Rede zum Johannisempfang in der Französischen Friedrichstadtkirche zu Berlin
Über „Freiheit“ wurde und wird philosophiert, gelehrt und gestritten. Menschen sehnen sich nach Freiheit und träumen von Freiheit. Menschen kämpfen um ihre Freiheit und sterben für die Freiheit. Ich erinnere heute an die mutigen Menschen, die in den Strukturen der DDR kirchliche Räume genutzt haben, um ihre Träume von Freiheit zu teilen, sich zu organisieren und für politische Freiheit zu demonstrieren. Und ich erinnere besonders daran, dass in Folge der politischen Freiheit die verlorene Einheit der Evangelischen Kirche in Deutschland vor 20 Jahren wiederhergestellt werden konnte.
Reale menschliche Freiheit ist kein statischer Besitz – nicht für einzelne Menschen und auch nicht für Gesellschaften oder Institutionen. Freiheit ist immer gefährdet. Sie kann verloren gehen. Sie zu bewahren, ist eine beständige Aufgabe für uns alle.
Freiheit
ist ein grundlegendes Thema der Menschheitsgeschichte. Das zeigt sich in den gegenwärtigen politischen Auseinandersetzungen in Nordafrika, in China und anderswo. Wir alle verfolgen das in den letzten Wochen und Monaten mit Erstaunen, mit Hoffen und Bangen. Wir haben aber auch viele Fragen. Wir schwanken zwischen der Verpflichtung zum aktiven Eingreifen - auch mit militärischen Mitteln - und der Unsicherheit, ob ein solches Eingreifen gerechtfertigt ist.
Freiheit
ist auch ein grundlegendes Thema unserer christlichen Theologie- und Kirchengeschichte.
„Der Herr ist der Geist; wo aber der Geist des Herrn ist, da ist Freiheit.“ ( 2. Korinther 3, 17 ),
Mit dieser Erkenntnis hat der Apostel Paulus vor fast 2000 Jahren die junge Gemeinde in Korinth ermutigt und gestärkt. Und in Aufnahme dieser Erkenntnis bekennt und versteht sich die Evangelische Kirche in Deutschland noch heute als eine „Kirche der Freiheit“, die sich in Bindung an die Heilige Schrift dem gegenwärtigen Wirken des Geistes Gottes anvertraut.
Die christliche Perspektive des Zusammenhangs von Freiheit und Bindung fokussiert mein Freiheitsverständnis und die folgenden Ausführungen.
I. Frei sein aus Gnade: In der Bindung an Gottes lebendiges Wort Jesus Christus wird Menschen Freiheit gegenüber irdischer Autorität geschenkt!
Martin Luther wusste von der Gefährdung der Freiheit durch das „In-sich-selbst-gekrümmt-Sein“ des Menschen. Dieses Bild beschreibt in der Theologie seiner Zeit die Folgen der Sünde: In sich selbst verkrümmt existiert der Mensch wie in einem Gefängnis. Daraus kann er Befreiung erfahren durch Gottes Handeln in Jesus Christus, indem er diesem Handeln vertraut, Gott glaubt. Er wird frei aus Gnade.
Frei sein aus Gnade – das ist also nicht der Gegenwert für menschliches Bemühen und menschliche Leistung.
Frei sein aus Gnade – das ist das Geschenk Gottes an alle, die ihr Leben an das lebendige Gotteswort Jesus Christus binden.
Freiheit in christlicher Perspektive ist nicht ohne Bindung an Gott zu denken und zu leben. Gottesbeziehung und ein Leben in der Nachfolge des Auferstandenen sind Quelle und Richtschnur für die Freiheit des Menschen.
Die Bindung an Jesus Christus bewahrt Menschen vor zerstörerischen Selbstzweifeln. In dieser Bindung können Menschen sich aus Selbstüberschätzung und Selbstbezogenheit befreien und ihr menschliches Maß akzeptieren. Menschliches Maß heißt für mich:
- die Begrenztheit, die Zeitbedingtheit und die Vergänglichkeit alles Irdischen;
- die Fehlbarkeit des menschlichen Denkens, Planens, Entscheidens und Handelns, aber auch die Fähigkeit zu Korrektur, zu Reue, zu Umkehr und Neuanfang.
„Frei sein aus Gnade“ ist kein geistiger oder geistlicher „Überbau“, sondern muss konkret gelebt werden, und zwar als Freiheit in Bindung an Gott und als Freiheit in Verantwortung für die Mitmenschen.
Diese zweiseitige Ausrichtung christlicher Freiheit hat Luther in seiner Schrift „Von der Freiheit eines Christenmenschen“ 1520 als Doppelthese formuliert:
„Ein Christenmensch ist ein freier Herr – wir ergänzen heute: und eine freie Herrin - über alle Dinge und niemandem untertan.
Ein Christenmensch ist ein dienstbarer Knecht – und eine dienstbare Magd - aller Dinge und jedermann untertan."
Martin Luther ging es darum, dass Christenmenschen vor Gott ihre Höllen-Angst verlieren, dass sie ihre Glaubens-Stärke und ihre Glaubens-Freiheit entdecken und dass sie ihre Verantwortung vor Gott, für die Welt und für die Mitmenschen wahrnehmen.
Freiheit von irdischen Bindungen und Freiheit als Dienst gehören untrennbar zusammen.
Eine „Kirche der Freiheit“ verkündigt und bezeugt also keine rein jenseitige, vertröstende Freiheit, sondern vielmehr eine Freiheit, die privat und öffentlich verantwortet werden will.
II. Frei sein aus Gnade: Die Bindung an Gottes lebendiges Wort Jesus Christus ruft die Kirche in den Dienst gesellschaftlicher Verantwortung!
In der Barmer Theologischen Erklärung heißt es in These 5:
„Die Schrift sagt uns, dass der Staat nach göttlicher Anordnung die Aufgabe hat, in der noch nicht erlösten Welt, in der auch die Kirche steht, nach dem Maß menschlicher Einsicht und menschlichen Vermögens unter Androhung und Ausübung von Gewalt für Recht und Frieden zu sorgen. Die Kirche erkennt in Dank und Ehrfurcht gegen Gott die Wohltat dieser seiner Anordnung an. Sie erinnert an Gottes Reich, an Gottes Gebot und Gerechtigkeit und damit an die Verantwortung der Regierenden und Regierten. Sie vertraut und gehorcht der Kraft des Wortes, durch das Gott alle Dinge trägt.“
Christenmenschen beanspruchen für ihre Kirche keine politische Macht. Kirche darf sich allerdings auch nicht darauf beschränken, die Frömmigkeit der Einzelnen zu bündeln und ihr Formen und Ordnungen zu geben. Denn das Evangelium drängt dazu, die Welt zu einem nachhaltigen Leben in Gerechtigkeit und Frieden zu verändern. Um es mit Worten von Johannes Rau zu sagen:
„Diese Welt, die im Argen liegt, soll da nicht liegen bleiben, denn sie ist die von Gott geliebte Welt. Weil Gott diese Welt liebt, darum will er, dass wir an ihrer Veränderung, an ihrer Verbesserung arbeiten… Das ist der Auftrag der Christenheit, und darum haben sich Christen einzumischen in das Geschehen dieser Welt.“ (M. Schreiber (Hrsg.): Wer hofft, kann handeln, Predigten von Johannes Rau, S. 56)
Zu dieser der christlichen Kirche gebotenen öffentlichen „Einmischung“ seien mir drei konkrete politische Anmerkungen erlaubt:
Erstens:
Deutschland wird zunehmend multireligiös. Religionsfreiheit gilt ohne Frage für Menschen aller Religionen gemäß der Normierung unseres Grundgesetzes. Das gleichberechtigte Miteinander verschiedener Religionen in einer Gesellschaft zu gestalten, führt zu ungewohnten Herausforderungen, manchen Mühen und auch Verdruss. Ich sehe in diesem Zusammenhang mit Sorge, dass aus Verunsicherung oder aus einer formalistisch gedeuteten Gerechtigkeit eine einfache und schnelle Lösung darin gesucht wird, alle Religionen unsichtbar zu machen. Weil keine Religion bevorzugt werden soll, werden alle öffentlichen Religionsäußerungen abgelehnt.
Eine Gesellschaft wird aber ärmer, wenn sie zum Beispiel den Beginn und das Ende des Schuljahres, der Legislaturperiode eines Parlamentes oder den Auftakt einer Fußballweltmeisterschaft nicht mehr mit einem Gottesdienst feiern kann. Und es dient der Lebenskraft einer Gesellschaft, wenn dem Entsetzen und der Fassungslosigkeit nach großen Katastrophen Gebet und Gottesdienst eine Form und eine Sprache bieten. Betroffene Menschen erfahren dadurch Befreiung aus lähmender Verzweiflung. Es hat sich gezeigt, dass dies nicht nur konfessionsübergreifend, sondern auch gemeinsam mit Geistlichen anderer Religionen möglich ist.
Zweitens:
Unsere Generation steht vor einer grundlegenden Verständigung über nachhaltiges Wirtschaften und Leben in Verantwortung vor Gott und den nachfolgenden Generationen. Bei allen kontroversen Diskussionen der verschiedenen politischen Themen – die, das möchte ich heute besonders betonen, natürlich in erster Linie im Parlament transparent geführt und entschieden werden müssen: Ich bin davon überzeugt, dass die gegenwärtig geplante „Energiewende“ ein grundlegender Schritt in die richtige Richtung ist. Aber ebenso klar ist auch: Für den Einstieg in eine neue, zukunftsfähige Energieversorgung brauchen wir einen breiten zivilgesellschaftlichen Konsens. Das Signal eines solchen Konsenses geht weit über die Energiefrage hinaus. Es weckt die Hoffnung darauf, dass es gelingen kann, ein neues qualitatives Wachstumsmodell zu entwickeln, das nachhaltiges Wirtschaften fördert und den Lebensraum zur Gestaltung der Freiheit für künftige Generationen nicht zerstört.
Drittens:
„Gottes Gebot und Gerechtigkeit“ (s. Barmer Theologische Erklärung, These 5) wollen im Besonderen die Lebensrechte der Armen, Schwachen und Fremden schützen und sie davor bewahren, im „freien Spiel“ des gesellschaftlichen Wettbewerbes unterzugehen. Politische Entscheidungen, ausgerichtet an den Grundgedanken von Solidarität und Gerechtigkeit, geben dem Zusammenhalt innerhalb einer Gesellschaft ein tragendes Fundament.
Das gilt auch für die Gemeinschaft der Staaten. Wir wollen allen denen, die das Friedensprojekt Europa dem wirtschaftlichen Egoismus und einer aufkommenden Kleinstaaterei zu opfern bereit sind, unmissverständlich entgegentreten.
Die aktuelle Euro-Krise bestätigt die Forderungen des Rates der EKD in seinem Wort „Wie ein Riss in einer hohen Mauer“ zur globalen Finanzmarktkrise aus dem Jahr 2009. Noch immer sind Fragen der Regulierung und der Aufsicht über die globalen Finanzmärkte weitgehend ungelöst. Die Euro-Krise um Griechenland hat verschiedene Ursachen. Eine scheint mir wesentlich zu sein: Die Finanzmärkte reagieren nicht nur auf diese Krise, es sind vielmehr ungeregelte Finanzmärkte, die die Krise treiben. Wer 18 Prozent Zins und mehr für Anleihen verlangt, hat der nicht schon längst die Grundsätze eines ehrbaren Kaufmanns hinter sich gelassen? Die Regulierung der Finanzmärkte geschieht also auch zur Gewährleistung von Freiheit. Denn das Verleihen von Geld darf nicht zum Verlust freiheitlichen Lebens für die Schuldner führen. Vermeidung von Neuverschuldung und Schuldenabbau müssen ein vorrangiges Ziel staatlichen Handelns zur Sicherung des sozialen Zusammenhalts und des Friedens sein. Das Senken von Zinslasten ist mit nachhaltigem Freiheitsgewinn verbunden. Davon profitieren alle Menschen einer Gesellschaft.
III. Frei sein aus Gnade: Die Bindung an Gottes lebendiges Wort Jesus Christus ruft alle Christenmenschen zum Wagnis verantwortlichen Tuns!
Persönliche Freiheit in Verantwortung vor Gott und gegenüber anderen Menschen zu leben und sich dabei auf sein eigenes Gewissen ohne Bevormundung zu berufen, das war ein Leitgedanke der Reformation. Dieser Gedanke löste einen unerhörten Schub an Selbstbewusstsein aus und beförderte den aufrechten Gang. Wegen dieses Gedankens schrieb Luther seine Katechismen, wegen dieses Gedankens forderte Philipp Melanchthon eine Schulbildung für alle. Friedrich Schorlemmer formuliert es heute so:
„Eine freie Entscheidung braucht Wissen, worum es geht, was zur Entscheidung ansteht, welche Alternativen vorliegen, welches die Folgen der eigenen Entscheidung wären. Die freie Entscheidung braucht schließlich das Wagnis des Handelns, wissend, dass nie alles ganz gut ist, sondern alles an der Zweideutigkeit des Lebens teilhat…. Wer Freiheit will, muss Dummheit bekämpfen. Oder, lieber positiv ausgedrückt: er muss auf Bildung setzen.“ (Friedrich Schorlemmer: Da wird auch dein Herz sein, Freiheit gewinnen, S. 150)
Freiheit in Verantwortung will immer gewagt sein. Es gilt, nicht nur von Freiheit zu träumen. Es gilt, sie zu leben – mit und in aller Zweideutigkeit und mit der Gefahr, Fehler zu machen. Dazu ermutigt Dietrich Bonhoeffer. Er erkannte jede an Gottes Wort gebundene Tat als eine Station auf dem Weg der Freiheit:
„Nicht das Beliebige, sondern das Rechte tun und wagen,
nicht im Möglichen schweben, das Wirkliche tapfer ergreifen,
nicht in der Flucht der Gedanken, allein in der Tat ist die Freiheit.
Tritt aus ängstlichem Zögern heraus in den Sturm des Geschehens,
nur von Gottes Gebot und deinem Glauben getragen,
und die Freiheit wird deinen Geist jauchzend empfangen.“
(Dietrich Bonhoeffer: Widerstand und Ergebung, Gefängnisgedichte, S. 571)