Rechtfertigung und Freiheit
1. Einleitung
1. Einleitung: Reformation damals und heute
Fünfhundert Jahre Reformation – es gibt viele gute Gründe, dieses Datum zu feiern und daran zu erinnern. Denn die Reformation »ist ein Ereignis von weltgeschichtlicher Bedeutung« [1]. Sie hatte weitreichende kulturelle, gesellschaftliche und politische Auswirkungen: nicht nur an ihren Ursprungsorten in Mitteldeutschland und der Schweiz, sondern sehr bald weit über diese und die Grenzen Europas hinaus.
Im Zentrum der Reformation stand die Frage nach dem Verhältnis des Menschen zu Gott. Die Reformation war wesentlich ein religiöses Ereignis, weil die Männer und Frauen, die die Reformation trugen, erwarteten, dass Gott selbst den rechten Glauben wecken und so das Verhältnis der Menschen zu Gott erneuern werde. Erst später hat es sich eingebürgert, den Begriff »Reformation« weniger auf diese von Gott erwartete Erneuerung zu beziehen als vielmehr auf die mit dieser Erwartung verbundenen Reformen »an Haupt und Gliedern« in Kirche und Theologie.
Diese besondere Reform des sechzehnten Jahrhunderts nennt man seit dem achtzehnten Jahrhundert im Unterschied zu anderen Reformen »Reformation«. Sie gehört in eine Reihe spätmittelalterlicher Reformbewegungen. Sie nivelliert bestimmte Gegensatzpaare der mittelalterlichen Theologie (wie beispielsweise die Polarität von Klerikern und Laien) und spitzt andere (wie beispielsweise die Dialektik von Evangelium und Gesetz) zu. Insofern ist sie weder im Sinne einer klassischen protestantischen Interpretation als Durchbruch der Wahrheit des Evangeliums nach Jahrhunderten eines »finsteren Mittelalters« angemessen verstanden noch im Sinne der traditionellen römisch-katholischen Gegenposition als bloßer Höhepunkt mittelalterlicher Reformanstrengungen.
Die Fragen, die Reformatoren wie Heinrich Bullinger, Johannes Calvin, Martin Luther, Philipp Melanchthon oder Ulrich Zwingli und einige Frauen wie z. B. Katharina Zell oder Argula von Grumbach in Briefen, Predigten und Traktaten stellten, griffen auf, was Menschen damals unmittelbar bewegte. Insbesondere die eine Frage, ob das Verhältnis zu Gott dem entsprach, was Gott vom Menschen fordert, durchzog die vorreformatorische Geschichte des Christentums und führte im späten Mittelalter zu bis heute beeindruckenden institutionellen wie baulichen Ausdrucksgestalten: Stadt- und Dorfkirchen wurden gestiftet, Menschen verpflichteten sich, regelmäßig Fürbitt-Andachten abzuhalten, und die Universitätstheologie erlebte eine Hochblüte.
Bei einem Reformationsjubiläum am Anfang des einundzwanzigsten Jahrhunderts muss deutlich gemacht werden, inwiefern die religiösen Einsichten der Reformation auch eine Antwort auf Fragen heutiger Menschen darstellen. Ein großer Teil von ihnen stellt sich nämlich überhaupt nicht die Frage nach der individuellen Beziehung zu Gott. Die reformatorischen Thesen über das Verhältnis zwischen Gott und Mensch werden auf den folgenden Seiten auf die Gegenwart hin interpretiert. Außerdem wird der Beitrag der Reformation zur europäischen Freiheitsgeschichte ebenso thematisiert wie die Differenzen zwischen dem reformatorischen Begriff »Freiheit« und gegenwärtiger Freiheitserfahrung.
Im Zentrum der theologischen Aussagen der Reformatoren steht die Lehre, dass das versöhnte Verhältnis zwischen Gott und Mensch von Gott ausgeht und nicht das Ergebnis einer Selbstbesinnung oder sonstigen kulturellen, politischen oder religiösen Anstrengung ist. Die Reformatoren haben diese sogenannte Rechtfertigungslehre nicht erfunden. Sie haben sie an vielen Stellen gegenüber der mittelalterlichen Theologie im Rückgriff auf die allen Kirchen gemeinsamen Anfänge des Christentums neu formuliert und anders zugespitzt. Die Männer und Frauen, die sich zur heute »Reformation« genannten Bewegung zählten, versuchten, das Evangelium von Jesus Christus neu zur Sprache zu bringen; man erinnert sich nur richtig an sie, wenn das Evangelium ebenfalls wieder so zur Sprache gebracht wird, dass es Menschen »tröstet und befreit« (Dietrich Bonhoeffer) und nicht nur ein »Märlein« aus längst vergangenen Tagen bleibt, wie Martin Luther gern betonte. Die Erfahrung von individueller wie gemeinschaftlicher Befreiung muss unmittelbar mit der Rechtfertigung verbunden bleiben, wenn es sich bei dem Bezug auf die Rechtfertigungslehre nicht lediglich um lebensfernes Spiel mit einem alten Begriff handeln soll.
Die reformatorisch Gesinnten jener Zeit argumentierten unter anderen philosophischen und theologischen Voraussetzungen, als sie Menschen von heute haben oder implizit mit sich tragen, sie lebten in einer anderen Gesellschaft und unter anderen kirchlichen wie politischen Bedingungen. Diesen »garstigen breiten Graben« (Lessing) zwischen der Wahrheit des Evangeliums und ihrer geschichtlichen Bezeugung kann man nicht einfach überspringen. Man muss deshalb nicht zu dem Urteil kommen, die reformatorische Rechtfertigungslehre sei eine für die damalige Zeit wichtige Klarstellung gewesen, aber habe heutigen Menschen nichts mehr zu sagen, weil diese nicht mehr wie damals die Frage nach dem »gnädigen Gott« stellten. Die Rechtfertigungslehre soll in diesem Text als Herzstück evangelischer Theologie und Frömmigkeit entfaltet werden und damit als Antwort auf Fragen heutiger Menschen dienen.
Warum wird ein Bündel von theologischen Einsichten, das im sechzehnten Jahrhundert zu einer Neugestaltung von Kirche und Theologie, dann aber auch von Gesellschaft, Kultur und Politik führte und »Reformation« genannt wird, ausgerechnet am 31. Oktober 2017 gefeiert (und mit einer Dekade, die auf eben dieses Datum zuläuft)? Dieser Termin hat sich erst nach und nach zum Jubiläumstag entwickelt. Als Martin Luther im Umfeld des Allerheiligentages 1517 die 95 Thesen zum Ablass veröffentlichte, war ihm nicht klar, welche grundlegenden Veränderungen von Theologie, Kirche und Gesellschaft diese Bemerkungen zu einem sakramentalen Vollzug der Kirche (präziser: zu einem Anhang des Bußsakramentes) zur Folge haben würden. Das klassische Bild im kollektiven Gedächtnis, auf dem ein kraftvoller Mann am Vorabend des Festes, also dem 31. Oktober 1517, mit entschlossenen Zügen und wuchtigen Hammerschlägen ein Thesenblatt an eine Kirchentür nagelt, trifft sicher nicht die historische Wirklichkeit. Gleichwohl gilt dieser Tag doch als Datum für den Auftakt der reformatorischen Bewegung in deutschen Landen. Sicher ist, dass Luther seine Thesen in diesen Tagen unter anderem an den zuständigen Ortsbischof verschickte. Vermutlich trifft auch die Erinnerung zu, dass er sie an jenem Tag ebenfalls an das akademische Anschlagbrett der Universität, die zur Stadt gelegene Tür der Wittenberger Schlosskirche anheftete oder anheften ließ. Wichtiger ist, dass Luther sich mit diesen Thesen als Reformkatholik darstellte und lediglich eine Praxis seiner Kirche anprangerte. An vielen Punkten, beispielsweise im Blick auf die verdienstliche Wirkung frommer Lebensleistungen der Heiligen für andere Menschen, teilte er die damalige Mehrheitstheologie und Mehrheitsfrömmigkeit.
Erst mit der viel massiveren, für uns Heutige aber sehr ambivalenten Symbolhandlung, die päpstliche Bulle, die den Bann androhte, am 10. Dezember 1520 vor dem Elstertor in Wittenberg zu verbrennen, wird ein Riss zwischen der damaligen Mehrheitskirche und der durch Luther repräsentierten reformatorischen Bewegung deutlich. Sein berühmter Auftritt beim Reichstag zu Worms im Jahre 1521, als er gegen alle zeitgenössische Praxis vor Kaiser und Reich sprechen darf und den Widerruf verweigert, macht dies vor aller Öffentlichkeit manifest. Da Luther und andere Theologen in diesen Jahren die schon im späten Mittelalter geäußerte Kritik an der zeitgenössischen Praxis der Spendung der Sakramente (Ablass und Verweigerung des Kelchs für die Laien!) zu einer grundsätzlichen Kritik an der damaligen Theologie der Sakramente vertiefen und zu einer Kritik des Papstes als des Antichristen radikalisieren, wird der Graben bald unüberbrückbar.
Martin Luther wurde zwar bald zu der Symbolfigur dieser Entwicklung, weil er auch historisch einer der zentralen Initiatoren war, aber zu dem Memorialbild im kulturellen Gedächtnis wurde das Bild vom Thesenanschlag an der Tür der Wittenberger Schlosskirche erst mit dem hundertjährigen Jubiläum 1617, das von den Evangelischen im ganzen Reich (übrigens auch in den reformierten, nicht nur in den lutherischen Territorien) groß gefeiert wurde. Die Jubiläen 1817 und 1917 ließen Luther mindestens in Deutschland zum Nationalhelden werden, wobei die Feierlichkeiten zu Beginn des neunzehnten Jahrhunderts im Zeichen der Niederwerfung Napoleons standen, die Feierlichkeiten im Jahrhundert darauf vom Verlauf des Ersten Weltkriegs geprägt waren. Manches, was damals gesagt und veranstaltet wurde, erfüllt heute mit Scham. Allerdings darf man die Geschichte der Reformationsjubiläen auch nicht als große Verfallserzählung einer ursprünglich lauteren und reinen Idee präsentieren: Mit dem Jubiläum 1817 ist eine Wiederannäherung der beiden großen konfessionellen Flügel der Reformation verbunden, die im sechzehnten Jahrhundert in schroffen Auseinandersetzungen auseinandertraten, und zu unterschiedlichen Formen unierter Kirchen geführt hat (z.B. in Preußen).
Deutlich ist, dass jedes Reformationsgedenken schon deswegen zeitbedingt ist, weil eine aktuelle reformatorische Theologie als Antwort auf gegenwärtige Problemlagen dargestellt werden muss. Auch die mehr als vierhundert Jahre alte Konzentration auf den Akt der Veröffentlichung von theologischen Thesen durch einen Professor für Theologie in einer mitteldeutschen Kleinstadt, Martin Luther, ist immer noch sachgemäß. Denn es handelt sich beim 31. Oktober 2017 um ein Symboldatum, das auf eine breite Bewegung und einen großen frühneuzeitlichen Umbruch verweist, der die mittelalterliche Welt tiefgreifend veränderte. Der Thesenanschlag führte jene Moderne mit herauf, mit der wir uns immer noch auseinandersetzen. Wird im 21. Jahrhundert Martin Luther nicht als »deutscher Heros« gefeiert, so ist er doch eine kraftvolle Symbolfigur, die wie viele große historische Persönlichkeiten einerseits zum Widerspruch herausfordert, andererseits aber gleichzeitig mit Beharrlichkeit, Wagemut und Überzeugungskraft zur Identifikation einlädt.
Bemerkenswert bleibt, mit welcher sprachlichen Kraft und zugleich mit welchem Feingefühl Luther biblische Texte übersetzte, in seinen Briefen höchst sensibel als Seelsorger agierte und in seinen Predigten die Frohe Botschaft des Evangeliums in schlichte, zu Herzen gehende Worte zu kleiden vermochte. Freilich steht er als Reformator nicht allein, sondern befindet sich – wie es auch das Titelbild dieses Textes ausdrückt – in guter Gemeinschaft: Philipp Melanchthon (1497 &ndahs; 1560) hat für die Entwicklung der Bildungsinstitutionen nicht nur im deutschen Raum eine entscheidende Bedeutung. Ulrich Zwingli (1484 – 1531) hat die Verbindung von Reformation und Freiheit in der Züricher Bürgerschaft Gestalt werden lassen. Johannes Calvin (1509 – 1564) begründete die Internationalität der Reformation durch seine Einbindung von französischen und anderen europäischen Traditionen. Ein Bewusstsein für die innere, auch theologische Einheit dieser Bewegung wird früh sichtbar gemacht, beispielsweise in einem Züricher Flugblatt des Jahres 1521, an dessen Entstehung Zwingli beteiligt war.
Die reformatorische Bewegung aber hätte sich nicht so rasant entwickelt, wenn nicht Landesfürsten des Reiches wie Friedrich der Weise oder Philipp von Hessen und die Bürgerschaften von Städten wie Zürich, Hamburg und Genf sie gefördert hätten. Festzuhalten bleibt jedoch: Es waren nicht nur diese Herrscher und Theologen, sondern ganze Netzwerke verbundener Männer und Frauen, die das reformatorische Zeitalter möglich machten und prägten. Das neunzehnte Jahrhundert gestaltet diese Einsicht in seinen monumentalen Denkmälern, beispielsweise im größten Reformations-Denkmal der Welt in Worms, auf dem neben den klassischen Reformatoren und den genannten Landesfürsten auch sogenannte Vorreformatoren wie Johannes Hus (um 1369 – 1415) dargestellt sind.
Im sechzehnten Jahrhundert entwickelten sich aus der einen abendländischen Kirche verschiedene Konfessionskirchen. Keine von ihnen, auch nicht die sogenannte altgläubige römisch-katholische Konfessionskirche, blieb von der reformatorischen Bewegung unberührt. Der damalige Kardinal Joseph Ratzinger, inzwischen emeritierter Papst Benedikt XVI., schrieb 1986 in einem Brief: »War es für die katholische Kirche in Deutschland und darüber hinaus nicht in vieler Hinsicht gut, dass es neben ihr den Protestantismus mit seiner Liberalität und seiner Frömmigkeit, mit seinen Zerrissenheiten und mit seinem hohen geistigen Anspruch gegeben hat? Gewiss, in den Zeiten des Glaubenskampfes war Spaltung fast nur ein Gegeneinander; aber immer mehr ist dann auch Positives für den Glauben auf beiden Seiten gewachsen, das uns etwas von dem geheimnisvollen ›Muß‹ des heiligen Paulus verstehen lässt ...« [2]. Die Idee der von Luther erhofften und von Rom proklamierten Universalkirche erwies sich als nicht haltbar. Die konfessionelle Vielfalt unserer Zeit ist Folge des reformatorischen Zeitalters. Allerdings ist es im einundzwanzigsten Jahrhundert nicht mehr möglich, sich an die Bewegung und Ereignisse der Reformation allein innerhalb des Horizontes der evangelischen Kirche oder des deutschen Sprachraums zu erinnern. Das Reformationsjubiläum 2017 muss vor dem Hintergrund der Einsicht gefeiert werden, dass die Reformation eine Pluralisierung im abendländischen Christentum zur Folge hatte. Es darf weder einseitig als »Kirchenspaltung« zum Anlass einer rein pessimistischen Betrachtung genommen werden noch ebenso einseitig als ausschließlich begrüßenswerte Individualisierung. Es muss also gemeinsam mit der römisch-katholischen Christenheit und mit Blick auf die weltweiten Wirkungen der Reformation gefeiert werden [3].
Außerdem lädt die Bedeutung der Reformation für die europäische Freiheitsgeschichte dazu ein, das Reformationsjubiläum nicht nur mit dem Teil der bundesrepublikanischen Gesellschaft zu feiern, der sich christlich definiert. Ebenso wichtig ist die Erinnerung, dass im Kernland der Reformation das Judentum weitgehend vernichtet wurde und nur wenige Christenmenschen aus christlichen Motiven aktiv Widerstand dagegen leisteten. Sie führt dazu, beim Reformationsjubiläum 2017 besonders die Äußerungen des sechzehnten Jahrhunderts über das Judentum kritisch zu mustern und im Lichte gegenwärtiger Erkenntnisse zur Erneuerung des Verhältnisses beider Geschwisterreligionen selbstkritisch zu korrigieren. Auch die frühneuzeitlichen Äußerungen über den Islam, der vor allem im Zusammenhang der »Türkengefahr« an den Reichsgrenzen aus Angst um den Bestand der abendländischen Christenheit thematisiert wurde, müssen kritisch betrachtet werden, ohne dass das besondere Verhältnis zwischen Judentum und Christentum dadurch tangiert wird. Beide kritische Überprüfungen reformatorischer Sichtweisen sind eine unabdingbare Voraussetzung dafür, das Jubiläum als Erinnerung an eine zentrale Voraussetzung europäischer Freiheitsgeschichte über den Kreis der Kirchen hinaus zu feiern.
Bei aller notwendigen Kontextualisierung eines Reformationsjubiläums 2017 muss auch im Blick sein, dass an die Reformation nur richtig erinnert ist, wenn im Sinne der sich stets für die göttliche Reformation offen haltenden Kirche (»ecclesia semper reformanda«) gefeiert wird. Das bedeutet, dass die gegenwärtigen Bemühungen um eine Reform der Organisationsgestalt der evangelischen Kirchen in Deutschland im Idealfall durch die Erinnerung an die Reformation des sechzehnten Jahrhunderts an theologischem Tiefgang gewinnen, aber auch an institutioneller Kühnheit zunehmen. Evangelische Kirche kann im gegenwärtigen Reformprozess »Kirche der Freiheit im einundzwanzigsten Jahrhundert« nur sein, wenn sie »Freiheit« als »Verheißung des Projektes Moderne« von den biblischen Wurzeln dieses Begriffs her begreift und mit der Reformation als von Gott geschenkte Freiheit interpretiert. Sie befreit von der Selbstbezogenheit zum Engagement für die Nächsten und macht das Gemeinwesen frei (Wolfgang Huber).
1.1 Das zentrale Thema der Reformation damals und heute: Rechtfertigung
Wie kann man das zentrale Thema der Reformation, die Rechtfertigungslehre, heute verständlich zur Sprache bringen? Luther selbst hat in einem oft herangezogenen späten Selbstzeugnis seine theologischen Einsichten als Antwort auf eine existenzielle Frage dargestellt, die berühmte Frage nach dem »gnädigen Gott« [4]. Mit einer solchen Sichtweise wird man in die Lebenswirklichkeit an der Wende des späten Mittelalters zur frühen Neuzeit versetzt. Die Frage gehört in den Kontext einer flächendeckend von Institution, Theologie und Frömmigkeit einer vorreformatorischen Kirche geprägten Welt, in der Gott als Gerichtsherr über das Leben von Menschen urteilt, Sünde und Schuld straft. Diese Frage lautet: Mit welchen Gaben kann der Mensch seine Schuld vor Gott bezahlen? Wie kann er so leben, dass er der Strafe für nicht bezahlte Sünde und Schuld entgeht? Die plastische Sprache des Mittelalters machte Hölle und Fegefeuer als einem zeitlich befristeten Bestrafungsort in den Predigten, aber auch in der künstlerischen Ausstattung von Kirchen nahezu allgegenwärtig. Man wird nicht sagen können, dass alle Christenmenschen des Mittelalters von Höllenangst existenziell niedergeschlagen waren. Aber die Vorstellung, dass Gott alle Menschen zur Rechenschaft zieht, bestimmte auch die, die fröhlichen Herzens beispielsweise nach Stiftung einer Kerze in einer Kirche ihr christliches Leben lebten.
Martin Luther hat sein Leben in weitgehend späten Rückblicken als Teil einer religiösen Leistungsgesellschaft gedeutet, in der durch eine besondere Intensität religiöser Leistung das Anrecht auf ein gnädiges göttliches Urteil im Endgericht verstärkt werden sollte. Aus seiner Korrespondenz mit seinem Beichtvater, Johann von Staupitz (1465 – 1524), wissen wir, dass Luther als Mönch in Erfurt so viele Sünden bei sich aufzuspüren suchte und beichtete, dass es diesem Beichtvater zur Last wurde und er bezweifelte, dass es sich wirklich um Sünden handeln würde. Solche Erfahrungen machen heute nur noch Menschen in bestimmten religiösen Milieus, sie sind kein für heutige Mehrheitsfrömmigkeit charakteristisches Verhalten. Uns ist auch das übersteigerte spätmittelalterliche und auch in der reformatorischen Bewegung meistens beibehaltene Bild von Gott als einem Gerichtsherrn, der wie ein absolutistischer Monarch unumschränkt herrscht, tief problematisch geworden. Es entspricht in seiner Einseitigkeit weder dem, was Jesus von Nazareth über seinen Vater lehrt, noch dem, was viele Passagen des Alten Testaments über den Gott Israels verkünden.
Bedeutsam bis heute ist aber, dass Martin Luther sehr selbstkritisch im Blick auf seinen eigenen Lebensweg formuliert hat, dass sein Ringen um das Heil letzten Endes von purem Egoismus geprägt war. Er erkannte nämlich, dass es ihm insbesondere beim Beichten nicht um Gott, sondern um ihn selbst und seine persönliche Rettung ging. Und er nahm wahr, dass er mit seiner Vorstellung, eine vor Gottes Richterstuhl akzeptable religiöse Leistung erbringen zu können, sich selbst Gott als eine gleichwertige Größe gegenüberstellte – gerade eben so, als ob vor einem imaginären Dritten zwei auf derselben Stufe stehende Parteien über ihre Ansprüche gegeneinander verhandeln würden. Als Mönch in der Tradition des spätantiken Kirchenvaters Augustinus wusste Luther aber, dass der Mensch lieber selbst Gott sein will, als zu erkennen, wie wenig perfekt er durch sein Leben stolpert. Daher war ihm bald klar, dass er niemals ein perfektes Leben ohne jede Übertretung von Gottes Geboten in Gedanken, Worten oder Werken führen könnte. Luther hat in der Vorrede zur lateinischen Gesamtausgabe seiner Schriften 1545 zwar nicht unbedingt einen akkuraten autobiographischen Bericht über seine Entwicklung gegeben, aber eine eindrucksvolle theologische Deutung dessen hinterlassen, was ihn zu diesem Zeitpunkt theologisch bewegte. Hiernach ist er, als er seine Suche nach angemessener religiöser Leistung bewusst wahrnahm, in existenzielle Verzweiflung geraten. Die Lektüre biblischer Schriften aber, insbesondere von Briefen des Apostels Paulus, habe ihm den Ausweg aus dieser Sackgasse eröffnet. Zentral wurde für ihn ein Vers aus dem Brief des Apostels Paulus an die Römer: »Die Gerechtigkeit Gottes wird in ihm (d.h. im Evangelium) offenbart« (Römer 1,17). Luther beschreibt in jener Vorrede, wie er entdeckte, dass es nicht die menschliche Leistung ist, die vor Gott einen Anspruch auf Heil erwirtschaftet. Vielmehr wendet sich Gott den Menschen aus Gnade zu: »So halten wir nun dafür, dass der Mensch gerecht wird ohne des Gesetzes Werke, allein durch den Glauben« (Römer 3,28).
Was das bedeutet, können wir noch heute anhand der Redewendung »Gnade vor Recht« verstehen. Ein Mensch, der nach Recht und Gesetz zu verurteilen ist, darf doch auf Gnade oder auch Begnadigung hoffen, beispielsweise, wenn der Bundespräsident und die entsprechend Befugten in den Bundesländern das Recht der Begnadigung ausüben und eine Strafe vorzeitig erlassen. Solche Formen der Vergebung »allein aus Gnaden ohne des Gesetzes Werke« kennen wir auch heute sehr wohl noch, selbst wenn sie in unserem Rechtssystem anachronistisch zu wirken scheinen. Für Martin Luther war die entscheidende Erkenntnis, dass durch Jesus Christus diese Gnade allen, die an ihn glauben, zugänglich wird. Gerade wenn der Mensch begreift, dass er selbst nicht in der Lage ist, ein vollkommenes Leben nach den Geboten Gottes zu führen, kann er ganz auf Jesus Christus vertrauen. Diese Erfahrung nennt Luther »Rechtfertigung allein aus Glauben«. Das Evangelium besteht darin, dass der Mensch im Vertrauen auf Jesus Christus bereits gerechtfertigt ist. Luther beschreibt diesen Sachverhalt immer wieder als tröstliche, von Herzen fröhlich machende Erfahrung der Befreiung aus der Angst vor Fegefeuer und Hölle. Und aus dieser Freiheit heraus wird der Mensch nun frei zu tun, was er kann, um so zu leben, wie es Gottes Gebote vorgeben. Dabei weiß er wohl, dass er daran immer wieder scheitern wird.
Diese theologische Einsicht ist nicht die einzige, in der Luther beschrieben hat, was ihn zum »Reformator« gemacht hat. Allen diesen Selbstzeugnissen ist aber gleich, dass – wie bei Luthers Ordensheiligem Augustinus – biblische Texte aus einer tiefen existenziellen Verzweiflung retten und Gewissheit über das Geschenk göttlicher Gnade vermitteln, welche die »ganze Gesinnung verändert«.
Was kann das für Menschen des einundzwanzigsten Jahrhunderts bedeuten, die nicht so sehr von Ängsten vor einer Hölle nach dem Tode geprägt sind, sondern eher die Hölle auf Erden fürchten, die Menschen nur allzu häufig füreinander sind (Jean-Paul Sartre)? Um die Erfahrung der Rechtfertigung innerhalb der Kirchen neu zu plausibilisieren, kann man sich mit vier gegenwärtig häufiger verwendeten Begriffen der Bedeutung von Luthers Rechtfertigungslehre annähern, den Begriffen »Liebe«, »Anerkennung und Würdigung«, »Vergebung« und »Freiheit«:
Ein erster Begriff ist Liebe. Geliebt zu werden ist eine wunderbare Erfahrung. Wenn es gutgeht, werden wir von anderen Menschen trotz eigener Schwächen geliebt, obwohl wir Fehler machen. Dieses Strahlen der Liebe, scheinbar grundlos, aber doch zuverlässig, vertrauensvoll, bringt jedem, der es sieht, ein Lächeln ins Gesicht. Wir verstehen es nicht, aber es trägt uns, macht uns glücklich. Ganz ähnlich erfährt das ja auch ein Kind. Der Schriftsteller Martin Brussig sagte einmal, überwältigt von der Erfahrung der Gefühle für seinen kleinen Sohn, er liebe ihn so sehr, dass er ihn auch lieben würde, wenn er ein Schwerverbrecher werden würde. In diesem Sinne bezeichnen sich Christenmenschen oft als »Kinder Gottes«: Wenn schon die Liebe der Mutter oder des Vaters auch Tiefpunkte der Beziehung oder des Fehlverhaltens überdauert, so bleibt Gottes Liebe zu den Menschen erst recht bestehen. Wenn wir uns vorstellen, dass Gott leidenschaftlich liebt, obwohl Menschen so viele Schwächen und Fehler haben, löst das mehr als ein kurzes Lächeln aus. Es führt zu Lebensfreude, Glück und einer Haltung der Dankbarkeit. Dafür kann man Gott loben und danken, kann die Freude mit anderen teilen – deshalb feiern Menschen auch miteinander Gottesdienst, um Lob und Dank gemeinsam vor Gott zu tragen.
Zwei weitere Begriffe, die Luthers Erfahrung übersetzen können, sind Anerkennung und Würdigung: Von anderen unmittelbar als Mensch anerkannt und respektiert zu werden, ist jedem und jeder ein existenzielles Bedürfnis. Diese zwischenmenschliche Erfahrung von Anerkennung ist allerdings selten, obwohl Menschen für sie nichts tun müssen und sie unverdient erhalten – vielleicht ist sie aber gerade auch deswegen selten. Wo das trotzdem geschieht, entsteht eine tiefe Beziehung. Erfährt der Mensch Anerkennung durch Gott und wird ihm die Nachricht von dieser Anerkennung weitergesagt, kann das daher zu einer existenziell bewegenden Erkenntnis werden: Ich bin anerkannt, auch wenn ich es nicht verdient habe. Einfach so. Geschenkt! Theologisch gesprochen: aus Gnade. »Weil Gott dich ansieht, bist du eine angesehene Person« – mit diesem Wortspiel wird die Wirkung der Rechtfertigung heute gelegentlich beschrieben. Die Antwort des Menschen auf diese Anerkennung ist, dass er sich Gott anvertraut, glaubt. Dieser zweite Versuch der Übersetzung von Luthers Erfahrung der Rechtfertigung kann auch mit Hilfe des Begriffs Würdigung erfolgen. »Würdigung« und »Anerkennung« sind zwei Begriffe, deren sachlicher Gehalt weitgehend identisch ist, obwohl sie in der Alltagssprache gern unterschieden werden und in unterschiedlichen Zusammenhängen verwendet werden. »Niemand würdigt, was ich leiste!« – Dieser Satz beschreibt eine alltägliche Erfahrung. Aber für viele Menschen ist auch die gegenteilige Erfahrung Teil ihres Alltags: »In Würdigung Ihrer Verdienste verleihen wir Ihnen ...« Gewürdigt werden heißt, erleben zu dürfen, dass einem Menschen von anderen Respekt zugesprochen wird. Unter Menschen wird Würdigung wohl nie ohne eine Vorleistung erfolgen. Wenn Gott aber den Menschen würdigt, ohne Vorbedingungen und unverdient, dann zeigt das Gottes Haltung zu seinem Geschöpf. Ausdruck dieser Würdigung Gottes ist die unantastbare Würde, die auch das Grundgesetz im Ersten Artikel für den Menschen im weltanschaulich neutralen Staat festhält. Dies wird gegen die Erfahrung festgehalten, dass Würde immer wieder missachtet wird, durch Gewalt, Zurücksetzung, Enttäuschung, Benachteiligung oder Ungerechtigkeit. Gottes Zusage dagegen ist unverbrüchlich.
Eine dritte Annäherung an den klassischen Begriff der Rechtfertigung mit einem gegenwärtig häufig verwendeten Begriff ist mit dem Wort Vergebung möglich. Wenn zwei Menschen sich gestritten haben, versöhnen sie sich gern mit dem Satz: »Vergeben und vergessen.« Auf diese Weise wird auch in der Alltagssprache deutlich, dass ein schuldhaftes Verhalten zwischen den beiden stand und diese Schuld nun nicht mehr besteht oder jedenfalls die Menschen nicht mehr trennt. An der alltagssprachlichen Verwendung des Begriffs »Vergebung« wird deutlich, dass auch die ein Bewusstsein für Schuld haben, die dafür ein solches Wort nicht verwenden. Nach wie vor empfinden viele ein existenzielles Bedürfnis nach Vergebung, auch dann, wenn sie es nicht zur Sprache bringen. Inbesondere die Generation, die noch den Zweiten Weltkrieg erlebt hat, weiß außerdem aus leidvoller Erfahrung, dass es Schuld gibt, die von Menschen kaum oder gar nicht mehr vergeben werden kann. Gott vergibt auch Schuld, die Menschen nicht vergeben können oder wollen. Er vergibt nicht, indem er vergisst und zur Tagesordnung übergeht, als ob nichts geschehen sei. Er vergibt, indem er die, die ein Gefühl ihrer Schuld zur Sprache bringen, als gefallene Menschen doch liebt und in seiner Nähe haben will. Vergebung bedeutet, dass die Schuld, die zwischen Menschen und zwischen Mensch und Gott steht, gleichsam fortgenommen und beiseitegelegt wird, aber nicht vergessen ist. Sie ist vergebene Schuld.
Ein vierter Versuch, die Erfahrungen der Rechtfertigung für die Gegenwart zu übersetzen, geht bereits auf Texte aus der Reformationszeit zurück: Weil Rechtfertigung Menschen befreit, kann die Rechtfertigung mit dem StichwortFreiheit erläutert werden. In einer Zeit, da mindestens hierzulande die Erfahrung politischer Freiheit quasi als selbstverständlicher Besitz erlebt wird, empfinden viele Menschen den dringenden Wunsch nach Freiheit von ökonomischen und gesellschaftlichen Zwängen. Zugleich wird in vielen anderen Weltgegenden noch für jene elementare politische Freiheit gekämpft, die in Deutschland durch die Revolutionen und Umbrüche von 1848, 1918, 1945 und 1989 unter großen Mühen erreicht wurde. Alle wollen frei sein, und doch erleben die meisten Menschen Enttäuschungen bei ihrem Verlangen, frei zu werden, und stoßen an schmerzliche Grenzen. Umso kostbarer sind die Erfahrungen, in denen Freiheit geschenkt wird – beispielsweise durch einen großzügigen Menschen, der mir Freiheit von einer Verpflichtung, Freiheit von einer Schuld oder auch Freiheit von eigenen Beschränkungen schenken kann. Wird mir so Freiheit geschenkt, wird unter Umständen Leben in ganz anderer Weise möglich. Rechtfertigung bedeutet eine Gabe umfassender Freiheit, die einen Menschen von der Bezogenheit auf sich selbst erlöst: Ich bin nicht mehr auf mich selbst bezogen, sondern frei für die Nächsten und die Gemeinschaft. Dieses Verständnis von Freiheit in Bezogenheit auf meinen »Nächsten« ist nicht mit einem landläufigen Missverständnis von Freiheit als Ende jeglicher Bindungen zur Deckung zu bringen, aber vom neuzeitlichen Freiheitsverständnis auch nicht radikal geschieden. Ähnlich wie auch bei den anderen drei Begriffen lassen sich Aspekte der reformatorischen Rechtfertigungslehre mit diesem Begriff gut auch bei Menschen zur Sprache bringen, die ein distanziertes Verhältnis zum Christentum haben.
Allen diesen vier Annäherungen an Luthers Rechtfertigungslehre ist außerdem eines gemeinsam: Der Mensch wird nicht bemessen nach dem, was er nach außen darstellt oder auch wie er persönlich dasteht, sondern er wird von Gott geliebt, anerkannt, gewürdigt, ganz unabhängig von seinem Bildungsstand, Einkommen, sozialen Hintergrund und gesellschaftlichen Ansehen. Diese Anerkennung oder Würdigung macht ihn wahrhaft frei. Schuld belastet ihn nicht mehr, ist aber auch nicht einfach vergessen, sondern ist als bekannte Schuld vergeben und dadurch überwunden. Solche Grundeinsichten können auch Menschen ohne christlichen Hintergrund verständlich gemacht werden, weil sie unmittelbare gesellschaftliche, kulturelle und politische Konsequenzen haben. Die ursprüngliche Zuwendung Gottes ist nicht abhängig von dem, was der Mensch tut oder denkt. Sie ermöglicht in einer Gesellschaft ehrlichen Umgang mit Schuld und damit ein menschenwürdiges Zusammenleben.
1.2 Die Reformation – eine offene Lerngeschichte
In der durch ökonomische Rationalitäten geprägten Welt der Gegenwart lässt sich die befreiende Erfahrung Luthers auch mit dem uns vertrauten ökonomischen Vokabular beschreiben, das stellenweise schon die spätmittelalterliche Theologie prägte: Obwohl der Mensch unweigerlich immer wieder einmal rote Zahlen schreibt, verlangt Gott nicht, dass die Bilanz aus eigener Kraft mit schwarzen Zahlen schließt. Denn nichts, was der Mensch selbständig tut, denkt und beabsichtigt, kann die Bilanz eines gesamten Lebens in schwarze Zahlen bringen. Denn immer wieder wird auch das Beste ganz selbstbezogen deswegen getan oder gewollt, weil es primär dem eigenen Nutzen dient. Positiv wird die Gesamtbilanz, weil sich der Mensch als Kind Gottes mit seiner Taufe im Bereich des göttlichen Segens, der göttlichen heilsamen Zuwendung, befindet und daraus »gar nicht mehr herausfallen kann« (Augustinus). Die Antwort des Menschen auf diese befreiende Erfahrung ist der Glaube. Aber auch diese Antwort ist Geschenk des Heiligen Geistes.
Reformation ist kein abgeschlossenes Geschehen, sondern ein Prozess der Erneuerung, der sich fortsetzt. Daher existiert seit dem sechzehnten Jahrhundert eine Fülle von theologischen Einsichten und institutionellen Gestalten, die gleichsam im Geiste der Reformation später zustande gekommen sind. Man nennt dies die »Lerngeschichte« der Reformation. Es war und ist möglich, immer wieder auch neue Einsichten in die alten reformatorischen Lehren zu gewinnen, weil einzelne Reformatoren so großes Gewicht auf das legten, was wir heute »Bildung« nennen: Philipp Melanchthon war nicht nur akademischer Lehrer aus Leidenschaft, sondern wird auch aufgrund seiner Bemühungen um eine Universitäts- und Schulreform als »Lehrer der Deutschen« bezeichnet. Ulrich Zwingli lernte nicht nur Griechisch, um das Neue Testament im von Erasmus von Rotterdam edierten Urtext lesen zu können; er besaß die für damals sehr große Zahl von hundert Büchern und gründete in seiner Glarner Pfarrei 1510 eine Lateinschule. Insbesondere der reformierte Zweig der reformatorischen Kirchen hat eine ganze Reihe von Institutionen gemeindlicher und kirchlicher Bildung geschaffen wie beispielsweise die Zürcher Prophezey oder das Genfer Kolleg.
Weil die reformatorische Botschaft so eng mit existenziellen Erfahrungen und Anliegen der Menschen verbunden ist, hat sich Bildung in reformatorischer Tradition natürlich nie darin erschöpft, dass junge Menschen lediglich mit biblischen Texten und ihrer reformatorischen Auslegung vertraut gemacht werden. Vielmehr wurde und wird in solchen Zusammenhängen Reformation auf die Gegenwart hin interpretiert. Dabei entstanden die neuen Einsichten, die die »Lerngeschichte« der Reformation seit dem sechzehnten Jahrhundert ausmachen, und entstehen auch weiterhin neue Einsichten. Das bedeutet aber, dass in einer reformatorisch geprägten Kirche Bildung immer einen besonderen Stellenwert haben wird, ohne dass deshalb kirchliche Veranstaltungen als universitäre Seminare angelegt werden müssen. Außerdem werden sich reformatorische Kirchen immer für Bildung in der Gesellschaft, in der sie leben, einsetzen.
Bildung und ein dadurch beförderter »denkender Glaube« (Carl Heinz Ratschow) war und bleibt ein reformatorisches Anliegen; Fundamentalismus jedweder Prägung ist diesem Sachanliegen zutiefst fremd. Der in der Königsberger Aufklärung des achtzehnten Jahrhunderts wiederholte Imperativ des antiken Dichters Horaz, Sapere aude, »wage zu denken«, beschreibt ein genuin protestantisches Anliegen: Die Reformation will zu gebildetem Glauben führen. Sie intendiert einen Glauben, der verstehen möchte und nachfragen darf. Das betrifft auch die Urkunde des christlichen Glaubens, die Bibel. Die Reformation hat deshalb dazu beigetragen, die neuzeitliche Tendenz, die Rechte des Individuums zu stärken, auch in der Kirche zu beheimaten. Damit ist sie ein Teil der neuzeitlichen Freiheitsgeschichte.
Das zeigt sich beispielsweise an der Transformation des reformatorischen Schriftprinzips in der Neuzeit: Nachdem schon im sechzehnten Jahrhundert in den Netzwerken der reformatorisch gesinnten Theologen in Nuancen unterschiedliche Auslegungen ein und derselben Bibelstelle vertreten wurden, führt der heutige Pluralismus der Textauslegungsmethoden zu einer größeren Vielfalt an Verständnissen einzelner biblischer Stellen und setzt folglich eine größere Bedeutung desjenigen voraus, der die Bibel auslegt: Wer biblische Texte auslegt, kann zwischen einer legitimen Vielfalt von Methoden der Auslegung wählen und ist nicht mehr an die in der frühen Neuzeit begründete und im neunzehnten Jahrhundert entwickelte Form der historisch-philologischen Textwissenschaft gebunden.
Der gelegentlich erhobene Vorwurf, die ganze reformatorische Theologie und Kirche sei ein Produkt einer im Kern verfehlten neuzeitlichen Individualisierungstendenz, trifft nicht zu: Auch wenn die Kirche nach reformatorischer Theologie nicht Heilsvermittlerin ist, bleibt das Christentum ohne Gemeinschaft undenkbar. Die zentralen theologischen Entscheidungen werden in der evangelischen Kirche nicht auf der Basis eines rein mathematischen Summierens von Individualitäten gefällt, sondern aufgrund eines sogenannten großen Konsenses (magnus consensus), weil mit dem reformatorischen Schriftprinzip darauf vertraut wird, dass Gott durch den Heiligen Geist die richtige Auslegung seines biblischen Wortes seiner Kirche eingibt – mithin die Kirche zur harmonischen Einheit ihrer unterschiedlichen Stimmen leitet und nicht in die disharmonische Vielstimmigkeit von Individuen.
Die reformatorische »Lerngeschichte« lässt sich an vier Beispielen illustrieren, die zudem deutlich machen, dass sie in vielen Fällen unabgeschlossen ist:
- Reformatorische Kirche und Theologie haben gelernt, die Herausforderungen der Konfessionsspaltungen zu überwinden und ökumenisch zu denken: Die reformatorische Bewegung zerbrach in unterschiedliche Konfessionskirchen. Zugleich brach die institutionelle Einheit der bereits pluralen abendländischen Christenheit endgültig auseinander, ohne dass eine der Seiten dafür allein verantwortlich gemacht werden kann. Die Geschichte der Konfessionskriege, die das Gesicht Europas in der frühen Neuzeit prägten, hat gezeigt, dass eine Versöhnung unterschiedlicher religiöser Standpunkte nicht nur notwendig, sondern auch möglich ist. Das sechzehnte Jahrhundert kennt vor allem Beispiele des Scheiterns: Beim Marburger Religionsgespräch 1529 misslang die abschließende Verständigung der Schweizer Reformation um Zwingli und der mitteldeutschen Reformation um Luther über die Präsenz Christi im Abendmahl, obwohl viele Gemeinsamkeiten festgehalten werden konnten. Eine vollständige, Kircheneinheit bewahrende Übereinstimmung schien auch zwischen den Erben Luthers und Calvins später nicht möglich, obwohl sich die Ansichten beider näher standen als die Zwinglis und Luthers. Erst 1973 erklärten die reformatorischen Kirchen in Europa in der »Leuenberger Konkordie« auf der Basis eines gemeinsamen Verständnisses des Evangeliums, dass sie einander gegenseitig als Kirchen anerkennen und auch Abendmahl miteinander feiern können, selbst wenn Differenzen im theologischen Verständnis bleiben. Die Überwindung von Spaltungen bleibt aber auch nach dieser Einigung reformatorische Aufgabe. Sie besteht inzwischen vor allem im Blick auf die römisch-katholische Kirche, mit der die Rechtfertigungslehre zwar gemeinsam formuliert werden kann, aber kirchentrennende Differenzen über das Verständnis des Amtes und der Sakramente bleiben. Sie besteht aber auch mit Blick auf die Mennoniten, die die geistlichen Erben der von der Reformation in Wort und Tat verfolgten sogenannten Täuferbewegung sind; im Jahre 2010 wurde ein gemeinsamer Bußgottesdienst gefeiert. Natürlich zählen auch die verschiedenen ökumenischen Dialoge mit den anglikanischen und orthodoxen Kirchen zu dieser Aufgabe.
- Reformatorische Kirchen und Theologie müssen noch weiter lernen, im Geiste der Reformation mit der Herausforderung der Entchristlichung und dem Atheismus umzugehen: Nicht erst unsere Zeit ist ungeachtet aller Zunahme an Formen neuer, intensiver Religiosität von einer massiven Entchristianisierung bestimmt, die sich die Reformatoren nicht vorstellen konnten und die auch als »Säkularisierung« beschrieben wird. Viele Menschen leben ohne einen Gottesbezug und scheinen nichts zu vermissen. Im thüringischen Eisleben, der Geburtsstadt Martin Luthers, sind heute noch sieben Prozent der Bevölkerung Mitglied einer Kirche. In dieser Situation kann die Kirche nicht darauf warten, dass viele Menschen sonntags um zehn Uhr zu einem Gottesdienst kommen. Er ist vielen als Ritual ebenso fremd geworden wie die in diesen Gottesdiensten gesungenen Lieder, die Gebete und die biblischen Texte. Hier ist bei aller notwendigen Tradition Innovation gefragt. Was heißt es, in solcher Zeit sprachmächtig im Glauben zu sein wie Luther? Welche Strukturen muss eine Kirche haben, die das befreiende Evangelium zu den Menschen bringen will? Eine ganze Reihe von Antworten auf solche Fragen wurde in den letzten Jahren schon formuliert und erprobt: Beispielsweise werden Gottesdienste in »leichter Sprache« angeboten und auch an anderen Stellen die traditionelle »Komm-Struktur« durch eine »Geh-Struktur« ersetzt, insbesondere im Osten Deutschlands sind nach der Wende viele neue evangelische Kindertagesstätten und Schulen verschiedener Typen gegründet worden und neue Medien werden selbstverständlich für die Verbreitung des Evangeliums genutzt. Allerdings muss dabei immer deutlich sein, dass – wie Luther einmal ebenso schön wie nüchtern sagt – der Geist wie ein »fahrender Platzregen« dort wirkt, wo er will, und Strukturen allein nichts garantieren.
- Reformatorische Kirche und Theologie müssen noch weiter lernen, Geschlechtergerechtigkeit als genuin evangeliumsgemäßen Wert zu verstehen und deswegen Geschlechterhierarchien entschlossen abzubauen: Den Ausgang hat diese Entwicklung, historisch betrachtet, von einer Neubesinnung auf das kirchliche Amt genommen und der Frage, ob auch Frauen als Pfarrerinnen amtieren dürfen. Für das reformatorische Amtsverständnis ist von jeher Luthers Erkenntnis entscheidend gewesen: »Was aus der Taufe gekrochen ist, kann sich rühmen, dass es Priester, Bischof, Papst ist.« [5]. Seine Erkenntnis, dass es keinen mit einem unzerstörbaren sakramentalen Charakter versehenen Stand eines Weihepriestertums in der Kirche geben darf, das den Laien gegenübersteht, um ihnen Christus zu repräsentieren, muss interpretiert werden vor dem Hintergrund paulinischer Theologie: »Hier ist nicht Jude noch Grieche, hier ist nicht Sklave noch Freier, hier ist nicht Mann noch Frau; denn ihr seid allesamt einer in Christus Jesus« (Galater 3,28). Aber erst Jahrhunderte später, nach den Erfahrungen des zwanzigsten Jahrhunderts und seiner Emanzipationsbewegungen, hat das zur Einsicht geführt, dass auch Frauen alle Ämter in der Kirche übernehmen können. Die Frauenordination ist ebenso eine späte Errungenschaft aus reformatorischen Einsichten wie die gleichberechtigte Gemeinschaft von Ordinierten und Nichtordinierten auf allen Leitungsebenen.
- Reformatorische Kirche und Theologie müssen erst noch lernen, den Dialog der Religionen als genuine Aufgabe reformatorischer Theologie zu entdecken: Nachdem aufgrund des Verbrechens der Judenvernichtung im zwanzigsten Jahrhundert endlich eine Neubesinnung auf das Verhältnis zum Judentum als der Wurzel, die das christliche Gottesverhältnis bleibend trägt, eingeleitet wurde, bleibt die Aufgabe kommender Jahre der Religionsdialog vor allem mit dem Islam, der in der Reformationszeit aus naheliegenden Gründen mit den gegen das Reich anstürmenden Türken identifiziert und daher kaum präzise wahrgenommen wurde. Wie das klassische reformatorische Prinzip solus Christus, »allein Christus«, so zur Geltung gebracht werden kann, dass friedliches Miteinander möglich wird, ist freilich noch recht umstritten. Dabei darf die besondere Bedeutung des Judentums im allgemeinen Religionsdialog keinesfalls eingeebnet werden.
An diesen vier Beispielen wird deutlich: Reformation geht weiter, ist kein abgeschlossenes Ereignis. Sie ist als eine Bewegung, die von Gott ausgeht und durch biblische Texte vermittelt wird, letztlich unverfügbar und unkalkulierbar. Deshalb ist ein Grundverständnis der Sachanliegen der Reformation des sechzehnten Jahrhunderts für jeden Erneuerungsprozess der Kirche ebenso wichtig wie eine beständige Hinwendung zu den biblischen Texten.