Predigt im Festgottesdienst anläßlich der Übergabe der überarbeiteten Lutherbibel, Georgenkirche in Eisenach
Margot Käßmann
Apg.8,62 ff.
Liebe Gemeinde,
verstehst du, was du liest? Das fragt Philippus den Mann aus Äthiopien, wir haben es eben gehört. Ja, heißt das denn, wir können die Bibel gar nicht einfach nur so lesen und verstehen, ganz spontan. Bedeutet das, wir brauchen eine Anleitung?
Ja, es ist wunderbar, die Bibel in der eigenen Sprache lesen zu können! Aber es ist und bleibt immer eine Übersetzung. Schon vor Martin Luther gab es Versuche der Übertragung biblischer Texte aus dem Hebräischen und dem Griechischen oder aus dem Lateinischen ins Deutsche. Doch die lasen sich offenbar so, wie heute eine Übersetzung, die Google macht. Da kommt manchmal völlig unverständlicher Kauderwelsch zusammen.
Martin Luther erwies sich als Sprachgenie, als er versuchte, deutsche Worte zu finden für griechische oder hebräische Begriffe. Bis heute prägt das unsere Sprache, wenn in der Bibel von „Blutgeld“ die Rede ist oder auch vom „Morgenland“ und auch, wenn das „Licht unter den Scheffel“ gestellt wird. Und manchmal weicht er auch vom Urtext ab. Dass der Engel Maria grüßt mit den Worten, sie sei „voll Gnaden“, findet Luther etwas despektierlich, da denke ein deutscher Mann an ein „Fass voll Bier“. Da übersetzt er lieber: Gegrüßet seist du Holdselige“. Wir müssen uns Luthers Übersetzungsarbeit so vorstellen, dass er einerseits auf die Menschen in ihrem Alltag gehört hat. Luther schreibt: „Man muß die Mutter im Hause, die Kinder auf Gassen, den gemeinen Mann auf dem Markt drum fragen und denselbigen auf das Maul sehen, wie sie reden, und darnach dolmetschen; da verstehen sie es denn und merken, daß man deutsch mit ihnen redet“. Und andererseits hat er eben überlegt, wie sie es hören würden, ob bei ihnen mit den deutschen Worten ankommt, was die Bibel über den Glauben erzählt.
Ich habe allergrößte Bewunderung dafür, dass Martin Luther auf der Wartburg in nur elf Wochen das gesamte Neue Testament aus dem griechischen Urtext ins Deutsche übersetzte. Anschließend hat er gemeinsam mit Philip Melanchthon, Caspar Cruciger, Johannes Bugenhagen und anderen das Alte Testament zwölf Jahre lang übersetzt.
Das Wort Gottes ist nicht statisch. Wir können nur darum ringen, es in unserer Zeit zu verstehen. Der Alttestamentler Jürgen Ebach hat einmal gesagt, übersetzen meine eben auch: üb‘ ersetzen. Das ist ein gutes Bild, finde ich.
Oft waren es in späteren Jahrhunderten die Missionare, die erst die Sprache der einheimischen Bevölkerung gelernt haben, sie dann in Schriftzeichen übertrugen und schließlich die Bibel übersetzten. Das war immer wieder ein großer Bildungsprozess. Menschen haben gefeiert, dass sie die Bibel nun in Oromo oder in der Sprache Papua Neu Guineas lesen konnten. Die Bibel hat sich so in aller Welt beheimatet. Das war immer auch eine Demokratisierung. Jeder und jede, der kleine Mann und die kleine Frau konnten nun verstehen und damit auch mitreden, worum es in Fragen des Glaubens geht.
Beim Übersetzen geht es also immer auch um das Verstehen. Der Kämmerer, sicher ein gebildeter Mann, ein Finanzminister, ist offenbar neugierig auf die Bibel. Er hat sie sich gewiss etwas kosten lassen, denn vor der Erfindung des Druckens musste jedes Buch handschriftlich erstellt werden – das war teuer. Aber nun hängt er fest. Wie soll er das verstehen, einordnen, was er da liest? Philippus wird für ihn zum Übersetzer, im Gespräch entwickelt sich das Begreifen: Ah, so ist das gemeint!
Sind wir als Christen heute eigentlich ansprechbar, wenn andere uns fragen: Wie soll ich das verstehen? Wie ist das mit dem Glauben? Wer war Jesus und was hat es mit dem Christus auf sich? Es braucht Menschen, die offen sind für Fragen und auskunftsfähig, damit andere es überhaupt wagen, ganz unbefangen zu fragen. Martin Luther hat es jedem Christen zugetraut, auf diese Weise für andere Priester zu werden.
Manch einer hat schon erzählt, dass er aus Langeweile im Hotel anfing, in einer Bibel zu lesen. Sie können damit sofort beginnen, zum Glück gibt es die Bibel App. Die lässt sich bis zum Reformationstag 2017 überall kostenlos herunter laden. Du kannst zu lesen beginnen, in der Straßenbahn, auf einer Reise, im Café. Aber wie oft geschieht es wohl, dass solche Lektüre zum Glauben führt?
Wer auf Seite 1 zu lesen beginnt, gibt wahrscheinlich spätestens bei den langen Gesetzen für Brand-, Speise und Dankopfer im dritten Buch Mose auf. Da ist es gut, wenn jemand rät: Lies doch erst einmal das Markusevangelium; danach die anderen Evangelien. Und dann lass uns darüber sprechen, warum und wie die Geschichte des Jesus von Nazareth aus so verschiedener Perspektive erzählt wird. Das können sehr spannende, intensive und berührende Gespräche werden.
Dabei ist mir wichtig: Glaube und Vernunft sind kein Widerspruch! Den Reformatoren ging es um gebildeten Glauben. Selbst nachlesen sollten die Menschen in der Bibel, ihr Gewissen schärfen und dann hinausgehen in die Welt und Verantwortung übernehmen! Deshalb hat Luther die Bibel übersetzt und in seinem Schreiben an den christlichen Adel deutscher Nation Schulen gefordert, in denen jedes Kind, Jungen wie Mädchen, gleich welcher sozialen Herkunft lesen und schreiben lernen sollten.
Was ist die Bibel? Sie ist nicht ein Buch, das von Gott unmittelbar diktiert wurde. Sie ist aber auch nicht ein Geschichtenbuch, das sich Menschen schlicht erdacht haben. Die Bibel ist das Buch, in dem die Glaubenserfahrungen von Menschen mit Gott festgehalten sind und das vom Leben und Wirken von Jesus Christus erzählt. „Die Bibel ist das wirkmächtigste Buch der Weltgeschichte“[1]. In aller Welt wird erzählt vom Garten Eden, dem Auszug aus Ägypten und der Geburt des Kindes im Stall. Deshalb ist es nicht nur eine Frage des Glaubens, sondern auch eine Frage der Bildung, ob Menschen diese Geschichten kennen.
Der biblischen Wissenschaft haben wir zu verdanken, dass wir die Bibel historisch-kritisch lesen können. Das ist ganz im reformatorischen Sinne. Verstand und Vernunft müssen nicht abgeschaltet werden, wenn wir die Bibel lesen! Wir können die Entstehungsgeschichte des jeweiligen Textes erfragen und versuchen, ihn im historischen Kontext, dann aber auch in der Bedeutung für heute zu verstehen.
Viele Menschen sind gegenüber dieser Methode ängstlich. Ich erinnere mich daran, dass es Warnungen gab, durch das Theologiestudium würde ich gewiss vom Glauben abfallen. Mir aber hat die historisch-kritische Methode geholfen, weil sie Fragen erlaubt. Wie kann es beispielsweise sein, dass es zwei Schöpfungsgeschichten gibt?
Die Bibel erzählt die Glaubenserfahrungen von Menschen mit unserem Gott. Es ist gut, wenn wir die Bibel ins Gespräch bringen. Gegen jede Art von Fundamentalismus ist es wichtig, dass wir die Bücher, die uns heilig sind - in dem Sinne, dass sie für unseren Glauben fundamentale Bedeutung haben -, kritisch lesen dürfen. Genau das haben uns die Reformatoren gezeigt. Bildung war für sie alle wichtig. Deshalb gilt es, die Bibel auch miteinander zu lesen, nicht nur allein. Was bedeutet diese Geschichte für dich? Wie verstehst du die Auferstehung? Wo finden wir Spuren vom Glaubenszeugnis der Frauen?
Und: Die Bibel ist auch Kulturgut. Selbst wenn jemand sagt, er habe mit dem christlichen Glauben keinerlei Berührung, muss er doch zumindest eine Ahnung haben, was in der Bibel steht. Sonst passieren Geschichten wie diese: Ein kleiner Junge sieht in einer Kirche das Altarbild mit dem Gekreuzigten und ruft: „Boah, was ist dem denn passiert?“. Ein Kind sollte von der Kreuzigung doch zumindest etwas wissen, um Architektur, Literatur, Geschichte in unserem Land verstehen. Und auch in kommunalen Kindertagesstätten sollte von der Arche Noah erzählt werden, sonst sieht ein Mädchen ein Schiff mit Tieren darauf und fragt sich, was das denn soll.
Es geht darum, die biblischen Geschichten weiterzuerzählen, sie ins Gespräch zu bringen, denn wir teilen sie ja, sie beheimaten uns auch in der Geschichte unseres Landes. Und es geht darum, sie selbst nachzulesen, sie miteinander zu lesen, einander die Texte zu öffnen durch das gemeinsame Reden über sie. Genau das macht uns Philippus vor in seinem Gespräch mit dem Kämmerer aus Äthiopien. Und genau solche Gespräche wünsche ich mir heute. Da ist einer neugierig und will nachlesen und ein anderer nimmt sich die Zeit, seine Sicht der Dinge weiterzugeben. Wann immer das geschieht, bleibt die Bibel nicht ein Buch mit sieben Siegeln. Und so verstaubt sie auch nicht im Bücherregal. Dann wird sie ein lebendiges Buch, das wir selbst weitererzählen. Wir knüpfen an die Erfahrungen unserer Väter und Mütter im Glauben an und ergänzen sie mit unseren eigenen Erfahrungen mit Gott. So werden wir Teil des Erzählfadens der Sache mit Gott. Möge die Revision der Lutherbibel 2017 auf diese Weise segensreich wirken. Amen.
[1] Martin Urban. Die Bibel. Eine Biografie, Berlin 2009, S. 15.