Unsere Aufmerksamkeit gilt heute Nachmittag einer Kostbarkeit, die beinahe aus der Zeit geraten zu sein scheint. Auf den ersten Blick mutet es fast in doppeltem Sinne anachronistisch an, neue Briefmarken anzubieten.
Wir verabreden uns heutzutage terminlich, inhaltlich, privat und beruflich kaum noch per Brief, sondern haben schnellere Wege, Geschriebenes auszutauschen: per Mail, per SMS und – wenn es gar nicht anders geht – per Fax. Elektronisch versenden wir Worte und Daten, geflirtet wird heute eher mit den maximal 160 Zeichen einer Short-Message, Liebeserklärungen werden in die Tastatur des Computers getippt und direkt verschickt. Ja, es soll, wenn dies auch schwer vorstellbar ist, sogar schon vorgekommen sein, das Beziehungen per SMS beendet wurden. Wer nutzt noch einen Füllfederhalter, ein Stück Papier, fein gefaltet, in einen Umschlag gesteckt, adressiert und dann mit einer Briefmarke verziert?
Auch im dienstlichen und beruflichen Informationsaustausch geht heute das Meiste elektronisch. Ich selber wüsste nicht, wie ich ohne E-Mail meinen beruflichen Alltag organisieren und bewältigen sollte. Wer das papierfreie Büro propagiert, braucht auch das kleinste Stück Papier in einem Büro – die Briefmarke – eigentlich kaum noch. Die Briefe in meiner Kanzlei rattern überwiegend durch die Frankiermaschine, für sorgsames Bekleben mit schönen Marken reicht die Zeit nur bei ausgewählten Briefen wie Glückwünschen und Kondolenzen.
Denn – und das ist der zweite Anachronismus-, das Postwertzeichen ist auch ein Zeichen für einen anderen Umgang mit der Zeit: Zeit braucht das Schreiben eines Briefes – vielleicht sogar schön mit der Hand, nachdenkend, um jede Formulierung ringend. Zusätzlich nimmt sich der Absender Zeit, um den Brief versandfertig zu machen, ihn zum Briefkasten oder zur Post zu bringen – und der Absender hofft, dass der Empfänger sich Zeit nimmt, weil das Gegenüber erkennt, welche Zeit investiert wurde. Und Zeit braucht es auch, bis die Botschaft vom Absender beim Empfänger ist. „Schneckenpost“ nennen wir, die wir elektronische Post gewohnt sind, manchmal den Versand mit Briefmarken. Wer einen Brief schreibt, der gönnt sich und dem Empfänger bewusst etwas von dem wertvollen und knappen Gut der Zeit. Kostbar ist das, was ich meinem Gegenüber damit widme, etwas, von dem ich gar nicht viel habe und was ich ausgesucht und bewusst verschenke, und es wird symbolisiert durch dieses kleines, wertvolle Stückchen Papier.
Sehr geehrter Herr Bundesfinanzminister, es sei ihr persönliches Interesse gewesen, so wurde mir berichtet, dass es eine Sondermarke zum Thema Ehrenamt geben soll.
Ich bin Ihnen für diese schöne Idee sehr dankbar, denn damit bringen Sie zwei Kostbarkeiten zusammen. Denn wie dem Wertzeichen, dessen Name für sich spricht, sehe ich auch im Ehrenamt ein bürgerliches Zeichen der Zeit, das sich auf berührende Weise gegen eine Entmenschlichung und Blutleere in unserem Miteinander wendet.
Auch dem Ehrenamt haftet etwas fast Anachronistisches an in der heutigen Zeit: Menschen bringen nicht nur ihre Lebenserfahrung, ihre Kompetenz, ihr Geld, ihre Begeisterung, sondern auch und gerade ihre Zeit ein. Das, von dem so viele sagen, dass sie es nicht haben, stellen Ehrenamtliche anderen zur Verfügung.
Wie die Briefmarke bildet auch das Ehrenamt einen Widerspruch zu allen Regeln, vorhandene Zeit nur für die eigene Karriere, nur für das eigene Weiterkommen, nur für den eigenen Verdienst, also ausschließlich egoistisch zu nutzen.
Dafür kann weder die Kirche noch die Gesellschaft häufig genug danken.
Wir wissen, dass bei immer knapper werdender personellen und finanziellen Ressourcen ohne das bürgerschaftliche Engagement eine soziales Miteinander in unserem Land und in unserer Kirche nicht mehr möglich wäre.
Deshalb hat unsere Landeskirche das Projekt „Stipendium Ehrenamt“ ins Leben gerufen, um die mehr als 100 000 ehrenamtlich Tätigen zu qualifizieren und zugleich die Anerkennung des Ehrenamtes zu fördern.
„Kirche lebt durch...“ lautete das Motto unserer Kirchenvorstandswahlen vor 2 Jahren und zielte bewusst auf die Menschen, die sich ehrenamtlich bei uns engagieren in einer Bandbreite, wie sie wohl einmalig ist.
Dieses Engagement finden wir in Leitungsgremien, die in der evangelischen Kirche von ihrem Selbstverständnis her ohne die Beteiligung Ehrenamtlicher nicht zu denken sind wie auch in den Gemeinden, in denen Ehrenamtliche Woche für Woche Kaffee kochen, Gemeindebriefe austeilen, Kranke besuchen, Kreise leiten und so ihr Ehrenamt und den beruflichen Dienst der Hauptamtlichen als gemeinsame Verantwortung für unsere Kirche verstehen.
Auch die wachsenden Stiftungen in unseren Kirchen sind ein schönes, ermutigendes Beispiel. Die hannoversche Landeskirche hat vor 6 Jahren die erste Stiftungsinitiative auf den Weg gebracht, mittlerweile sind weit über 200 kirchliche Stiftungen neu entstanden. Kirchengemeinden und Einrichtungen, Kantoreien und Fördervereine haben die Chance für eine zukunftsorientierte Arbeit erkannt. Und hinter jeder Stiftungsgründung stehen Menschen, die bereit sind, sich mit ihren Ideen, ihrer Zeit und ihrem Geld ehrenamtlich einzubringen.
Sehr geehrter Herr Bundesfinanzminister, mit der Sondermarke zum Thema Ehrenamt zeigen Sie, dass Sie den besonderen Wert des Ehrenamtes und des bürgerschaftlichen Engagement in unserer Gesellschaft schätzen und dies – das unterstelle ich Ihnen einfach einmal– nicht nur aus pekuniären Überlegungen, die man sonst bei einem Finanzminister vermuten darf. Das wäre kein ausreichender Grund gewesen, eine Sondermarke zu machen. Sie bekennen sich mit dem von Ihnen angeregten Postwertzeichen dazu, dass das Ehrenamt eine wichtige Lebensader ist, die unsere Gesellschaft zusammen hält, denn Sonderpostwertzeichen sollen hervorheben, was für Gesellschaft herausragende Bedeutung hat – und eben nicht, was „nur“ dem Steuersäckel Geld einbringt.
Und so bleibt zum Schluss die nicht ganz ernst gemeinte Frage, ob dahinter auch ein zusätzliches Kalkül steckt, dass Menschen, die mit ihrer Zeit großzügig umgehen und sie ehrenamtlich verschenken, auch nicht so auf die Geschwindigkeit ihrer Kommunikation achten, sondern der Ästhetik des Briefes schätzen und deshalb Briefmarken nicht nur sammeln, sondern sie auch nutzen. In diesem Sinne, wünsche ich dieser Sondermarke, dass sie häufig versandt wird, und danke Ihnen, Herrn Minister Steinbrück, für diese besondere, wenige Quadratzentimeter große Anerkennung des Ehrenamts.