein ruhiges Hin- und Herwenden der Argumente unmöglich macht. Keine sehr antike Situation, wie ich finde.

Auch die Tugenden, die seit alter Zeit empfohlen werden, sind nicht gerade altbacken. Klugheit und Besonnenheit beispielsweise, also das Vermögen, sich Distanz zu verschaffen vom unmittelbaren Gefühl, das einen zu überwältigen droht, von Wut oder Zorn oder beißendem Ärger. Sebastian Schweinsteiger hätte im Spiel gegen Kroatien von ihnen profitiert, wie jeder von uns in zahlreichen Momenten des Alltags:  Wie ärgerlich sind im Nachhinein die spontanen Reaktionen, die starke Gefühle so häufig provozieren – eine unbedachte e-Mail, die sich nicht mehr zurückrufen lässt, ein hässliches Wort zu dem Gegner auf der anderen Seite des Tisches, eine boshafte Bemerkung, die sich hartnäckig im Gedächtnis des Anderen hält. Unbesonnenheit kann einen Kopf und Kragen kosten. Besonnenheit als Haltung der Besinnung auf das Richtige schafft einen Moment der Ruhe. Das Urteilsvermögen kann wieder einsetzen.

Tugenden sind aber noch mehr als allein persönliche Haltungen. Sie schließen auch den Sinn für Proportion in der Gestaltung von Institutionen und Lebensverhältnissen ein. Es reicht, wenn Manager das Zehnfache vom Durchschnittsgehalt ihrer Mitarbeiter bekommen, hat eine Mehrheit der Deutschen unlängst gesagt – es braucht nicht das 35-fache zu sein. Das ist ein Beispiel für elementaren Gerechtigkeitssinn. Gerechtigkeit ist die Tugend der Institutionen. Keine der klassischen Tugenden ist häufiger im Gespräch als diese. Nur wird die Gerechtigkeit nur selten als eine Tugend verstanden; häufiger erscheint sie als eine Forderung, die man anderen gegenüber geltend macht. Das, was man heute den „Gerechtigkeitsdiskurs“ nennt, verändert sich erheblich, wenn man nicht nur fragt, ob bei der gesellschaftlichen Verteilung für einen selbst genug abfällt, sondern sich dafür interessiert, aus welcher Haltung man selbst zur Gestaltung der Gesellschaft beiträgt. Die Rede von den Tugenden hat es, wie dieses Beispiel zeigt, vorrangig damit zu tun, wie individuelle und institutionelle Verantwortung wahrgenommen wird.

Auch Tapferkeit oder Standhaftigkeit ist wahrlich keine Haltung von gestern. Wir alle wissen, was dafür das wichtigste Beispiel ist: der Mut nämlich, eine schmerzhafte Wahrheit auszusprechen, anstatt sie aus Kalkül und Anpassungsdruck so zu ermäßigen, dass es keiner mehr merkt. Die Querdenker werden zwar theoretisch gelobt, aber im eigenen Haus oder in der eigenen Abteilung, bei der Sitzung, in der endlich ein Ergebnis erzielt werden muss, will keiner sie haben. Kurz: Quergedacht soll werden, aber bitte nicht bei mir. Deshalb meine ich: Freiheit zur mutigen Rede, kurz: Freimut, gibt es bei uns nicht zu viel, sondern zu wenig.

Es gehört zu den Besonderheiten der deutschen Sprache, dass Mut und Demut in eine scheinbare Alternative zueinander geraten sind. In der Folge wurde Mut vor allem Knaben und Männern, Demut dagegen vor allem Mädchen und Frauen aufgeredet. So ließ sich deren Zurücksetzung auch noch moralisch verklausulieren. Bei den Politik- und Ethikberatern Aristoteles, Cicero oder Spinoza hatte die Tugend der Demut freilich keine weiblichen Adressaten. Nur in Demut werden aus wichtigen Männern wirklich große Männer, davon waren alle drei überzeugt. Heute gilt das auch für wichtige Frauen. Solche Demut begegnet auch denen mit Respekt, die es nicht so weit gebracht haben. Der Demütige ist nüchtern genug, um zu wissen, dass die eigene Stärke nur zu einem kleinen Teil eigenes Verdienst ist; und er macht sich über die Zerbrechlichkeit der eigenen Stärke keine Illusionen. Gegen die Verführung des Höhenrauschs der Erfolgreichen gibt es wohl kein anderes Gegenmittel als Demut. Sie verhilft auch den Mächtigen zu der Einsicht, dass sie nur Menschen mit beschränkter Vollmacht sind.

Seit langem schätze ich unter den Tugenden ganz besonders das Maß. Ein kurzes Wort mit großer Sprengkraft. Wer Maß hält, wer das richtige Augenmaß kennt, ist nämlich in der Lage, angemessen zu entscheiden. Dabei ist die  Tugend des Maßes kein Einfallstor für Mittelmäßigkeit. Das Maßhalten ermutigt auch nicht zu Kompromissen um jeden Preis. Es ist gewiss ein Wegweiser zur Reduktion der Leibesfülle – denn Tugendfreunde des Maßhaltens versammeln sich heute hauptsächlich bei den weight-watchers. Freilich verwandeln diese sich oft genug in gnadenlose Tugendwächter. Aber wenn stattdessen das Maßhalten als Grundhaltung in brisanten Situationen geübt wird, tritt eine Fähigkeit zu Tage, die viele Formen alltäglicher Überreaktionen verhindern kann. Das Maß ist die Tugend der Deeskalation. Was könnte in politischen Konflikten wichtiger sein!

IV.

Die Geschichte um die Tugenden des deutschen Fußballs geht übrigens noch weiter. Auch Philipp Lahm wurde interviewt. Auch er wurde nach dem Erfolgsrezept der deutschen Mannschaft gefragt. Auch seine Antwort war knapp. „Der Glaube war’s. Der Glaube ist alles.“ Diese Antwort lenkt nicht etwa vom Tugendthema ab. Sie vertieft es. Zu den vier Kardinaltugenden sind nämlich im Christentum drei Tugenden hinzugetreten, die die anderen justieren und in ein neues Licht setzen: Glaube, Hoffnung und Liebe.

Glaube, Hoffnung und Liebe werden so aus dem Himmel dogmatischer Theologie und kirchlicher Sonntagsrede auf die Erde geholt. Als Haltungen helfen sie uns Christen, neben dem geraden Rückgrat auch einen weiten Blick zu behalten, der sich nicht nur auf das konzentriert, was vor den Füßen liegt. Glaube, Hoffnung und Liebe weiten die Perspektive auch in Situationen, in denen es eng wird. Es gibt etwas jenseits des eigenen Horizonts. Das macht den Kopf frei. Und es hilft zum beherzten Handeln im Geist der Freiheit, die Gott Menschen schenkt, die nicht perfekt sein wollen.

Von Tugenden sollte man überhaupt nur im Geist der Freiheit reden. Denn alles andere wäre Tugendterror. Und den wollen wir nicht einmal an Tagen, in denen alle fußballbegeistert die deutschen Tugenden wiederentdecken.

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