Glauben entdecken
Konfirmandenarbeit und Konfirmation im Wandel
1. Entwicklung von Konfirmation und Konfirmandenarbeit in unterschiedlichen Kontexten
Im folgenden sollen geschichtliche, gesellschaftliche und kirchliche Kontexte, die für die Entwicklung von Konfirmation und Konfirmandenarbeit von Bedeutung sind, skizziert werden, um zu einer differenzierten Einschätzung der gegenwärtigen Situation und der daraus zu ziehenden Konsequenzen zu gelangen.
Unmittelbar nach 1945 waren Konfirmation und Konfirmandenunterricht im gesamten Deutschland noch gleichermaßen kirchlich und gesellschaftlich akzeptiert. Dies dürfte in besonderem Maße für das Gebiet der späteren DDR gegolten haben, das durch den Protestantismus allein zahlenmäßig viel stärker geprägt war als konfessionell anders gemischte Gebiete der späteren Bundesrepublik, wo sich der Protestantismus gegenüber der katholischen Kirche nur in bestimmten Regionen in der Majorität befand. Schon bald jedoch entwickelte sich die Lage in Ost- und Westdeutschland unterschiedlich (1.1 und 1.2).
1.1 Entwicklung in der ehemaligen DDR
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Der SED-Staat der DDR wollte die Kirchen marginalisieren und wirkte entsprechend repressiv auf sie ein. Seine Ziele versuchte er vorrangig dadurch zu erreichen, daß er die Jugend über die Schule und die staatlichen Jugendorganisationen beeinflußte. Um die Akzeptanz der Konfirmation zu demontieren, brach der Staat 1954/55 mit seiner vorangegangenen Politik der Ablehnung der Jugendweihe , machte im Gegenteil diese freidenkerische Tradition seinen Zielen dienstbar und setzte sie als Staatsritual machtpolitisch durch. Während der Staat bemüht war, das Jugendweihegelöbnis als ein Bekenntnis zum DDR-Staat zu interpretieren, das auch von Christen verlangt werden könne, lehnten die Kirchen das atheistische Bekenntnis, das der Jugendweihe innewohnt, ab und stellten die Unvereinbarkeit beider Rituale heraus.
In dieser konfrontativ-konkurrierenden Situation hatten Jugendliche (bzw. deren Eltern) zwischen einem Bekenntnis zur Kirche und einem Gelöbnis, das die Staatszwecke betraf, zu entscheiden. Dadurch war einerseits die Teilnahme an Konfirmandenunterricht und Konfirmation - ebenso wie an vielen weiteren Veranstaltungen und Aktivitäten der Kirche - nicht beliebig, welche Konflikte und Dilemmata sich daraus im einzelnen auch ergaben. Andererseits wurde die gesellschaftlich dominante Jugendweihe nicht zum Gegenstand pädagogischen und theologischen Nachdenkens. In Gesellschaft und Kirche blieb weitgehend unerörtert, wozu und in welchem Sinn die polemisch aufeinander bezogenen konkurrierenden Rituale von Jugendlichen und ihren Familien tatsächlich gebraucht und benutzt wurden.
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Zusammen mit der Zerstörung des sozialen Milieus, das den Rückhalt des Protestantismus bildete, führte die »politisch betriebene Mobilisierung der Gesellschaft ... zu einem umfassenden Traditions- und Kulturabbruch, der die Kirchen in ihrem Mark traf« (D. Pollack). In der Folge kam es an nicht wenigen Orten in Ostdeutschland zu einem so starken Rückgang der Teilnehmerzahlen in der Konfirmandengruppe, daß es schwerfiel, noch von einem Konfirmandenunterricht zu sprechen. Der Unterrichtsbegriff ist seit jeher am schulischen (Religions-)Unterricht orientiert, obwohl der damit gemeinte Klassenunterricht historisch nicht die früheste Form von Unterricht gewesen ist. Wenn nun die Konfirmandinnen und Konfirmanden um einen Tisch auf dem Sofa und einigen Stühlen Platz hatten, ergaben sich wie von selbst ein anderer Stil und Ansatz des Lehrens und Lernens unter den Bedingungen einer Kleingruppe und einer intimeren persönlichen Atmosphäre.
Den Kirchenleitungen in der DDR wurde zunehmend bewußt, daß es nicht ausreichte, Konfirmation und Jugendweihe (unter Aufnahme einer Lebensordnung der Altpreußischen Union von 1930) für unvereinbar zu erklären und die bisherige Konfirmationspraxis - wie auch immer sie jeweils aussah - lediglich unter apologetischen Protesten fortzuführen. Wenn die Kirchen in den Schulen oder in anderen nichtkirchlichen Einrichtungen nicht mehr öffentlich wirken konnten, mußten sie sich auf ihre eigenen Möglichkeiten konzentrieren. Damit wurden die Kirchengemeinden bedeutungsvoller. Sie standen vor der Aufgabe, »mit den Lebensäußerungen aller ihrer Glieder den Raum zu schaffen und der Raum zu sein, in dem pädagogische Prozesse zustande kommen und fruchtbar werden können« (Leitlinien für das Pädagogische Handeln der Kirche von 1983). Angesichts der Kirchenfeindlichkeit in Staat und Gesellschaft und der Abwertung alles Religiösen reichte hier eine isolierte Unterrichtsveranstaltung nicht aus. Kinder und Jugendliche sollten in der Gemeinde entdecken und befragen können, wie sich der Glaube leben und in Gefährdungen bewähren läßt. Christenlehre und Konfirmandenunterricht fiel die Aufgabe zu, die Heranwachsenden auf Konflikte einzustellen und ihnen zu helfen, sie zu bestehen.
In diesem Zusammenhang wurde das Verständnis von Konfirmation zu einem Verständnis von »Konfirmieren« als einem übergreifenden und längeren Vorgang weiterentwickelt. Die belastenden Erfahrungen der Minorisierung in einer inzwischen mehrheitlich konfessionslosen Umwelt - erstmals im deutschen Protestantismus - nötigten zu einem Paradigmenwandel, der sich im Rahmenkonzept »Das konfirmierende Handeln der Gemeinde« (1973/1975) niederschlug (vgl. auch die von der Landessynode der Ev. Kirche von Westfalen 1972 den Gemeinden empfohlene Vorlage »Zum konfirmierenden Handeln der christlichen Gemeinde«). Die Intentionen, welche die evangelischen Landeskirchen der DDR aufgrund der situativen Herausforderungen gemeinsam benannten und in Empfehlungen, Leitsätzen und Rahmenlehrplänen konkretisierten, lassen sich mit vier Leitgedanken umschreiben:
- Flexible Prozessualisierung : Nicht die Konfirmation als punktueller Akt im konfrontativen Gegenüber zur Jugendweihe hat im Mittelpunkt des Interesses zu stehen, sondern der gegliederte Prozeß vielfältigen Lernens als Unterricht, Exkursion, Projekt, Rüstzeit, Gottesdienst, Feier - auch über den Konfirmationstag hinaus. In diesem Prozeß bleibt die Konfirmation eine wesentliche Station, die vorrangig als Segnung, Fürbitte und Einstimmung in die Bekenntnisüberlieferung der Gemeinde verstanden wird.
- Theologische Elementarisierung : Die zunehmende Minorisierung der christlichen Gemeinden, die öffentliche Infragestellung ihrer Sache und das schwindende religiöse Kulturwissen erforderten, daß im konfirmierenden Handeln exemplarisch aufgeschlossen wird, was »Sache« der Kirche in der Vielfalt christlicher Gemeinde vor Ort ist. Das umfaßte vorrangig auch ein zur Auseinandersetzung befähigendes kritisches Verstehen von biblischen Inhalten, Bekenntnissen, Symbolen und Gottesdienstformen und bezog sich ausdrücklich auf die Taufe und das - bereits im Prozeß gemeinsamen Lernens praktizierte - Abendmahl (vgl. 3.6 und 4.6).
- Zentrierung auf die Lebenswelt: Zugleich kamen bei dieser Zielsetzung auch die Jugendlichen neu in den Blick. Der Konfirmandenunterricht orientierte sich an ihrer Situation, an ihren Glaubens- und Lebensfragen, an ihren Interessen und Gefährdungen. Er wandelte sich von einer Unterrichtsveranstaltung zu einem ganzheitlichen Lernprozeß; die Jugendlichen sollten sich orientieren und Erfahrungen mit dem Glauben machen können. Besonders in der Lehrplanerarbeitung der 70er Jahre ist zu erkennen, wie »konfirmierendes Handeln« der Gefahr der gesellschaftlichen Isolierung und der »Verinnerkirchlichung« zu begegnen versuchte: Die konkreten gesellschaftlichen Gegebenheiten waren nicht lediglich als Voraussetzungen für das »Eigentliche« zu tolerieren oder als Anknüpfungspunkte aufzugreifen, sondern mußten in ihren konfrontativen Bezügen selbst zum Thema des Lernens werden. Dies ist bis heute gültig: Gesellschaftliches Umfeld, lebensgeschichtliche Aspekte und zentrale Inhalte des christlichen Glaubens sind aufeinander zu beziehen.
- Begleitung durch die Gemeinde, um das Leben zu bewältigen: »In der Begleitung der Gemeinde« sollten Kinder und Jugendliche »das Evangelium als befreiendes und damit orientierendes Angebot erfahren.« Sie sollten »erfahren, wie Christen in der sozialistischen Gesellschaft verantwortlich vor Gott leben können« (Gesamtziel des Rahmenplanes von 1977). Nicht allein durch die qualitative Verbesserung, sondern durch ein »umfassendes Bemühen der Gesamtgemeinde um den ganzen jungen Menschen in seiner heutigen Welt« sollte die Konfirmation als Prozeß für getaufte und ungetaufte junge Menschen einladend und überzeugend werden.
Diese neuen Sichtweisen bewährten sich. Durch die subjektbezogenen, gegliederten und methodisch vielfältig gestalteten Prozesse mit den entsprechenden Beteiligungsmöglichkeiten entwickelten Jugendliche Bindungen an Glauben und Kirche, die durch eine isolierte Konfirmation mit einem lediglich auf dieses Ereignis abzielenden Unterricht nicht zustande gekommen wären. Allerdings waren die kleiner gewordenen Gemeinden in hohem Maße herausgefordert und nicht selten überfordert, wenn sie die jungen Menschen in dieser intensiven Weise begleiten sollten.
1.2 Entwicklung in der alten Bundesrepublik
Die im vorigen Abschnitt geschilderte konfessorische Bedeutung der Teilnahme an Konfirmandenunterricht und Konfirmation in der DDR war im Westen nicht zu beobachten, sieht man von gelegentlichen, mehr oder weniger starken Ressentiments von Teilen der Bevölkerung gegenüber Kirche, ihren Angeboten und ihren Mitgliedern ab. Dennoch wäre es falsch, die Teilnahme an Konfirmandenunterricht und Konfirmation in der alten Bundesrepublik im Umkehrschluß als konfessorisch beliebig einzuschätzen. Sie blieb keineswegs folgen- oder bedeutungslos, wie die Biographien vieler Menschen in der Kirche zeigen.
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Der Staat der Bundesrepublik Deutschland ist weltanschaulich und religiös neutral und garantiert positive und negative Religionsfreiheit. Staatliche Instanzen nehmen auf Konfirmation und Konfirmandenunterricht keinen Einfluß, sieht man von den Auswirkungen des Nachmittagsunterrichts, der Ganztagsschule oder ähnlichem ab. Somit blieb es nach 1945 den Kirchen überlassen, Konfirmation und Konfirmandenunterricht näher zu bestimmen und zu gestalten, ohne daß damit gesellschaftliche Einflüsse ausgespart blieben. Deutungen und Motive von Kirche/Gemeinde, Jugendlichen und sozialem Umfeld treten in diesem Handlungsfeld in ein vielfältiges Beziehungsgeflecht.
In der Nachkriegszeit wirkten sich in den entsprechenden Teilen der kirchlichen Lebensordnungen und der Praxis von Konfirmandenunterricht und Konfirmation Leitgedanken des »Gesamtkatechumenats« und der »pädagogischen Ordnungskirche« aus, die aus der Abwehr des Nationalsozialismus herrührten. Sie sind bis heute spürbar. Realisiert wurden diese Intentionen überwiegend von Jugendlichen in der sogenannten Kerngemeinde und in der verbandlichen Jugendarbeit.
Die Lebenszusammenhänge der Jugendlichen auf der einen sowie kirchliche Vorstellungen und Praxis auf der anderen Seite ließen sich in den folgenden Jahren zunehmend schwieriger miteinander vermitteln. In den westdeutschen Landeskirchen war der Konfirmandenunterricht damit primär nicht von außen, sondern von innen her gefährdet. Eine kirchliche Sozialisation durch die Elternhäuser konnte immer weniger vorausgesetzt werden, und der Konfirmandenunterricht stand vor der Herausforderung, der Distanz vieler junger Menschen zu Glauben, Religion und Kirche Rechnung zu tragen. Er mußte deshalb darauf ausgerichtet werden, bei immer mehr Jugendlichen eine Erstbegegnung der Konfirmandinnen und Konfirmanden mit der Kirche beziehungsweise der Gemeinde zu erreichen; sie sollte erschließen, was Glaube und Christsein bedeuten (vgl. 4.4). So wurde weithin die Zielvorstellung leitend: »Lernen, was es heißt, als Christ in unserer Zeit zu leben« (W. Flemmig). Sie nahm diese Distanz ernst und begriff sie zugleich als unterrichtliche Aufgabe. Dies aber stellte den Konfirmandenunterricht in den Lebenszusammenhang und die Mitverantwortung der ganzen Gemeinde. In Analogie zur Jugendarbeit oder anderen Formen der Gemeindearbeit sprach man jetzt von einer Arbeit mit Jugendlichen, von »Konfirmandenarbeit«.
Vor diesem Hintergrund kam es Ende der 50er/Anfang der 60er Jahre zu neuen konzeptionellen Überlegungen. Sie betrafen zum Beispiel einen gestuften Zugang zur Kirche, ein engeres Verhältnis von Gemeinde und Konfirmandenunterricht und die Wahrnehmung sogenannter nicht-theologischer Faktoren im spannungsreichen Ineinander von Kirche und Welt. Bezogen auf die schul- und religionspädagogische Entwicklung wurden Ende der 60er Jahre Modelle aus der Praxis des Konfirmandenunterrichts zum entscheidenden Motor für seine theoretische und praktische Weiterentwicklung.
Schließlich wurden vor allem seit den 70er Jahren zunehmend effektive personelle, institutionelle und materielle Ressourcen bereitgestellt, die hoch einzuschätzen sind: Religionspädagogische Institute, Beauftragte in den Kirchenkreisen, Materialien und Medien, empirische Untersuchungen mit überraschend hohen Rücklaufquoten. Ebenso kam es zu einer verstärkten Mitarbeit von ehrenamtlichen Gemeindegliedern - meist im Zusammenhang mit sich verändernden Organisationsformen: Freizeit/Rüstzeit, Blockunterricht, Konfirmandentage und -praktika, Projekte, Hausgruppen, Ferienseminare und anderes mehr.
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Für die Entwicklung des Konfirmandenunterrichts in Westdeutschland war ferner lange Zeit charakteristisch, daß evangelisch getaufte Jugendliche in aller Regel selbstverständlich an Konfirmandenunterricht und Konfirmation teilnahmen und dies auch von den Eltern erwartet wurde. Der Konfirmation in Westdeutschland gelingt es im ganzen (noch immer), mehrere soziale Ebenen zumindest punktuell zu integrieren. An dieser Leistung der Kasualie Konfirmation, die kirchlicherseits erbracht wird, besteht anscheinend (ähnlich wie bei der Taufe und der kirchlichen Bestattung im Unterschied zur kirchlichen Trauung) nach wie vor Bedarf (vgl. 2.2). Dieser relativ stabile Grundtrend wird allerdings durch zwei Entwicklungen modifiziert:
- Vor allen Dingen in den letzten Jahren ist die Zahl der ungetauften Jugendlichen, die sich zum Konfirmandenunterricht anmelden oder an ihm teilnehmen, gestiegen.
- In den Großstädten und Ballungsräumen gehen die Konfirmandenzahlen eher als in anderen Regionen zurück. Dort leben viele Menschen, die verschiedenen Nationalitäten und Denominationen angehören. Kennzeichnend für die hier stattfindende Konfirmandenarbeit sind meist kleine Gruppen in einer zunehmend multikulturellen und multireligiösen Umgebung. Stadt-Land-Unterschiede sind im übrigen nicht mehr so prägnant wie in früheren Zeiten.
1.3 Entwicklung und Situation im vereinigten Deutschland
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Mit dem Ende der DDR sind auch deren Staatsritual Jugendweihe mit Gelöbnisverpflichtung und eine davon vielfach abhängige Chancenzuteilung für spätere Bildungs- und Berufslaufbahnen Jugendlicher gefallen. Über zwei Generationen hinweg wurde die Jugendweihe tradiert und verinnerlicht. Das geschah weitgehend über eine Privatisierung dieser Feier durch persönliche und familiäre Deutungen neben oder »unterhalb« (E. Neubert) der offiziellen Kategorien. Deshalb konnte sich die Jugendweihe als Jugendritus - besonders in Regionen, in denen die Konfirmation keine nennenswerte Akzeptanz mehr besaß - weiterhin behaupten. Allerdings gilt dies nur für einen Teil der Jugendlichen und der jeweiligen Erwachsenen: Der Anteil derer, die weder an der Konfirmation noch an der Jugendweihe teilnehmen, ist erheblich und entspricht bei beachtlichen regionalen Unterschieden annähernd dem der Jugendgeweihten (vgl. 2.2). Dieser Sachverhalt ist nur schwer zu interpretieren: Fehlt bei vielen Jugendlichen und Erwachsenen ein entsprechendes Ritualisierungsbedürfnis? Wenn nein, warum mißlingt es der Jugendweihe und ihren Anbietern, auf dieses Bedürfnis einzugehen? Werden privatere Formen der Ritualisierung bevorzugt? Verfehlen die das Leben ordnenden, von Institutionen angebotenen Riten wie Jugendweihe und Konfirmation die Lebenszusammenhänge von Jugendlichen?
Insgesamt läßt sich für das Verhältnis von Jugend, Religion und Kirche in der pluralen (west-)deutschen Gesellschaft feststellen, daß Kirchlichkeit und Religion immer weiter auseinandertreten und daß - ähnlich wie bei anderen Institutionen - Kirche und Lebenswelt immer weniger zur Deckung kommen. Religion, die kirchlich nicht eingebunden ist, tritt nur selten in markanter Form auf, sondern ist eher eingelassen in individuelle Lebenszusammenhänge, sei es in einer Transformationsgestalt volkskirchlichen Christentums, sei es als biographiegebundene Form persönlicher Sinnsuche, sei es in Form anderer Religionen (F. Schweitzer). Was Religion bedeutet, ergibt sich aus der eigenen Biographie. Den bestimmenden Horizont für die eigene Lebensorientierung bildet dann nicht das kirchliche Christentum, sondern der eigene Lebenszusammenhang entscheidet darüber, wie die Kirche gesehen und wie kirchliches Christentum angeeignet wird oder auch nicht (vgl. 4.3 und 4.4).
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Die geschilderten Entwicklungen machen deutlich, wie sich das gesellschaftliche Klima auf die Volkskirche auswirkt. Das zeigen auch die kirchlichen Statistiken und die Untersuchungen zur Kirchenmitgliedschaft . Der in der gegenwärtigen kirchengeschichtlichen Situation augenfälligste Sachverhalt ist, daß sich der Anteil der Konfessionslosen in der Gesamtbevölkerung in Westdeutschland im Laufe von 45 Jahren (1950 - 1995) um etwa das Dreifache von 4 auf reichlich 12 Prozent erhöht hat, in den neuen Bundesländern dagegen um das Zehnfache, von 7 auf fast 70 Prozent.
Die Wahrscheinlichkeit der Übertragung der Konfessionsbindung oder Konfessionslosigkeit der Eltern auf die eigenen Kinder stellt sich in dem religiös viel einschneidender veränderten, kirchenentfremdeten Gesamtmilieu in Ostdeutschland anders dar als bei dem noch insgesamt kirchenfreundlicheren Klima im Westen der Bundesrepublik. Im Osten liegt die »Übertragungswahrscheinlichkeit« bei konfessionslosen Eltern bei über 85 Prozent und die bei Konfessionsangehörigen nur zwischen 50 und 60 Prozent. Im Westen ist es umgekehrt: Hier ist viel wahrscheinlicher, daß christliche Eltern ihre konfessionelle Bindung an ihre Kinder weitergeben, und weniger wahrscheinlich, daß auch die Kinder der Konfessionslosen ihrerseits konfessionslos sind.
In den Statistiken der westdeutschen Landeskirchen stimmt - mit Ausnahme von städtischen Regionen beziehungsweise Großstädten - die Zahl der Konfirmierten eines Jahrgangs meist annähernd mit der Zahl der vierzehn Jahre zuvor Getauften überein. Damit ist nicht belegt, daß es sich durchgehend jeweils um dieselben Personen handelt. Ein gewisser Prozentsatz der Getauften wird später nicht konfirmiert, wobei dieses Defizit durch Migration oder Spät-Taufen (auch im Zusammenhang der Konfirmation) ausgeglichen wird. Insgesamt liegt der prozentuale Anteil der Konfirmierten an allen Jugendlichen eines Jahrgangs im Durchschnitt leicht niedriger als der Anteil der evangelischen Kirchenmitglieder an der westdeutschen Gesamtbevölkerung. Dabei spielen allerdings nicht zuletzt Verschiebungen in der Alterspyramide eine Rolle. Demgegenüber weicht die Situation in Ostdeutschland signifikant ab: Der Anteil der Konfirmierten an allen Jugendlichen eines Jahrgangs ist geringer als in Westdeutschland, er ist ebenfalls geringer als der Anteil der evangelischen Kirchenmitglieder an der ostdeutschen Gesamtbevölkerung.
Alle drei EKD-Umfragen zur Kirchenmitgliedschaft haben Anfang der 70er, 80er und 90er Jahre auch nach der Rolle des Konfirmandenunterrichts und der Konfirmation gefragt, gilt doch der kirchliche Unterricht als die wichtigste innerkirchliche Sozialisationsinstanz. Die letzte - bereits auf ganz Deutschland bezogene - Untersuchung zeigt:
- Pfarrerinnen und Pfarrer beklagen zwar das »Wegbleiben nach der Konfirmation«, das heißt, das Ziel »Integration in die Gemeinde/Gemeindeaufbau« wird nur bei wenigen erreicht. Allerdings haben in Westdeutschland 25 % der Kirchenmitglieder »manchmal«, 9 % »häufig« nach der Konfirmation kirchliche Angebote für Jugendliche wahrgenommen. In den ostdeutschen Landeskirchen liegt die Beteiligung prozentual gesehen deutlich höher. Da die Teilnahme am kirchlich-gemeindlichen Leben in Ostdeutschland konfliktträchtiger war und auf bewußterer Entscheidung beruhte, als dies im Westen der Fall war und ist, überrascht es nicht, daß kirchliche Jugendliche in Ostdeutschland auch nach 1989 engagierter sind, der Gesellschaft und ihren Institutionen kritischer gegenüberstehen sowie von ihrer Kirche Spiritualität und gesellschaftsbezogenes Engagement erwarten.
- Der Konfirmandenunterricht ist bei den Kirchenmitgliedern überwiegend in positiver Erinnerung; er wird auch im Vergleich zu früheren Befragungszeitpunkten positiver eingeschätzt: Der Pfarrer oder die Pfarrerin werden von 77 % (West) und 74 % (Ost), die Gruppenunternehmungen von 67 % (West) und 62 % (Ost) und die Lebensbedeutsamkeit des Gelernten von 61 % (West) und 67 % (Ost) positiv hervorgehoben. 60 % (West) und 69 % (Ost) haben nach ihrer Aussage gelernt, was es heißt, Christ zu sein.
Der letzte Spiegelstrich ist ein Indiz dafür, daß ein Potential für eine positive Entwicklung durchaus vorhanden ist. Dennoch können die vorhandenen Trends in der gegenwärtigen gesellschaftlichen Übergangssituation nur mit großer Vorsicht fortgeschrieben werden. Einerseits ist die Situation regional sehr unterschiedlich. Andererseits zeigen zum Beispiel allgemeine Jugendstudien, daß die Ansichten und Lebensorientierungen Jugendlicher in vielen Merkmalen nicht mehr nach Ost und West, Stadt und Land etc. zu trennen sind. Im Blick auf diese offene Entwicklung ist festzuhalten: »Konfirmandenarbeit ist der ›Ernstfall‹ kirchlicher Arbeit in der modernen Gesellschaft, da die Teilnehmenden gesellschaftliche Trends in breiter Form repräsentieren« (M. Meyer-Blanck). Das wirkt sich auch auf die Konzeption der Konfirmandenarbeit aus.
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Was die konzeptionelle Neugestaltung und die Lehrpläne des Konfirmandenunterrichts in Ost- und Westdeutschland angeht, wurden bei aller unterschiedlichen Entwicklung im einzelnen bereits vor 1989 zwei gemeinsame Motive leitend (vgl. 1.1. und 1.2): der Bezug auf den Lebens- und Lernort Gemeinde sowie der Bezug auf die Jugendlichen. Beide Motive flossen in die Neugestaltung der Konfirmandenarbeit ein. Was den Erfolg dieser in erster Linie pädagogischen Reform angeht, ist zwischen Konzeption und Praxis zu unterscheiden. Was »von oben her« vorgegeben wurde, hatte sich »von unten her« zu bewähren. Vielfach mußten und müssen die notwendigen pädagogischen Voraussetzungen bei Pfarrerinnen, Pfarrern und den anderen kirchlichen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern durch eine entsprechende Aus- und Fortbildung erst einmal geschaffen werden. Insgesamt jedoch sind von den Reformkonzeptionen wesentliche Impulse für die Praxis ausgegangen und von ihr als Anregung und Verbesserung aufgenommen worden. Dies wird etwa daran erkennbar, daß die Kinder- und Jugendarbeit der ostdeutschen Landeskirchen weitgehend einem reformpädagogischen Ansatz folgte, der sich deutlich von der offiziellen Pädagogik der DDR unterschied, während die Reformen in den westdeutschen Landeskirchen sicherstellen wollten, daß die Konfirmandenarbeit hier nicht hinter den pädagogischen Stand zurückfiel, der sich in der westdeutschen Bildungs- und Schulreform durchsetzte.
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Die Diskussion zur Konfirmandenarbeit ist nach wie vor - im Grunde schon seit dem 19. Jahrhundert - von der Frage nach dem Zeitpunkt der Konfirmation mitbestimmt. Die Überlegungen sind berechtigt, den epochalen Wandel im Jugendalter mit seinem früheren Beginn der Adoleszenz durch einen früheren Anfang auch der Konfirmandenarbeit zu berücksichtigen und vielleicht nach dem sogenannten Hoya-Modell eine erste Phase im Alter von 10 oder 11 Jahren und eine zweite im Alter von 14 oder 15 Jahren vorzusehen. Kritische Fragen und Zweifel gegenüber dem Glauben tauchen einerseits früher auf, gewinnen jedoch andererseits erst nach dem bislang üblichen Konfirmationstermin in der Spätadoleszenz ihr volles Gewicht. Man darf sich nicht der Illusion hingeben, mit dem Abschluß der Konfirmandenarbeit in der Konfirmation sei Glaubensgewißheit für das ganze weitere Leben erworben worden. Dies bedeutet, daß grundsätzlich der in der evangelischen Kirche eingebürgerte spätere Termin unter dem entscheidenden Gesichtspunkt der Hilfen für die einzelnen Jugendlichen günstiger ist. Ferner wird die Begleitung nach der Konfirmation immer wichtiger; damit wachsen die Herausforderungen der kirchlichen Jugendarbeit (vgl. 4.10). West- und ostdeutsche Erfahrungen können gemeinsam fruchtbar gemacht werden.
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Die letzten Bemerkungen zum Umfeld der Konfirmandenarbeit lenken den Blick auf das Verhältnis von Konfirmandenunterricht und Religionsunterricht . Viele Pfarrerinnen und Pfarrer und andere kirchliche Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen erteilen sowohl Konfirmandenunterricht als auch Religionsunterricht. Die Einführung des Religionsunterrichts in den neuen Bundesländern war ohne diese kirchlichen Kräfte überhaupt nicht denkbar. Die dortigen Auseinandersetzungen um seine Stellung im Gegenüber zur Christenlehre machten eine neue Verhältnisbestimmung des Religionsunterrichts zur gemeindepädagogischen Eigenverantwortung der Kirche erforderlich, die ebenso die Arbeit mit Konfirmandinnen und Konfirmanden einschließt. Sie ist in der Denkschrift der EKD zum Religionsunterricht »Identität und Verständigung« beschrieben (s. dort Kap. 3.2). Es geht vor allen Dingen darum, die Grenzen und Chancen der unterschiedlichen Lernorte zu begreifen und zu profilieren, sie wechselseitig aufeinander zu beziehen sowie gegenseitige Mißverständnisse abzubauen - im Interesse der Lebensperspektiven der nachwachsenden Generation. »Der Religionsunterricht ist angewiesen auf Orte gelebter Religion, praktizierten Glaubens und sichtbar gewordener christlicher Überlieferung. Die Arbeit mit Kindern, Jugendlichen und jungen Erwachsenen in den Kirchengemeinden braucht ihrerseits Beziehungen zum Lernort Schule, denn dort verbringen die jungen Menschen den größten Teil ihres Alltags; dort setzen sie sich mit zentralen Fragen des individuellen und des gesellschaftlichen Lebens einschließlich religiöser Inhalte auseinander.« (S. 48)
Für die Gegenwart stellt sich im Blick auf Konfirmandenarbeit und Konfirmation eine dreifache Aufgabe. Zum einen ist die Bedeutung der Konfirmation - gerade auch in den Zusammenhängen der Jugendweihe - neu zu bedenken (Kap. 2.). Zum anderen gilt es, den Gottesdienst so zu reformieren, daß die Konfirmandinnen und Konfirmanden an ihm aktiv teilnehmen (Kap. 3). Schließlich müssen die gewonnenen Ansätze zur Neugestaltung der Konfirmandenarbeit weiter ausgeformt werden, um den Herausforderungen des Konfirmandenunterrichts unter den kirchlichen Bedingungen in Ost- und Westdeutschland gerecht zu werden (Kap. 4.).