Meine sehr verehrten Damen und Herren,
liebe Schwestern und Brüder,
sehr herzlich begrüße ich Sie alle zu unserem 9. Johannisempfang in Berlin. In diesem Jahr meint das Wetter es wieder gut mit uns, so dass wir uns auf Begegnungen und Gespräche auf dem Gendarmenmarkt freuen können im Schein der Abendsonne. Wie sagt es doch die Dichterin: „Nichts Schöneres unter der Sonne, als unter der Sonne zu sein.“
So hat es schon der junge Abraham empfunden. Ein Midrasch, eine jüdische Lehrerzählung, berichtet: Schon als Kind hat unser Vater Abraham versucht, Gott zu finden. Es war ein herrlicher Frühlingstag am Euphrat. Die Sonne schien, sattes Grün und Blütenpracht überall und die Vögel sangen. Woher kommt all die Herrlichkeit des Lebens, fragte sich der Junge bei seinem Gang durch die bewässerten Felder. Er blickte hinauf zu der hellen Glut der Sonne und er verstand: Es ist die Sonne. Die Sonne ist der Gott, der alles ins Leben ruft. Abraham war froh, Gott gefunden zu haben, und er diente ihm den ganzen Tag. Am Abend ging die Sonne unter. Die Sterne erschienen und die große Scheibe des silbernen Mondes mit seinem geadelten Licht. Abraham erschrak, weil er dachte, der Mond habe die Sonne vertrieben und sei stärker als sie. Also ist der Mond der Gott, sagte sich Abraham und beschloss, ihm zu dienen. Das tat er, bis er einschlief.
Am Morgen, als er erwachte, stand schon wieder die Sonne am Himmelszelt. Da hat Abraham verstanden, dass dies ein ganz normaler Vorgang ist, Sonne und Mond wechseln sich ab. Gott hat sie beide geschaffen. Er ist größer als sie und selber nicht zu sehen. Dem unsichtbaren Gott, dem will ich dienen.
Allerdings war dies eine schwierige Entdeckung für den Jungen. Denn sein Vater betrieb eine florierende Werkstatt für Götterstatuen. Als der Vater einmal zum Rathaus gegen musste, sager er zu Abraham: „Heute musst du die Götter verkaufen.“
Als erstes kam ein vornehmer Herr in mittleren Jahren, der kaufte ein teures Götterbild, ohne zu handeln. Dann kam eine alte Frau, der man ansah, dass sie arm war. Als sie die ersparten Denare zählte, um einen kleinen Holzgötzen zu erwerben, hielt Abraham es nicht mehr aus: „Mütterchen, Ihr wollt Euer gutes Geld für ein Bild ausgeben, das mein Vater gestern geschnitzt hat? Das ist doch dumm…“ Doch die Frau hörte nicht auf ihn, schüttelte den Kopf und kaufte. So ging es weiter. Schließlich geriet Abraham in solche Wut, dass er einen Stock nahm, die Götterstatuen kurz und klein schlug. Nur eine große ließ er übrig und stellte den Stock neben sie.
Als später der Vater in die Tür kam, erstarrte er. Dann schrie er entsetzt: „Abraham, was ist passiert?“ „Na“, antwortete dieser, „die Götter haben so miteinander gestritten, wer der mächtigste von ihnen sei. Schließlich war es dem großen da zuviel und er hat den Stock genommen.“ „Das glaubst du doch wohl selber nicht?“, rief der Vater. „Und, glaubst du an deine Götter?“, war die Gegenfrage des Sohnes. So hat unser Vater Abraham seinen Vater vom falschen Glauben bekehrt, schließt der Midrasch.
Verehrte Gäste,
auf humorvolle Weise erzählt diese Geschichte davon, wie Freiheit aus Glauben entsteht. Die Suche nach dem unsichtbaren Gott schafft Raum und bewahrt uns vor falschem Gehorsam gegenüber Mächtigen und Naturgewalten. Die Suche nach Gott, nach dem Ursprung und Sinn unseres Lebens, ist immer antitotalitär. Sie entthront die Götter, an die wir vorschnell unser Herz hängten. Daher sagt der Prophet Amos: “Suchet den Herrn, so werdet ihr Leben“ (5,6). Schon die Suche nach Gott soll gesegnet sein.
In diesen Tagen sehen wir Fahnen überall. Sie gehören zu frohen und leidenschaftlichen Fußballspielen in einem Europa der Freiheit und des Rechts. Fahnen als Symbol der Lebensfreude und des patriotischen Gemeinschaftserlebens. Mit Bangen und Begeisterung haben auch die Bundeskanzlerin, der für Sport zuständige Minister und andere Mitglieder des Kabinetts den Weg unserer Mannschaft begleitet. Wir alle freuen uns nun auf das Endspiel am Sonntag.
Fahnenmeere können allerdings gerade in Berlin auch eine andere Assoziation wecken und an dunkle Zeiten erinnern, in denen dem Götzen Blut und Boden Millionen Menschen geopfert wurden. Durch unsägliches Leid hindurch ist dieser Götze Nationalismus besiegt und entzaubert worden. Dennoch muss die Politik wachsam bleiben. Demokraten müssen zusammenstehen und bei allem Streit um Zukunftsfragen immer auch die starke gemeinsame Grundlage spüren und spüren lassen.
Vor einigen Wochen ergab es sich bei einem Abendgespräch im EKD-Haus gegenüber, dass Abgeordnete von SPD und Union sehr offen auf die Lage der Koalition und die Situation in den eigenen Parteien zu sprechen kamen. Schließlich sagte einer der Abgeordneten sinngemäß: ‚Wir wissen nicht, was die Zukunft bringt, aber diese Koalition hat auf beiden Seiten bewirkt, dass Verkrampfungen und Vorurteile überwunden wurden, dass wir uns anders wahrnehmen. Diese Erfahrung sollten wir festhalten.’
Liebe Gäste,
mit diesem von Herzen kommenden Appell erreichen wir den Bereich der politischen Tugenden und sind sehr gespannt auf den Vortrag des Ratsvorsitzenden.
Vorher dürfen wir uns jedoch auf eine Einstimmung auf das Thema des Vortrags durch das Vocalconsort Berlin freuen. Durch „Bushes und Briars“ – durch Büsche und Zweige hindurch macht sich der Wanderer in dem nun folgenden Werk von Ralph Vaughan Williams auf die Suche nach Tugenden, nach Liebe und dem Sinn des Lebens.