Es gilt das gesprochene Wort.
Da es an diesem Tage um die Würdigung von vier Jahrzehnten AGDF geht, will ich mit einer historischen Betrachtung beginnen und für ein paar Augenblicke das Geschichtsbuch aufschlagen.
Heute vor einhundert Jahren, also im Jahr 1908, lebte Deutschland nach einer Zeit des Wirtschaftsaufschwungs in Prosperität und gesellschaftlichen Blüte. Nur wenige ahnten, dass dieser Zustand brüchig werden könnte; den meisten galt der seit 1871 herrschende Friede als selbstverständlich. Nur wenige Jahre zuvor hatte Bertha von Suttner den Friedensnobelpreis für ihr Buch „Die Waffen nieder!“ erhalten. Eine internationale Friedensbewegung schien im Wachsen zu sein.
Wir alle wissen, es kam ganz anders ─ es kaum auf schreckliche Weise anders. Zehn Jahre später, im Jahr 1918, lag die Welt im Abgrund der Verwüstungen des Ersten Weltkriegs. Ein solches Grauen hatte die Welt noch nie zuvor erlebt.
Wieder zehn Jahre später: 1928 befand sich die Weimarer Republik in der ruhigsten und sichersten Phase ihrer Existenz. Die Rede von den „Golden Twenties“ bezieht sich auf diese Zeit. Es gab einen deutschen Friedensnobelpreisträger, den damaligen Außenminister Gustav Stresemann, der 1926 diesen Preis zusammen mit dem französischen Außenminister Aristide Briand erhalten hatte. Die Zeichen schienen auf Frieden zu stehen, bis dann die Weltwirtschaftskrise ihren Anfang nahm und Deutschland kurz nach Stresemanns Tod in den Abgrund stürzte.
1938 dann, das Jahr der Pogromacht: Deutschland wurde von den Nationalsozialisten regiert und war zu Hitler-Deutschland geworden, die Welt stand erneut am Rande eines Krieges. Nur ein Jahr später begann der Zweite Weltkrieg. Dass die Schrecken und Gräuel des Ersten Weltkrieges noch übertroffen werden könnten, hatte sicher niemand für möglich gehalten. Und doch geschah es. 60 Millionen Tote weltweit waren die Opfer, die dieser Krieg forderte. Stalingrad, Auschwitz und Hiroshima wurden zu symbolischen Namen für das Grauen dieser Zeit.
1948: Deutschland lebte inzwischen in zwei voneinander durch einen Eisernen Vorhang getrennten Welten. Wiederaufbau und Währungsreform auf der einen Seite. Planwirtschaft und Unterdrückung der Freiheit auf der anderen Seite. Aus den Trümmern heraus sollte Neues gestaltet werden. Ein neuer Anlauf zum Frieden geriet unter den Schatten des Kalten Krieges. Die christlichen Kirchen suchten nach ihrem gemeinsamen Auftrag. Der Ökumenische Rat der Kirchen verkündete 1948 in Amsterdam: „Krieg soll nach Gottes Willen nicht sein.“
Noch einmal zehn Jahre später: 1958 wurde auf der EKD-Synode in Berlin-Spandau die Aktion Sühnezeichen Friedensdienste ausgerufen. Ihr Beitrag zum Frieden und zur Versöhnung wurde gerade in diesem Frühjahr vor allem hier in Berlin in einer beeindruckenden Reihe von Veranstaltungen gewürdigt. Mit Aktion Sühnezeichen Friedensdienste konkretisierte sich der Friedenswille im Raum der EKD institutionell in der Form einer eigenständigen Organisation.
Ein letzter Zeitsprung, noch einmal zehn Jahre danach: Wir befinden uns im Jahr 1968. Eine bewegte Zeit war das, das Jahr der großen Studentenunruhen und des Prager Frühlings, das Jahr der Attentate auf Martin Luther King und Robert Kennedy, die tödlich endeten, und das Jahr des Attentats auf Rudi Dutschke, das blutig, aber noch nicht sogleich tödlich ausging, das Jahr des Beginns der Baader-Meinhof-Gruppe, der späteren RAF. Wieder ein Jahr der Gefährdung des Friedens, ein Jahr, das zum Frieden und zur Gewaltfreiheit mahnte.
In diesem Jahr 1968 wurde die Aktionsgemeinschaft Dienst für den Frieden (AGDF) gegründet. Sie war und ist ein Dach- und Fachverband für zivile Friedensdienste, von denen manche klar protestantisch, andere ökumenisch und wieder andere eher menschenrechtlich-säkular geprägt sind. „Aktionen“ für den Frieden, das ist ein wichtiger gemeinsamer Nenner. Das schließt die Reflexion über die Verantwortung für den Frieden ein. Deshalb gehört die Forschungsstätte der Evangelischen Studiengemeinschaft in Heidelberg zu den 35 Mitgliedsorganisationen der AGDF; das erwähne ich nicht nur deshalb, weil meine eigene berufliche Mitarbeit in der FEST – und damit auch meine Verbindung zur AGDF – damals, am 1. Oktober 1968, also auch ziemlich genau vor vierzig Jahren begonnen hat.
Zivile, gewaltfreie, in vielen Fällen christlich motivierte Aktionen für den Frieden, das ist die Praxis Ihrer Organisation seit nunmehr vier Jahrzehnten. Dahinter steht ohne Zweifel die Einsicht in die Wechselhaftigkeit der menschlichen Geschichte, die ich mit dem summarischen Gang durch das 20. Jahrhundert belegen wollte. Bei jedem dieser Zehnjahresschritte war der Frieden ein zentrales Thema. Er war es aber auch in jedem dieser Jahre auf andere Weise. Und immer, so zeigt sich, war der Friede bedroht und gefährdet, immer stand er in Frage. Das ist so, weil der Friede „der Ernstfall“ ist, wie der frühere Bundespräsident Gustav Heinemann einmal sagte. Heinemanns Zitat stammt übrigens aus dem Jahr 1964 und lautet im Zusammenhang: „Nicht der Krieg ist der Ernstfall, sondern der Friede ist der Ernstfall, in dem wir uns alle zu bewähren haben, weil es hinter dem Frieden keine Existenz mehr gibt.“
Der Friede ist der Ernstfall. Ihn zu wahren, zu fördern und zu erneuern ist eine Aufgabe, die sich allen Christen stellt. Wer aus dem Frieden Gottes lebt, tritt für einen gerechten Frieden ein. Diesen Paradigmenwechsel von der Vorstellung eines gerechten Kriegs zur Verpflichtung auf den gerechten Frieden hat die evangelische Friedensethik in den letzten Jahrzehnten vollzogen; die Friedensdenkschrift der EKD von 2007 stellt das eindrucksvoll unter Beweis. Dieser Einsatz für den Frieden ist nicht nur das Thema von Friedensbewegungen, die immer dann aufblühen, wenn der Frieden besonders gefährdet oder bestimmte politische Entscheidungen besonders umstritten sind. Nein, der Einsatz für den Frieden, und zwar dezidiert der mit dem Vorrang der Gewaltfreiheit verbundene Einsatz, muss auf Dauer gestellt werden, er muss Nachhaltigkeit entwickeln, er muss Organisation werden. Das steht hinter der Entstehung der Aktionsgemeinschaft Dienst für den Frieden. Das bedenken wir, wenn wir das vierzigjährige Jubiläum dieser Organisation feiern.
Darin wird ein unmittelbar christlicher Auftrag aufgenommen. Denn zu den Ursprungsimpulsen des christlichen Glaubens gehört das biblische Ethos des Friedensstiftens, das aus der Praxis Jesu selbst abgeleitet werden kann. In der neuen Friedensdenkschrift der EKD „Aus Gottes Frieden leben ─ für gerechten Frieden sorgen“ heißt es deshalb: „Mit der in der Bergpredigt Jesu überlieferten Seligpreisung der Friedensstifter, der pacifici (Mt 5,9), verbindet sich für alle Christen der Auftrag, nach Kräften den Frieden zu fördern und auszubreiten, gleichviel welche Rolle sie innehaben und an welchem Ort sie sich in Staat und Gesellschaft engagieren. Das christliche Ethos ist grundlegend von der Bereitschaft zum Gewaltverzicht (Mt 5,38ff) und vorrangig von der Option für die Gewaltfreiheit bestimmt“ (Ziffer 60).
Diesen biblischen Auftrag zum Friedenschaffen macht sich die AGDF mit ihren inzwischen 35 Mitgliedsorganisationen zu Eigen und setzt ihn in die Praxis um. Sie tut dies nicht in einem unmittelbar kirchlichen Auftrag, aber mit einem klaren Bezug zur verfassten Kirche. Das zeigt sich in einer partnerschaftlichen Beziehung, die sich nun schon seit vier Jahrzehnten bewährt. Dabei ist die rechtliche Unabhängigkeit der Friedensdienste positiv zu würdigen. In ihnen ist das Erbe der Friedenskirchen und des klassischen Pazifismus lebendig. In ihnen wirkt eine Basisorientierung, die viel Gutes bewirken kann. Die wechselseitige Unabhängigkeit ermöglicht beiden Seiten einen offenen und partnerschaftlichen Dialog. Beide Seiten können voneinander lernen und miteinander ihren Horizont erweitern. Es ist gut für die EKD, dass sie in der AGDF ein Gegenüber hat, das mit ihr ein gemeinsames Ziel teilt, im Hinblick auf die Frage des Weges zu diesem Ziel aber eigenständige Vorstellungen entwickelt.
Seit langem unterstützt die EKD die AGDF und ihre Mitgliedsorganisationen auch finanziell. Das soll auch in Zukunft so bleiben. In diesem Zusammenhang ist es zu würdigen, dass die AGDF zusammen mit der Evangelischen Arbeitsgemeinschaft für Kriegsdienstverweigerer (EAK) in den vergangenen Jahren an einem Runden Tisch wertvolle Überlegungen zur künftigen Struktur der Friedensarbeit im Raum der EKD angestellt hat. Der Rat der EKD hat sich diese Überlegungen im Grundsatz zu Eigen gemacht. Mit der Umsetzung wurde begonnen. Am 1. Oktober dieses Jahres wird der erste Friedensbeauftragte des Rates der EKD, der Schriftführer der Bremischen Evangelischen Kirche Renke Brahms, sein neues Amt antreten. Darüber freue ich mich und grüße Renke Brahms sehr herzlich auch in diesem Kreis. Im Januar 2009 wird erstmals die neu einzuberufende Friedenskonferenz tagen. Ebenfalls nimmt zu Beginn des kommenden Jahres die neue gemeinsame Arbeitsstelle von AGDF und EAK in Bonn ihren Dienst auf. Diese Stelle wird, da es eine Schnittmenge zwischen den Friedens- und den Freiwilligendiensten gibt, auch bestimmte Aufgaben für die evangelischen Freiwilligendienste übernehmen. Der Rat der EKD setzt große Hoffnungen auf diese neue Struktur, die im Kern auf Überlegungen des für die Bearbeitung dieser Fragestellungen eingesetzten Runden Tisches unter Leitung von Bischof Martin Schindehütte zurückgeht. Der AGDF ist ebenso wie der EAK für ihre konstruktive Mitarbeit an diesem Prozess sehr zu danken.
Der Friede ist, das zeigt die Arbeit der AGDF (wie auch die anders akzentuierte, aber von einem ähnlichen Geist getragene Arbeit der EAK) deutlich, mehr als eine Vision, ein Gedanke oder ein hehres Ziel des Handelns. Er ist vielmehr selber auch Praxis und Aktion: Friedensdienst. Und damit Praxis und Aktion auf einen dauerhaften und verlässlichen Boden gestellt wird, braucht es ─ jedenfalls unter anderem ─ die Aktionsgemeinschaft Dienst für den Frieden.
„Der Frieden braucht uns“, so haben Sie einmal eine Ihrer Informationsbroschüren überschrieben. Ich nehme diesen Titel auf, wohl wissend, dass Sie mit dem Pronomen „uns“ potenziell alle Bürgerinnen und Bürger meinen. Jeder kann etwas für den Frieden tun ─ und Sie als AGDF wollen etwas ganz Spezifisches zum Frieden beitragen. Deshalb braucht der Frieden „Sie“. Ich bin davon überzeugt, dass diese Sicht der Dinge zutrifft. Denn auch künftig wird gelten, was wir wieder und wieder erfahren haben: Der Frieden lässt sich nicht auf Waffengewalt bauen. Es gibt Situationen, in denen der Einsatz rechtserhaltender Gewalt unvermeidlich ist. Aber zahlreiche Beispiele bis in unsere Gegenwart hinein belegen: Wer den Frieden will, muss für gerechten Frieden arbeiten. Afghanistan oder der Irak sind nur zwei Beispiele, die das verdeutlichen. Die Friedensdenkschrift der EKD spricht in diesem Zusammenhang von einer „... deutlichen Skepsis hinsichtlich der Möglichkeiten (...), mit militärischen Mitteln Frieden zu schaffen“ (Ziffer 117). Ich füge hinzu: Wer für einen gerechten und nachhaltigen Frieden sorgen will, braucht vor allem zivile Ressourcen. Er braucht zivile Friedensdienste.
Besonders auch solche, die aus christlichem Geist heraus tätig werden. Noch einmal zitiere ich die Friedensdenkschrift: „Zivile Konfliktbearbeitung kann, so viel ist sicher, nur dann gelingen, wenn sie nicht in erster Linie als Reparaturaufgabe verstanden wird, sondern als vorrangiges politisches Handlungsprinzip und als Querschnittsaufgabe. Der Aktionsplan der Bundesregierung zur Krisenprävention formuliert diesen Anspruch; zu seiner Umsetzung bedarf es aber geeigneter neuer Kapazitäten“ (Ziffer 183).
Also: „Der Frieden braucht uns“. Ja, der Friede braucht Sie. Aber auch unsere Gesellschaft braucht Sie, als Motor und Movens der organisierten Friedensbewegung. Und nicht zuletzt braucht unsere Kirche Sie. Wir brauchen Sie als hilfreiche Partner auf dem langen Weg zum gerechten Frieden.
Vierzig Jahre AGDF, eingebettet in vierzig Jahre deutsche Geschichte seit 1968. 1968 war in unserer Geschichte ein besonders vieldeutiges und vielschichtiges Datum. In meiner persönlichen Lebensgeschichte verbindet sich dieses Datum mit dem Engagement für Friedensforschung und Friedensdienst. Deshalb stelle ich mit besonderer Freude fest: Das Jahr 1968 war, wie die Gründung der AGDF zeigt, auch ein Kairos, ein günstiger Zeitpunkt für ein Friedensprojekt auf christlicher Grundlage: den zivilen Friedensdienst, für den die AGDF steht.
Daran knüpfen wir mit den neuen Strukturen der Friedensarbeit an, die jetzt in Kraft treten und in den kommenden Jahren ausgestaltet werden können. Die AGDF wird dabei eine wichtige Rolle spielen. Mit meinem herzlichen Dank für Ihren großen Einsatz in den vergangenen vier Jahrzehnten verbinde ich herzliche Segenswünsche für die Zukunft.
Der Frieden braucht Sie!