Predigt in der Eucharistiefeier in der Grabeskirche bei der Ökumenischen Pilgerreise ins Heilige Land
Erzbischof em. Dr. Robert Zollitsch
Noch mehr als für uns Katholiken, steht für Sie, werte evangelische Schwestern und Brüder, der Karfreitag im Zentrum des liturgischen Gedenkens. Er hält die Erinnerung an das Sterben und den Tod Jesu wach und führt uns zur entscheidenden Heilstat Jesu, zu dem was er, - eigentlich unfassbar – für uns auf sich genommen und getragen hat. Kein anderer Ort führt uns das Leiden und Sterben unseres Herrn so hautnah vor Augen wie die Grabeskirche, in der wir uns befinden: Das tat Jesus für uns, um uns von Schuld und Sünde rein zu waschen, zu befreien und uns mit Gott unwiederbringlich zu versöhnen.
Der Mensch, der vor Gott schuldig geworden ist, kann sich nicht selbst von seiner Schuld befreien. Das kann nur Gott. Schuld und Sünde sind keine Bagatelle und können nicht einfach weggewischt werden. Darum weiß die Heilige Schrift, und schon das Alte Testament spricht in der Geschichte Gottes mit seinem Volk beredt davon. Doch wir brauchen gar nicht so weit zu gehen. Schauen wir nur in das vergangene Jahrhundert: an die beiden Weltkriege und an das unfassbare Verbrechen des Holocaust! Und was wir derzeit in unmittelbarer Nachbarschaft in Syrien und im Irak oder in Nigeria und im Sudan erleben, offenbart ein Maß an Sünde und Schuld, das alles menschliche Begreifen übersteigt. Und das vor dem Angesicht Gottes!
Den Abgrund des Bösen und der damit verbundenen Schuld können wir Menschen nicht überbrücken. Das kann nur Gott; denn dazu bedarf es einer anderen Macht. Und Gott schlägt die Brücke über diese unendliche Kluft, indem er in seinem Sohn selbst in die Bresche springt und selbst zur Brücke wird, wie es uns der Epheserbrief plastisch vor Augen führt (Eph 2,13–16) – und das mit letzter Konsequenz hier auf Golgotha.
Dieser Höhepunkt hier hat eine Geschichte. Der Apostel Paulus erinnert uns in seinem zweiten Brief an die Gemeinde von Korinth, wie wir es in der Lesung hörten, daran, dass Gott die Welt in Christus mit sich versöhnt hat (2 Kor 5,19). Und diese Tat beginnt bereits damit, dass Jesus Mensch wird, einer von uns und vor Gott damit an unsere Stelle tritt. Das griechische Wort für Versöhnung – katallagé –, das Paulus hier gebraucht, lässt uns die Tiefe dessen erahnen, was Versöhnung bedeutet. In katallagé steckt das Wort allos – anderer, ein anderer: Katallagé – Versöhnung heißt ein anderer werden, ja der andere werden, an seine Stelle treten. So trat Jesus Christus an unsere Stelle und versöhnte uns so mit dem Vater. Das geht so weit, wie der Apostel weiter ausführt, dass Gott ihn, „der keine Sünde kannte, für uns zur Sünde machte.“ (2 Kor 4,21).
Weil Jesus Christus Sohn Gottes ist und als Mensch zugleich an unserer Stelle steht, kann er zur Brücke werden zwischen Gott und uns Menschen. In ihm wendet sich Gott der Welt, uns, zu, um Versöhnung zu stiften und das zerbrochene Verhältnis zwischen Gott und Welt wiederherzustellen. Der Sohn, der Mensch geworden ist, trägt in seinem Leib das ganze Menschsein zu Gott zurück. Er, der Fleischgewordene, trägt uns alle in sich und schenkt so, was wir selbst nicht geben können: Versöhnung. Freilich zeigt Gott auch, dass er Sünde und Schuld ernst nimmt. Anstelle von uns Menschen opfert sich Jesus Christus, um die Sünden seines Volkes abzuwaschen und zu sühnen. Gottes Liebe zu uns ist so unendlich groß, dass er seinen Sohn Jesus Christus in den Tod gibt und uns in ihm und mit ihm den Weg zum Leben führt.
Das ist es, was einen Apostel Paulus in seiner Verkündigung zentral bewegt und leitet. So schreibt er nicht nur wie heute in unserer Lesung: Gott rechnet uns unsere Verfehlungen nicht mehr an (2 Kor 5,19); sondern lädt uns ein, über unseren Gott fasziniert zu staunen, wenn er der Gemeinde in Rom schreibt: Gott hat uns durch den Tod seines Sohnes mit sich versöhnt, als wir noch Gottes Feinde waren. Ja, Gott hat uns seine Liebe darin erwiesen, dass Christus für uns gestorben ist, als wir noch Sünder waren (Röm r,8.10). In Jesu Sterben am Kreuz wird der Schmutz der Welt aufgesogen und umgewandelt im Schmerz des unendlichen Gottes. Gott selbst richtet sich als Ort der Versöhnung ein und nimmt das Leid des Menschen in seinem Sohn auf sich. Durch die Größe seiner Liebe wird das Leid, das Dunkle verwandelt. So erstaunlich groß ist Gottes Liebe.
Versöhnung ist einzig und allein Geschenk und Tat Gottes. Ja, Gott war es, der „in Christus die Welt mit sich versöhnt hat“, so hörten wir in der Lesung. So fordert uns der Apostel auch nicht auf: Versöhnt euch mit Gott! Sondern: „Lasst euch versöhnen mit Gott!“ Er, „der gnädige und barmherzige Gott“ (Ex 34,6), bietet Vergebung an und stiftet Versöhnung. An uns liegt es, uns dafür zu öffnen und sie anzunehmen. Mehr noch! Wenn wir auf die zurück liegenden 500 Jahre seit Beginn der Reformation zurückschauen und auf das vor uns stehende Reformationsgedenken, spüren wir, wie sehr uns wie dem Apostel Paulus „der Dienst der Versöhnung“ aufgetragen ist (2 Kor 5,18). Ein alter Papyrus spricht an dieser Stelle sogar vom „Evangelium der Versöhnung“, das zu verkünden, uns aufgegeben ist. Jesu Auftrag und sein Vermächtnis, seine zentrale Botschaft ist tatsächlich das „Evangelium der Versöhnung“.
Leider haben wir uns über seine Botschaft und deren Auslegung zerstritten und gespalten. Wenn wir ernstnehmen, „dass Gott uns durch Christus mit sich versöhnt und uns den Dienst der Versöhnung aufgetragen hat“, wie der Apostel schreibt, dann können wir, nach dem was uns zu dieser Pilgerreise geführt hat und was wir in diesen Tagen miteinander erlebt und gelebt haben, nur als „Boten der Versöhnung“ von hier weggehen. Ich wage zwar nicht mit dem Apostel in unserer Lesung zu sagen: „Das Alte ist vergangen, Neues ist geworden.“ (2 Kor 5,17) Auch wenn das „Alte“ noch nicht vergangen ist, so bemühen wir uns im Healing of memory doch um die Heilung und Vernarbung der Wunden. Damit stehen wir vor einer „neuen Situation“, in der „Neues“ werden kann, indem wir in einer “Ökumene der Gaben“ zuerst das Gemeinsame sehen und all das, worin wir uns gegenseitig beschenken und bereichern können.
Wenn ich mir hier auf Golgotha, hier am Grab Jesu vor Augen führe, was Jesus für uns gelitten hat und was er auf sich nahm und getan hat, um uns mit Gott und untereinander zu versöhnen, dann frage ich mich: Wie haben wir Christen es fertiggebracht, uns so zu zerstreiten und zu spalten? Wie haben wir es fertiggebracht – angeblich um unseres christlichen Glaubens willen – Kriege gegeneinander zu führen? In Scham und Zerknirschung können wir nur den Herrn bitten: Lass die Versöhnung, die du in deiner Hingabe am Kreuz mit Gott gestiftet hast, auch zur Versöhnung unter uns werden! Lass uns über deinem Grab ganz zusammen finden! Lass dein Grab die Brücke sein, über die wir den Weg zueinander gehen!
Die „Grabeskirche“ lenkt unseren Blick über das Grab Jesu zur Anastasis. Das Grab ist nicht nur der Ort der Beisetzung des Leichnams Jesu und seiner Grabesruhe. Es ist zugleich der Ort seiner Auferstehung, der Ort seines Sieges über Tod und Sünde, der Ort des neuen Lebens in ihm. In diesem österlichen Licht dürfen wir von unserer Pilgerreise morgen in unser Land zurückkehren mit der Bitte: dass Er, der Gott mit uns versöhnt hat, uns auf dem Versöhnungsweg untereinander und miteinander führen möge.