Liebe Schwestern und Brüder,
wenn man den Wert einer theologischen Pfarrkonferenz daran bemisst, was die Teilnehmenden in einer Predigt verwerten können, so ist dieser Tag mit dem Lesefehler des Kollegen Kaiser von dem Leib Christi als „lieblicher“ Einheit und Frau Dr. Chungs Erläuterungen dieser Einheit mit Hilfe von Sang-Saeng (Harmonie) und der versöhnten Verschiedenheit als Dschudschulpan (neun Zutaten) vielleicht schon gelaufen. Ich muss Ihnen jetzt aber doch noch eine Portion systematische Theologie zumuten. Doch ein paar Beispiele für die Predigt oder die Bibelarbeit verspreche ich Ihnen auch. Lassen Sie mich beginnen mit drei Vorbemerkungen zum Verständnis des mir gestellten Themas und zum Geist, in dem ich dazu reden will:
1. Theologie der Diaspora – das klingt nach einer weiteren der vielen Genitivtheologien wie Theologie der Hoffnung, des Todes Gottes, Theologie der Frage, der Revolution oder der Befreiung. Doch der Genitiv Diaspora lässt sich in zwei Richtungen auflösen. Im Sinne eines genitivus subjectivus handelt es sich um eine Theologie, deren Subjekt die Diaspora ist, als genitivus objectivus geht es um eine Theologie für die Diaspora. Soll mit dem Stichwort Diaspora keine neue Norm für die Theologie eingeführt, sondern nur eine besondere Situation annonciert werden, so ist das Thema im letzteren Sinn zu verstehen: Theologie als Hilfeleistung für die Situation der Kirche in der Diaspora. Dabei spielen natürlich Erfahrungen in der Diaspora eine wichtige Rolle. Nicht als neue Norm, wohl aber als Augenöffner und Lernfeld und Prüfstein der Theologie.
Aus den Erfahrungen, die ich in der evangelischen Diaspora Brasiliens und in der Begegnung mit europäischen Minderheitskirchen gemacht habe, weiß ich: jede Theologie muss sich dabei darauf einstellen, befragte und kritisierte, aber auch kritisch rückfragende zu sein. Gelegentlich entwickelt sich die Befragung zur Anklagebank. So habe ich es als europäischer Theologe von der Befreiungstheologie her erlebt, nicht immer sehr reflektiert. Ein Student, ein Vertreter der damals aus der Situation im Nordosten Brasiliens erwachsenen „Theologie der Hacke“ (teologia da enxada), warf mir als Europäer vor, nicht zu wissen, was Hunger sei. Was er nicht wusste, war, dass ich ein Berliner Nachkriegs- und Blockadekind mit sechs Geschwistern war. Umgekehrt können theologische Rückfragen an die Diaspora zu Kontroversen führen, wie z.B. in der Auseinandersetzung mit Diasporakirchen Mittel- und Osteuropas um die Bedeutung der historisch-kritischen Methode für die Bibelauslegung, um die Frage der Frauenordination oder der Stellung der Kirche zur Homosexualität. Doch das ist ja die Aufgabe von Theologie – kritische Reflexion der Praxis der Kirche, sei sie nun in der Diaspora oder in einer eher volkskirchlichen Situation.
2. Theologie als kritische Reflexion der Praxis der Kirche? Ist das nicht ein bisschen wenig? Theologe ist, wer von Gott spricht gemäß der Wahrheit zur Ehre Gottes - diese einprägsame und schöne Selbstdefinition des holländischen Theologen Campegio Vitringa aus dem 17. Jahrhundert sagt mehr. Und wir wären schlechte Theologen, wenn wir mit dem Pilatus des Johannesevangeliums und vielen Zeitgenossen bedenklich die Stirne runzelten und fragen: „Was ist Wahrheit?“ Vitringa war reformierter Bibeltheologe. „Gemäß der Wahrheit“ – das hieß für ihn selbstverständlich „gemäß dem in der Bibel bezeugten Wort Gottes“. Zudem wären wir nicht evangelische Theologen, wenn wir nicht gleich hinzufügten: Wort Gottes – das ist das Wort, in welchem nach Röm. 1,17 der Gott des Evangeliums sich kundgibt und durch welches er nach Hebr. 1,3 alle Dinge, also auch die Diaspora trägt. Das sind die Quelle und das Ziel, in deren Licht jene kritische Reflexion der real-existierenden Kirche geschieht. Handelt es sich aber um diese Wahrheit, also um die Majestät der Gnade, dann muss Gott ein erfreuliches Wort und die Theologie eine freie und fröhliche Wissenschaft sein. K. Barth hat recht: „Man kann nur gerne, mit Freude Theologe sein oder man ist es im Grund gar nicht. Grämliche Gesichter, verdrießliche Gedanken und langweilige Redensarten können gerade in dieser Wissenschaft unmöglich geduldet werden“ (KD II/1, 740). Das gilt auch für die Theologie der Diaspora. Doch „Diaspora – was ist das?“
3. Konfessionelle, ethnische, sprachliche, säkulare, ja sogar – manch einer oder eine erinnert sich an den berühmten Synodal-Vortrag von Werner Krusche aus dem Jahr 1973 - ideologische Diaspora, Substantivbildungen wie Spaltungsdiaspora, Auswanderungs- und Migrationsdiaspora, Konventikel- und Auslandssdiaspora, oder die Unterscheidung von Volks- und Diaspora-, Mehrheits- und Minderheitskirche machen den Ausdruck Diaspora mittlerweile zu einem vagabundierenden Begriff, der zwischen nüchterner Situationsbeschreibung, Rückzugsdiagnose und verklärender ekklesiologischer Prognose schwankt. Evangelische Theologie muss gegenüber soziologischen Deutungskategorien auf einer theologischen Bestimmung von Diaspora bestehen. Dem gilt der erste Teil meiner Ausführungen (I.). Der zweite Teil erörtert unter dem Titel Gefahren und Chancen Herausforderungen gegenwärtiger evangelischer Diaspora (II.). Im dritten Teil frage ich nach Hilfen zur Bewältigung der Existenz in der Diaspora (III.).
I. Diaspora – eine biblisch-theologische Bestimmung
Wenn Theologie bedeutet gemäß biblischer Wahrheit reden, dann muss der Anfang mit einer biblischen Bestimmung der Sache gemacht werden. Ich erinnere an das Wichtigste. Das aus dem Verb diaspeirein abgeleitete griechische Wort Diaspora kommt zu uns aus der Septuaginta. In allen 12 Stellen dort wird Diaspora „als terminus für die Zerstreuung der Juden unter die Heidenvölker, aber auch … für die Z e r s t r e u t e n selbst“ gebraucht (K. L. Schmidt, THWNT II, 99). Klassisch etwa in Jer. 15, 7 (=LXX 41,17): „ich worfele sie mit der Worfschaufel“. Dabei wird etwa in Dtn. 30, 3ff. und Neh. 1, 9 oder auch Psalm 147, 2 der „derzeitigen Zerstreuung der Juden die spätere Rückführung in das Land der Väter gegenübergestellt“.
Aus der Tatsache, dass die hebräischen Ausdrücke für Diaspora durchweg nicht Golah oder Galoth, d.h. Wegführung, Deportation und Exil sind, darf man nach der 2005 veröffentlichten umfangreichen Dissertation „Exil und Diaspora“ im antiken Judentum und in der hebräischen Bibel von Jörn Kiefer keine wirklich gravierenden theologischen Differenzen ableiten. Beide Begriffskomplexe enthalten, so Kiefer die Erfahrung einer „überall präsente(n) und unvermeidbare(n) Realität“ und das „beklagenswerte(.) Schicksal der Schwächeren“ (aaO, 432 u. 688) und deren Deutung als „Gottesgericht“ (ebd). Zu beiden Terminologien gehören aber auch die Akzeptanz, ja zum Teil positive Deutung von Exil und Diaspora etwa in Erinnerung an Josef in Ägypten oder Mose in Midian (aaO, 695). „Gottes Gegenwart und Zuwendung“ (ebd.) gehen in Exil und Diaspora nicht verloren, sondern werden neu erfahren und verbinden sich mit der innerweltlichen und eschatologischen Rückkehr- und Sammlungshoffnung der Zerstreuten (aaO, ebd.). Akzeptanz und neue Erfahrung in Exil und Diaspora spiegeln sich auch in einer beachtlichen theologischen Produktivität in dieser Situation, der sich z.B. der Deuterojesaja oder die sog. Priesterschrift mit ihrer besonderen Kritik des babylonischen Polytheismus verdankt, also Theologie in der Diaspora für die Diaspora. Schließlich kennen sowohl die Hebräische Bibel wie das antike Judentum den „Zusammenhang von Universalismus und Diaspora“ (ebd.), d.h. Diaspora wird nicht nur als Geschick des Volkes Israel, sondern auch als mögliche Augenöffnung aller Völker für den Gott Israels verstanden (Kiefer, aaO, 693). Mit einer Formulierung des Alttestamentlers Christoph Levin gesagt: „The conditions of life in exile and the diaspora were reflected in an integrative monotheism.“
Dieser Zusammenhang von Diaspora und Universalismus dürfte das "Hochgefühl" des „außerhalb des Mutterlandes in der weiten Welt lebenden Jude(n)“ verständlich machen, das K. L. Schmidt „an der Tatsache der (jüdischen) Diaspora“ im Sinne der Ausstreuung heilsamen Saatguts ablas (aaO, ebd.). Denn es trifft zu, dass die Judenheit im Römischen Reich wuchs und wuchs. „Zur Zeit des Urchristentums ist die jüdische Diaspora für bald 150 Orte außerhalb Palästina nachgewiesen“ . Dann aber widerfuhr der jüdischen Diaspora durch die Zerstörung Jerusalems im Jahr 70 n. Chr. eine große „Störung“ (ebd.), sie wurde nun „sozusagen heimatlos“ (ebd.).
Hat man nun im Auge, dass „die Christen der ersten Jahrhunderte“ sich „ausnahmslos in der Diaspora“ befanden, überrascht es umso mehr, dass das Wort diaspora im Neuen Testament „nur dreimal vorkommt“, nämlich Joh. 7,35; 1Petr 1,1; Jak 1,1), wobei Joh 7,35 sich auf Juden bezieht. Lukas hingegen gebraucht das Verb diaspeirein „dreimal im Zusammenhang der Vertreibung der hellenistischen Judenchristen aus Jerusalem (Apg 8,1.4; 11,19)“ . Dabei fällt der Zusammenhang von Zerstreuung im Sinne von gottgewollter Aussaat und Mission auf.
Im 1. Petrusbrief ist die Anrede an die, „die verstreut wohnen in Pontus, Galatien, Kappadozien, der Provinz Asien und Bithynien“ eingebunden in den „Kontext der Fremdheits-, Leidens- und Gerichtsmotivik“ (Th. Klein, aaO, 36) des gesamten Briefes, also „theologisch pointiert verwendet“ (aaO, 37). Das geschieht freilich so, dass „die Aussicht, dass Fremdheit und Leiden“ und also auch Zerstreuung und Vereinzelung „bald ein Ende haben“ (aaO, 38) werden. Typisch für den stark moralisierenden Jakobusbrief hingegen ist die Tatsache, dass dort der Diasporabegriff „auch geographisch gebraucht“ wird, vor allem aber “inhaltlich negativ konnotiert“ (aaO, 39) ist. Diaspora heißt hier für die Christen „ständig Verlockungen und Anfechtungen ausgesetzt“ zu sein (1,2-4.12) und „in der Gefahr“ zu stehen, “’Weltfreunde’ zu werden (1,27; 2,1-5; 4,4)“ (aaO, ebd.). In dieser Situation „ergeht ein autoritatives Schreiben des Jerusalemer Gemeindeleiters (sozusagen der damalige Auslandsbischof: Hü) an die Glaubensgeschwister außerhalb Palästinas“ (aaO, ebd.), das zu Geduld im Leiden und Widerstand gegen die Versuchungen in der Diaspora aufruft und mahnt.
Zusammenfassend lässt sich die Unterscheidung, nicht Trennung zwischen Altem und Neuem Testament in der Bestimmung dessen, was Diaspora ist und bedeutet, mit dem Leipziger Alttestamentler Rüdiger Lux so charakterisieren:
Unter Hinweis auf die letzten Verse der Hebräischen Bibel, nämlich 2. Chronik 36, 23 („So spricht Kyros, der König von Persien, JHWH, der Gott des Himmels, hat mir alle Königreiche der Erde gegeben und hat mir befohlen, ihm ein Haus zu bauen in Jerusalem in Jude. Wer nun unter euch von seinem Volk ist, mit dem sei JHWH, sein Gott, und er ziehe hinauf“) nennt Lux das „dominierende Diasporakonzept Israels und des Judentums … bis zum heutigen Tag“ „das der Sammlung“ . Im Unterschied zu diesem „zentripetale(n) Diasporakonzept, das an Jerusalem, dem Zion und seinem Tempel und dem verheißenen Land orientiert ist“, sieht Lux (unter Verweis auf den Missionsbefehl in Mt. 28,18ff) die Kirche bestimmt von „einem zentrifugalen Diasporakonzept, mit dem man (von Jerusalem her, Zusatz Hü) unterwegs ist zu allen Völkern der Welt“ (aaO, ebd.).
Eine die ganze Bibel ernst nehmende Theologie der Diaspora wird das alttestamentliche Diasporakonzept nicht einfach zu den Akten schreiben können, sondern beiden Diasporakonzepten Rechnung tragen wollen. Unter Auslassung der interessanten kirchengeschichtlichen Dimension von Diaspora mache ich nun einen Sprung und komme ich zu den Herausforderungen der gegenwärtigen evangelischen Diaspora. Nur eine kleine kirchengeschichtliche Beobachtung. Im Deutschen kommt das Wort Diaspora zuerst bei Nikolaus Graf Zinzendorf vor im Sinne von Existenz der Brüdergemeinde in der Landeskirche.
II. Gefahren und Chancen gegenwärtiger Existenz in der Diaspora
Die gegenwärtige Existenz in der Diaspora ist durch drei Herausforderungen gekennzeichnet, die ich in drei Dualen wiedergebe: 1. Konfessionelle Diaspora und Nation; 2. Konfession und Ökumene und 3. Konfessionelle Diaspora und Mission.
1. Konfessionelle Diaspora und Nation
Die neuere Diasporawissenschaft hat die Spannung bzw. Verschlingung von völkischer und konfessioneller Diaspora, der sog. doppelten Diaspora als deren besondere Gefährdung herausgestellt und diskutiert. Dahinter steckt die Kritik am Hineinwirken der Volkstumstheologie des konfessionellen deutschen Luthertums Erlanger Prägung der 30ger Jahre in die evangelische Diaspora Mittel- und Osteuropas, aber auch Südamerikas. Der langjährige Präsident des GAW Franz Lau sprach von der „schweren Versuchung“ der doppelten Diaspora und wies, hier lässt Luther nun wirklich grüßen, der Theologie die Aufgabe zu, „die Diaspora in der Kampfzone zwischen Gott und Satan sehen zu müssen“ . Diese Zeit ist Gott sei Dank vorbei. Aber gerade die kleinen deutschen Auslands- und Diasporagemeinden werden auch heute das Problem und die Versuchung hautnah kennen. Was ist diese Gemeinde nun zuerst und zumeist - deutsch oder evangelisch? Und wenn man auf die Lage des Protestantismus in Mittel- und Osteuropa blickt, so gibt es einerseits die Wiedergeburt lutherischer Gemeinden im Bereich der ehemaligen Sowjetunion aus deutschen Kulturbünden und –gesellschaften. Andererseits zeigt sich an vielen Stellen die Unbeweglichkeit der ethnisch geprägten Protestantismen etwa in Ungarn oder Rumänien, in der Vojwodina oder Kroatien, aber auch in Russland (ingermanisch, deutsch, estnisch) zu größerer innerevangelischer Gemeinschaft. Manchmal hat man sogar das Gefühl, einmal vor ein Entweder-Oder gestellt, würde die eine oder die andere Diasporakirche der Nation den Lorbeerkranz reichen. Ist das nicht auch die Gefahr mancher der deutschen Auslandsgemeinden, von denen wir GAW gelegentlich feststellen, dass sie von der Existenz kleiner nichtdeutscher evangelischer Kirchen in ihren Ländern nichts wissen, geschweige denn den Kontakt dorthin suchen?
Dennoch wird man heute wie früher an vielen Stellen auch die Chancen gerade der doppelten evangelischen Diaspora nicht übersehen dürfen. Das beginnt mit dem Vorteil der Beherrschung zweier Sprachen, geht (jedenfalls etwa in Südamerika) über die Verbesserung beruflicher Chancen in der globalisierten Welt bis hin zur Profilierung des eigenen Glaubens. In der Fremde und als Minderheit wird einem das Eigene nicht nur lieber, sondern auch bewusster und klarer. Franz Lau sprach nicht nur von der Versuchung, sondern auch von der Verheißung der doppelten Diaspora und erinnerte daran, dass das Deutschtum half, das evangelische Bekenntnis zu weiterzugeben, zu bewahren und nicht in der mehrheitlich katholisch und orthodox geprägten neuen nationalen Umgebung aufzugehen. „Volkstumsbewußtsein und evangelisches Bewußtsein taten einander wechselseitig Dienst“, so Franz Lau (aaO, 3). Und das gilt ja auch in anderen ethnischen und sprachlichen Kontexten. Das hieße also: doppelte, konfessionelle und ethnische Diaspora als Kraft zur selbstbewussten Praktizierung konfessioneller Identität und zugleich als Kraft zur Bereicherung ethnischer und konfessioneller Vielfalt in unterschiedlichen nationalen Kontexten verstehen. Doch im Blick auf die Konfession stellt sich nun die Frage nach Diaspora und Ökumene.
2. Konfessionelle Diaspora und Ökumene
Hier darf ich wieder ein paar persönliche Bemerkungen einstreuen. Mit dem Dual Diaspora und Ökumene hatte ich meinem Leben zweimal in markanter Weise zu tun. Zum einen zwischen 1973 und 1976 bzw. 1980/81 als Dozent für Neues Testament an der Theologischen Hochschule der Ev. Kirche lutherischen Bekenntnisses in Brasilien in Sao Leopoldo, zum anderen zwischen 1988 und 2006 als Sekretär der Leuenberger Kirchengemeinschaft, die seit 2003 Gemeinschaft Evangelischer Kirchen in Europa (GEKE) heißt.
In Brasilien verhielt sich das mit dem Dual von Ökumene und Diaspora insofern aufschlussreich, als es dort sowohl um ein innerevangelisches wie um ein evangelisch-römisch-katholisches Miteinander ging. Unser Dozentenkollegium führte regelmäßige Gespräche (keine offiziellen Dialoge) sowohl mit den bekenntnisfundamentalistischen Missourilutheranern, der anderen lutherischen Minderheit in Brasilien, als auch mit den Dozenten des katholischen Priesterseminars Viamao. Von dort sind mir übrigens die imponierende Größe des Gebäudes und die Vielzahl der Kandidatenzimmer auf der einen und die Leere der Gänge, Säle und Zimmer auf der anderen Seite tief in der Erinnerung geblieben sind. Mit Theodor Fontane gesprochen: Man sah mehr die, die nicht da waren. Eines der großen Probleme der brasilianischen Katholiken und nicht nur dort ist ja bekanntlich der Priestermangel. Doch kein Grund zur Überhebung. Fontanes Satz galt den großen protestantischen Kirchgebäuden in Berlin.
Die Erfahrungen der Gespräche damals mit den Vertretern der großen katholischen und kleinen Missourikirche in Brasilien haben bei mir zu einer dreifachen ökumenischen Einsicht für die Diaspora geführt: 1. die hohe Wertschätzung der katholischen Kirche in Brasilien (das war allerdings die vor dem roll-back der Besetzung der Bischofsstühle unter Johannes Paul II. und Kardinal Ratzinger). 2. die Erkenntnis der fundamentalen Bedeutung evangelischer Theologie (die Katholiken hatten Interesse und Respekt gegenüber ihrer Freiheit und biblischen Intensität, in der zugleich auch ein Verständigungspotential mit den missourilutherischen Theologen steckte). 3. die Linie bzw. die Politik ökumenischer Verständigung bestimmten letzten Endes immer die hardliner – auf Seiten der Gesprächspartner. Die Hardliner waren nach meiner Erkenntnis bestimmt von dem, was man die Angst vor dem evangelischen Bazillus nennen könnten, besser ausgedrückt: die Angst vor dem Heiligen Geist.
Dazu eine kleine Episode aus dem akademischen Leben des alten Karl Barth, der bekanntlich sehr bewegt war von der Arbeit des 2. Vatikanischen Konzils. Im Februar 1967 hatte Barth Josef Ratzinger, Professor in Tübingen und einer der Konzilsperiti, in sein Seminar eingeladen. Nach dessen Vortrag griff Barth nur einmal in die Aussprache ein, aber, so berichtet sein letzter Assistent Eberhard Busch, da recht vehement. Ratzinger habe „jetzt so Wunderbares von der Kirche erzählt – nun, das ein wenig unter Zurückstellung des papalistischen Denkens, aber trotzdem von der Kirche. ‚Warum ist bis jetzt noch nicht explizit, nicht entscheidend die Rede vom Heiligen Geist gewesen? Und warum spielt die Tradition, auch wenn sie jetzt neu verstanden ist, immer noch eine so tragende Rolle für die katholische Kirche? Kommt das etwa aus einer Angst vor dem Heiligen Geist? Lieber Herr Ratzinger, ich frage nur, aber ich frage Sie: Ist nicht im Grunde Ihre ganze Kirche aufgebaut auf der Angst und Flucht vor dem Heiligen Geist?’ Dieser fast leidenschaftlich vorgetragene Einwand brachte den katholischen Gelehrten nun doch etwas ins Zögern und er war immerhin groß und getroffen genug, in jetzt nicht einfach zu widerlegen.“.
Was Barth damals fragend auf den Punkt brachte, ist die Erfahrung, die viele von uns mit Christen anderer Konfession in der Diaspora, aber auch sonst in der Kirche – Gott sei Dank in positiver Form – auf der Gemeindeebene machen können. Die Gemeinden der beiden Konfessionen (mit der Orthodoxie hapert es noch beträchtlich) sind sich geistlich und ökumenisch sehr nahe gekommen. Aber die Katholiken möchten nicht evangelisch und die Protestanten nicht katholisch werden. Zugleich wissen beide, was sie aneinander haben und möchten miteinander geistlich kommunizieren und auch beim Abendmahl wenigstens Gastfreundschaft anbieten. Und die Gemeinden könnten es wegen der Glaubenseinigkeit auch. Ist das nicht ein Wirken des Heiligen Geistes?
Angst vor dem Heiligen Geist, das gilt vielerorts nicht nur von der größeren Ökumene, sondern auch von der innerprotestantischen. Aber der Heilige Geist ist kein Blitzkrieger, er braucht wie Europa Zeit, um Ängste zu zerstreuen und seine Wirkungen und Gaben überall und bei allen zu verteilen. Der stärkere ökumenische Partner mag zwar meinen: „Überlass es der Zeit. Mit der Zeit löst sich die Diaspora gänzlich auf.“ Rom denkt bekanntlich in Jahrtausenden. Die evangelischen Diasporakirchen sind in dieser Zeit des Heiligen Geistes und der Geduld Gottes wie die evangelische Kirchen überhaupt dazu bestimmt, lebendige Zeugen der ursprünglichen Christenheit zu sein, die gerade in der Glaubeneinigkeit plural in ihren Strukturen sein konnte.
Zu solchem ökumenischen Selbstverständnis gibt die evangelische Theologie seit Martin Luther und Johannes Calvin immer wieder unverzichtbare Hilfestellungen. Nur ein Beispiel aus Diaspora: Die seit 2004 im Gang befindliche Wiederbelebung der fast erstorbenen Theologischen Fakultät „Matthias Flacius Illyricus“ in Zagreb durch das Wirken von Frau Dr. Lidija Matosevic. Diese Fakultät ist wie ein reformatorischer Leuchtturm inmitten einer heillos zerstrittenen evangelischer Diaspora Kroatiens, vielleicht so etwas wie der Beginn der Wiedergeburt evangelischer Kirchen durch die Theologie. Doch nun noch das dritte Dual.
3. Konfessionelle Diaspora und Mission.
Ich weiß, das ist ein weites Feld, zumal evangelische Diasporakirchen und Auslandsgemeinden längst nicht mehr nur unter Katholiken und Orthodoxen, also der innerchristlichen Diaspora, leben. Andere Kulturen, in Europa vor allem das, was Paul Zulehner gelegentlich die „atheisierende Kultur“ genannt hat, und andere Religionen treten hinzu und weiten sich aus. In den meisten muslimischen Ländern kommt deshalb allenfalls indirekte Mission in Frage, d.h. Mission durch faktische Präsenz, vielleicht auch – durch Präsenz von Diakonie. Aber grundsätzlich gilt auch vom biblischen Begriff der Diaspora, was E. Jüngel auf der Missionssynode der EKD im Jahr 1999 so formuliert hat: „Wenn die Kirche ein Herz hätte, ein Herz, das noch schlägt, dann würden Evangelisation und Mission den Rhythmus des Herzens in hohem Maße bestimmen. Und Defizite bei der missionarischen Tätigkeit der christlichen Kirche, Mängel bei ihrem Evangelisieren würden sofort zu schweren Herzrhythmusstörungen führen… Wer an einem gesunden Kreislauf des kirchlichen Lebens interessiert ist, muß deshalb auch an Mission und Evangelisation interessiert sein.“
Für eine Theologie der Mission verweise ich auf diesen Beitrag und beziehe mich meinerseits jetzt auf Beobachtungen zur Wirklichkeit unserer evangelischen Gemeinden, die ich einer schon länger zurückliegenden, aber aktuell gebliebenen Kolumne einer Kirchenzeitung mit dem Titel „Muffel mit missionarischem Auftrag“ entnommen habe. Die Kolumnistin gab „echte Gemeindeerfahrungen“ von vier jungen Familien zum Besten, die sie „beim Elternplausch im (städtischen) Kindergarten“ zu hören bekommen hatte.
1. Schwimmen wollten sie am Ostermorgen gehen, ob wir Lust hätten, mitzukommen?
„Nein, da gehen wir in die Kirche“, erläutert die Autorin. „Ach“, sagt der junge Mann, „das würden wir ja auch machen. Aber nach den schlechten Erfahrungen zu Weihnachten wage ich es nicht noch einmal. Die guckten alle so pikiert, als ich mit den Kindern da ankam. Der Familiengottesdienst ist schon vorbei, haben sie gesagt, und als ich den Kindern die Krippe zeigen wollte, die viel zu hoch stand, kam auch gleich jemand und hat gemeckert.“ Verpasste Chance Nr. 1.
2. „Meine Kinder sind immer noch nicht getauft“, erzählt eine Frau. „Wir wissen einfach nicht, wo wir hingehen sollen. Hier unsere Kirche kommt nicht in Frage, die Frau vom Gemeindevorstand wohnt bei uns im Haus. Und sie ist so etwas von gemein zu den Kindern, mit der haben wir nur Ärger.“ 2. verpasste Chance.
3. „Also die von der Kirche, die sind doch unmöglich“, ärgert sich ein anderer. „Als der Thomas noch ganz klein war, kaum laufen konnte, da ist er einmal auf den Gemeindespielplatz gegangen, die Tür stand offen - sofort flog ein Fenster auf und ein Donnerwetter sauste auf mich nieder: Holen sie wohl das Kind da weg! Das ist hier privat, das sehen sie doch! Die hat getobt, als hätten wir sonst was verbrochen.“ 3. verpasste Chance.
4. „Ich bin einmal auf so ein Gemeindefest gegangen, die hatten ja überall dazu eingeladen. Aber da waren nur so ein paar gackernde Grüppchen von Frauen und Jugendlichen total mit sich selbst beschäftigt. Ich bin herumgeirrt, dann ist mir nichts anderes eingefallen, als ein Würstchen zu essen. Da mußte ich aber mindestens 5 Minuten warten bis die Tante mich überhaupt ansah und dann fragte sie ganz beleidigt, sie wünschen? Da bin ich gegangen.“ Verpasste 4. Chance.
Sicher, das sind deutsche, Berliner Erfahrungen. Aber in ihnen spiegelt sich viel vom Schaden Israels auch in den Diasporagemeinden. Wie geht etwa eine deutschsprachige Diasporagemeinde mit suchenden oder auch nur zufällig hereinschneienden Einheimischen um? Welche Rückwirkungen auf das Ganze der Gemeinde hat das Verhalten eines Presbyteriumsmitglieds? Von den Versuchungen der Macht, der Sexualität und des Geldes will ich gar nicht reden. Aber die Missionserfolge der auf strenge asketische Selbstdisziplin verpflichtenden pfingstlerischen Protestantismen müssen zumindest eine Frage an uns sein.
Werner Krusche sprach in seinem bekannten Synodalvortrag 1973 von den Gefahren des Vorherrschens der „Selbsterhaltung“ der Gemeinden und ihrer „Selbstabschließung“ in der Diaspora . Demgegenüber entwickelte er das Konzept einer lernbereiten, nach innen konsensfähigen und nach außen offensiven Diaspora. Nimmt man Krusches Überlegungen zum „Missionarischen als Strukturprinzip“ der christlichen Gemeinde hinzu, so ist der Gegensatz zur real-existierenden Kirche in den eben zitierten Beispielen noch deutlicher. Krusche sprach vor 40 Jahren in der DDR von der „Aufnahmefähigkeit“, der „Ausstrahlungskräftigkeit“ und der „Aussendungstüchtigkeit“ einer sich missionarisch verstehenden Gemeinde. Diese Kennzeichen haben nichts an Aktualität verloren.
In der Dokumentation des ÖRK mit dem Titel „Hear What The Spirit Says To The Churches“ aus dem Jahr 1993 werden 6 Grundzüge einer missionarisch aktiven Gemeinde namhaft gemacht: 1. Wahrnehmung der Situation; 2. Gründe schaffen zur Kommunikation; 3. Ein Fest für die Stadt bzw. den Stadtteil; 4. Den Glauben aussprechen und im Übrigen wachsen lassen; 5. Dem einzelnen nachgehen und 6. In die Entscheidung rufen.
Wo eine Gemeinde sich solche missionarische Konzepte zu Eigen macht oder sie in Auswahl nutzt, um ihr eigenes Profil zu schärfen und ihre Aufbauplanung zu orientieren, wird sie natürlich Erfahrungen wie die oben geschilderten nicht ausschließen können. Die Evangelische Kirche Lutherischen Bekenntnisses in Brasilien hat ihre hochgesteckten Gemeindewachstumsziele (5 Prozent pro Jahr) auf der Synode in Cuiabá im Jahr 2000 „Keine Gemeinde ohne Mission, keine Mission ohne Gemeinde“ (Nenhuma comunidade sem missao, nemhuma missao sem comunidade) nicht durchgängig erreicht. Aber sie hat in dieser Zeit auch viele neue und beflügelnde Erfahrungen gemacht. Darauf kommt es an. Die Hälfte hat, wer angefangen hat.
Wie wichtig dabei die ganze Gemeinde als Subjekt, hingegen nicht Völker, nicht Massen, sondern einzelne Personen als Adressaten von Mission und Evangelisation sind, zeigen nicht nur die obigen Beispiele aus Berlin. Wenn Gott den Einzelnen anspricht, wird ihm die Kirche darin folgen müssen. In einer Thesenreihe über den Atheismus als Massenerscheinung mit dem Titel „Die Kirche und die Gottvergessenheit“ hat der Berliner Systematische Theologe Wolf Krötke, der in der Zeit der DDR dort gelehrt hat, pointiert formuliert: „Die Menschen sind der Kirche zwar massenhaft verloren gegangen, sie werden aber nur alle einzeln neu zu gewinnen sein.“ Krötke fügt hinzu: „Das wird nicht geschehen, wenn man auf sie wartet, sondern wenn man zu ihnen geht“ . Und das „man“ steht hier für Gemeinde. Dabei können alle Einzelnen in der Gemeinde Bedeutung gewinnen, Pastoren wie sog. Laien, ja gelegentlich engagiert der Heilige Geist als der eigentliche Agent der Mission, sogar Nichtchristen für seine Missionsarbeit. Schließlich bewegen Christen sich auf einem Feld, der theologisch nicht mit dem Dual Kirche-Nichtkirche, sondern mit dem Begriff des Kirche und Welt umspannenden und zusammenschließenden Reich Gottes bewegen. Wer Christus verkündet, bringt ihn dem von ihm schon geliebten Menschen.
Lassen Sie mich das heilige Zusammenspiel unterschiedlicher Faktoren in der Mission abschließend anhand der Bekehrungsgeschichte eines Pfarrers der Ev. Kirche der Böhmischen Brüder in Tschechien verdeutlichen, die er mir kürzlich in Leipzig, wo er sich zur theologischen Fortbildung aufhielt, erzählt hat. Pfr. Marek Rysanek berichtete davon, wie seine atheistischen kommunistischen Eltern, die in Opposition zum real-existierenden Sozialismus standen, ihn zur Kritik erzogen, das existenziell gewinnende Vorbild eines katholischen Priesters ihn auf die Andersartigkeit der christlichen Existenz aufmerken ließ und schließlich die liebenswürdige Hartnäckigkeit einer evangelischen Studentin ihn zur Entscheidung für den Glauben und die Kirche führten. Die dadurch entstehende Gemeinschaft ist auch schon ein Element zur Bewältigung der Existenz in der Diaspora, der der dritte und letzte Tei meiner Überlegungen gilt.
III. Hilfen zur Bewältigung der Existenz in der Diaspora
Zum Schluss kehre ich zum Anfang zurück, vor allem zu der Frage, ob die theologische Besinnung über die evangelische Diaspora, ihre Eigenart und ihren Auftrag, ihre Gefahren und ihre Chancen nun die Freude an der Existenz in ihr verdorben oder beflügelt hat. Über die Bekehrungsgeschichte eben kann man doch wenigstens lächeln und also sich freuen. Vor allem aber dürfte klar geworden sein: Wer nicht stolz und selbstbewusst evangelisch ist, wird auch an der Diasporaexistenz auf die Dauer keine Freude haben. Das ist so wie mit dem Hochgefühl der Juden in der hellenistischen Diaspora.
Freude empfinden wir, wenn uns das Leben an einen Punkt gebracht hat, wo es uns vorerst keine Mühe mehr macht, sondern uns anlacht, freundlich, nicht höhnisch. Natürlich ist Freude kein Dauerzustand, aber wir können auf solche hellen Punkte achten, nach ihnen Ausschau halten, sie nicht vorübergehen lassen. Ein solcher lichter Punkt ist dort, wo das Evangelium recht verkündet wird. Dass es sich bei dem, was das Wort Gottes bringt, nicht um eine fade oder gar lächerliche Freude handelt, dafür hat die Geschichte, von der das Evangelium erzählt, die Geschichte Jesu Christi selber gesorgt. In ihm sind der Schmerz und der Ernst des Negativen von Gott aufgenommen, verarbeitet und entschärft und gerade so zur Freude hin geöffnet.
Also mit einer realistischen theologischen Diasporabetrachtung ist bei aller nötigen kritischen Nachfrage nicht das Ende der Freude eingeläutet. Die Freude an Gott ist vielmehr auf einen guten evangelischen Grund gestellt. Zur Freude an Gott gehört auch die Freude an der Kirche. In der Diaspora freut man sich besonders an der unmittelbaren und der größeren kirchlichen Gemeinschaft. Das hat Tradition.
Gegenüber der Zerstreuung, der Vereinzelung, der Zusammenhangslosigkeit der wie auf kleinen Inseln im Ozean der heidnischen Umwelt lebenden Gemeinden lautete die Anleitung zur Freude schon im Neuen Testament „Brücken bauen“ und auf gebauten Brücken gehen . Damit sind nicht so sehr die Brücken zur unmittelbaren Umgebung wie in den 10 missionarischen Grundsätzen von Christfried Böttrich., gemeint. Es geht vielmehr um die Brücken in die Diaspora, die durch Besuche, durch Briefe und durch materielle Unterstützungen entstanden sind. Die Briefe des Paulus und der anderen Autoren des NT sind ebenso solche Brückenbauten wie die Kollekte in den von Paulus gegründeten Gemeinden für die Jerusalemer Gemeinde.
Gestatten sie mir dazu noch eine Zwischenbemerkung mit Bezug auf das Calvinjahr 2009. Calvins Hilfe für die Diaspora verdiente einer besonderen Aufmerksamkeit. Er stand bekanntlich zerstreuten protestantischen Gemeinden in Frankreich mit unzähligen Trost-, Lehr- und Mahnbriefen bei. Aber nicht nur das, sondern er half der Diaspora auch, indem er seine Werke Königen und Fürsten widmete, unter denen Protestanten lebten. So war z.B. der „Unterricht in der christlichen Religion“ König Franz I. vom Frankreich gewidmet. Was wäre wohl, wenn einer von unseren großen Theologen seine Dogmatik oder Ethik einem der katholischen Präsidenten in Südamerika widmete, Hugo Chavez oder Lula da Silva, oder dem orthodoxen Präsidenten von Russland Medwedew? Selbst der große Barth ist auf diesen Gedanken nicht gekommen. Außer dass er Adolf Hitler ein Exemplar von „Theologische Existenz heute“ zuschickte.
Gleichgewichtig, wenn nicht noch wichtiger sind neben den genannten Hilfen von außen die inneren geistlichen und weltlichen Hilfen zum Bestehen der Existenz in der Diaspora. Dabei wäre vom Zusammenhalt der eigenen Kultur und Sprache, von den Formen der Geselligkeit und des Miteinanders in der Diaspora zu reden. Aber vor allem von der Bedeutung der Frömmigkeit und der Gottesdienstkultur. Von Luther stammt der Satz „Wenn das Wort Gottes blüht, blüht alles in der Kirche.“ Also auch die Freude. Ich weiß dabei wohl, dass Ausflüge, Geselligkeiten und offene Nachmittage mancherorts besser besucht sind als der Gottesdienst. Doch das enthebt uns nicht der Aufgabe, diesen Bereich so stark wie nur irgend möglich zu machen. Und das bedeutet Arbeit an dem Wort, das Freude macht, weil es, nach einer schönen Formulierung von A. Goes, das „große Erstaunen“ einübt, das „Erstaunen darüber, daß er (sc. der Mensch) im Gedächtnis Gottes lebt, daß er angenommen ist, bewacht, in wunderlichen Schrecknissen bewahrt“, „danken“ und „loben“ darf.
Eine dritte und letzte Überlegung zur Bewältigung der Diasporaexistenz betrifft die Unterscheidung von Inkulturation und Assimilation. Hier muss ich noch einmal an die deutschstämmige Evangelische Kirche Lutherischen Bekenntnisses in Brasilien erinnern. Sie ist zunächst über ein Jahrhundert lang eine Kirche in der ethnischen und religiösen Isolation gewesen, hat aber seit den 70ger Jahren des vorigen Jahrhunderts etwa mit dem Manifest von Curitiba (1972) und später mit „inkulturierten“ Gesangbüchern und Liturgien oder mit dem gesellschaftspolitischen Engagement ihrer Präsidenten G. Brakemeier und W. Altmann die nötigen Schritte zur politischen und kulturellen Integration getan, ohne die lutherische Identität aufzugeben. Das hat dazu geführt, dass sie jetzt in der brasilianischen Öffentlichkeit als eine ernst zu nehmende Stimme gehört wird. Sie ist ein lebendiges Beispiel für das, was Werner Krusche in seinem berühmten Vortrag über „Die Gemeinde Jesu Christi auf dem Weg in die Diaspora“ von 1973 die Lernbereitschaft zur Mitarbeit in der Gesellschaft gegen die Tendenz der Abkapselung oder Anpassung genannt hat . Nicht allen Kirchen in der Diaspora gelingt das so vorbildlich. Und die EKLBB hat bekanntlich in anderen Krisen wie den Auseinandersetzungen mit charismatischer und pfingstlerischer Frömmigkeit auch Abspaltungen hinnehmen müssen. Andere Kirchen wurden sich über der Frage ihres gesellschaftlichen Engagements zerrissen. Aber der Versuch der Inkulturation lohnt sich als Teil der Strategie des Bestehens in der Diaspora. Und ich freue mich mit der EKLBB. Übrigens tut das, so habe ich gehört, Präsident Lula da Silva auch. Na bitte.