Zur Achtung vor dem Leben - Maßstäbe für Gentechnik und Fortpflanzungsmedizin

Maßstäbe für Gentechnik und Fortpflanzungsmedizin. Kundgebung der Synode der Evangelischen Kirche in Deutschland, EKD-Texte 20, 1987

Zur Achtung vor dem Leben - Maßstäbe für Gentechnik und Fortpflanzungsmedizin

Kundgebung der Synode der EKD, 1987, Berlin

Vorwort

Die Synode der Evangelischen Kirche in Deutschland hat auf ihrer Tagung vom 1. bis 6. November 1987 in Berlin neuere Entwicklungen auf den Gebieten der Gentechnik und der Fortpflanzungsmedizin zu ihrem Schwerpunktthema gemacht. Sie wählte dafür die Überschrift: "'Ich glaube, daß mich Gott geschaffen hat samt allen Kreaturen' - Maßstäbe für Gentechnik und Fortpflanzungsmedizin". Bibelarbeiten über Psalm 8 (von Prof. Dr. Klaus Koch, Hamburg) und 2. Korinther 12, 1-10 (von Dr. Christel Meyers-Herwartz, Bonn) sowie Referate über "Ethische Probleme in der humangenetischen Beratung" (von Prof. Dr. Traute Schroeder-Kurth, Heidelberg) und "Menschenwürde als Fluchtpunkt ethischer Entscheidungen in der Reproduktionsmedizin und Gentechnologie" (von Prof. Dr. Dietrich Ritschl, Heidelberg) führten während der Synodaltagung in die Arbeit am Thema ein. Zum Abschluß ihrer Beratungen verabschiedete die Synode am 6. November eine Kundgebung "zur Achtung vor dem Leben".
Diese Kundgebung wird im vorliegenden Heft der Öffentlichkeit zugänglich gemacht. Auf den Gebieten der Gentechnik und der modernen Fortpflanzungsmedizin stehen grundlegende Werte auf dem Spiel. Der Umgang des Menschen mit seinen nicht-menschlichen Mitgeschöpfen muß neu überdacht werden. Die Möglichkeiten des Menschen bedürfen einer Begrenzung aus ethischer Einsicht. Die Kundgebung dient zunächst den Gliedern unserer Kirche als Hilfe für die ethische Urteilsbildung. Sie ist aber darüber hinaus ein Gesprächsangebot für einen größeren Leserkreis gerade auch unter Ärzten, Wissenschaftlern oder Politikern. Weitere Texte der Synodaltagung werden vom Gütersloher Verlagshaus Gerd Mohn veröffentlicht (GTB Siebenstern 581)
Die Kundgebung der Synode nimmt ausdrücklich auf die im November 1985 vom Rat der Evangelischen Kirche in Deutschland herausgegebene Handreichung "Von der Würde werdenden Lebens" Bezug. Sie ist darum in diesem Heft als Anhang mit abgedruckt.

Hannover, im November 1987

Kirchenamt der EKD

 

KUNDGEBUNG
der 7. Synode der Evangelischen Kirche in Deutschland
auf ihrer 4. Tagung
zur Achtung vor dem Leben

I.


Die Synode der Evangelischen Kirche in Deutschland hat auf ihrer Tagung vom 1. bis 6. November 1987 in Berlin neuere Entwicklungen auf den Gebieten der Gentechnik und der Fortpflanzungsmedizin als ihr Schwerpunktthema gewählt. Diese Entwicklungen wecken Hoffnungen und Ängste. Viele sehen weitreichende Möglichkeiten zur Erfüllung eines Kindeswunsches, bei der Behandlung von Krankheiten, zur Verbesserung der Nahrungsmittelerzeugung oder im Umweltschutz. Andere werten solche Erwartungen als einen Fortschrittsglauben, den sie nicht länger teilen können; sie ziehen in Zweifel, daß die Gefahrenpotentiale bereits ausreichend erkannt sind, und fordern, daß - auch durch den Gesetzgeber - der Forschung und ihrer technischen Anwendung klare Grenzen gezogen werden. Die Kompliziertheit der Sachfragen führt aber weithin auch zu einer großen Unsicherheit, wie die Bedeutung der sich abzeichnenden Entwicklungen und die Größe des Risikos wirklich einzuschätzen seien.
Angesichts solcher Hoffnungen, Ängste und Unsicherheiten fragen Christen nach einer Orientierung aus ihrem Glauben an Gott, der das Leben liebt und von uns die Achtung vor dem Leben fordert:

"Du liebst alles, was ist, und verabscheust nichts von dem, was du gemacht hast; denn du hast ja nichts bereitet, gegen das du Haß gehabt hättest. Wie könnte etwas bleiben, was du nicht wolltest? Oder wie könnte erhalten werden, was du nicht gerufen hättest? Du schonst aber alles; denn es gehört dir, Herr, du Freund des Lebens, und dein unvergänglicher Geist ist in allem" (Weisheit Salomos 11, 24 - 12, 1).

Die Synode hat sich nur mit einigen wichtigen Aspekten des Problemfeldes befaßt. Sie ist sich darin einig, daß der Glaube an Gott den Schöpfer, den Erlöser und den Vollender die Kirche und ihre Glieder dazu verpflichtet, öffentlich zur Sache zu sprechen und die Gewissen zu schärfen. Die Heilige Schrift und der Glaube der Christen geben Grundlagen für ethische Schlußfolgerungen, selbst wenn sich nicht für jede Einzelfrage eine Antwort unmittelbar aus ihnen ableiten läßt. Die Synode ist überzeugt, daß den Schlußfolgerungen nicht nur Christen zustimmen können. Die ethische Urteilsbildung auf den Gebieten der Gentechnik und der Fortpflanzungsmedizin ist um so dringlicher, als in der wissenschaftlich-technischen Zivilisation die Eigendynamik neuer Entwicklungen, der Machbarkeitsglaube und kommerzielle Interessen stärker sind als die Orientierung an grundlegenden Werten. In der Welt von Wissenschaft und Technik führt die Ethik oft ein Schattendasein.

II.


Bevor die Heilige Schrift vom Leben und Sterben des Menschen, von Gesundheit und Krankheit oder vom Gelingen und Mißlingen seines Lebens spricht, sagt sie, wer der Mensch ist. Er ist Teil aller Kreatur, aber zugleich als Mann und als Frau Gottes Ebenbild. Indem er sich als Gottes Gegenüber weiß, kann er Wertorientierungen begründen und Maßstäbe finden. Die Bezogenheit auf Gott findet gerade auch im Gebet ihren Ausdruck: im Lob der Schöpfung und in der Bitte um Wegweisung.
Die Synode hat das Schwerpunktthema unter die Überschrift gestellt: "Ich glaube, daß mich Gott geschaffen hat samt allen Kreaturen". Sie erinnert mit diesem Satz aus Martin Luthers Auslegung des christlichen Glaubens an den Ursprung alles Lebens in Gott, an den darin gründenden Wert alles Geschaffenen und an die ausdrückliche Zuwendung Gottes in Jesus Christus zu jedem einzelnen Menschen:

1. Alles Geschaffene kommt von Gott, lebt aus ihm und ist bestimmt zu seinem Lob. Es hat darum einen eigenen Wert und Sinn und ist nicht bloße Verfügungsmasse in der Hand des Menschen. Der Mensch schadet sich am Ende selbst, wenn er die Ehrfurcht vor der Fülle, Ordnung und Schönheit des Lebens verliert. Es gibt nicht nur Sünde in unseren mitmenschlichen Beziehungen, sondern auch Sünde gegenüber dem Lebensrecht und Eigenwert der Kreatur insgesamt.

2. Dem Menschen des wissenschaftlich-technischen Zeitalters ist seine besondere Stellung unter den Geschöpfen Gottes nachdrücklich erfahrbar geworden: "Du hast ihn wenig niedriger gemacht als Gott, mit Ehre und Herrlichkeit hast du ihn gekrönt. Du hast ihn zum Herrn gemacht Über deiner Hände Werk, alles hast du unter seine Füße getan" (Psalm 8). Weltgestaltung gehört zum Wesen und Auftrag des Menschen, auch die Entwicklung neuer medizinischer Verfahren und die Gentechnik. Der Zuwachs an Wissen und Können und die natürlichen Lebensbedingungen stehen nicht im Widerspruch zueinander, solange der Mensch den rechten Gebrauch von seinen Möglichkeiten macht. Heute handelt er mehr und mehr, bevor der rechte Gebrauch geklärt ist. Der Mensch steht in der Versuchung, die Erfolge und den Nutzen von Wissenschaft und Technik zu Lasten der übrigen Schöpfung durchzusetzen und der mitgeschöpflichen Welt ihr Daseinsrecht zu rauben.

3. Diese Entwicklung richtet sich gegen den Menschen selbst. Je höher er steigt, desto tiefer kann er fallen. Das vom Menschen in der Atomtechnik geschaffene ungeheure Vernichtungspotential findet seine Parallele in der von der Gentechnik ermöglichten enormen Fähigkeit zur Manipulation sowohl des Menschen selbst wie der übrigen Schöpfung. Der Mensch errichtet damit eine Herrschaft seiner eigenen wissenschaftlichen Möglichkeiten - schwer durchschaubar, aber von größter Tragweite auch für kommende Generationen. Damit wird Kontrolle immer schwieriger.

4. Die Würde des Menschen ergibt sich nicht nur aus seiner Sonderstellung unter den Kreaturen, sondern vor allem aus der besonderen Zuwendung der Liebe Gottes zu jedem einzelnen. Diese Einzigkeit jedes Menschen unter Gott ist seine Menschenwürde. Alles kommt letztlich und entscheidend darauf an, daß einer wahrhaft von sich sagen und bekennen kann: "Ich glaube, daß Gott mich und mein Leben will" und daß er dann auch in der Begrenzung mit anderen jedes Menschenleben als würdig und wertvoll, als unersetzbar und also als notwendig erkennt und achtet. Gott will, daß im Lebensraum, den er jedem Menschen einräumt, mit unserer Liebe seine Liebe geschieht. Eine so bestimmte Würde des Menschen ist nicht teilbar und nicht aberkennbar. Jeder Mensch, wie immer er ist, jung oder alt, gesund oder krank, schwarz oder weiß hat die gleiche Würde. Niemand hat über Wert oder Unwert eines anderen Menschenlebens zu befinden.

5. Dies gilt auch für das ungeborene menschliche Leben von seinem frühesten Entwicklungsstadium an. Gottes Liebe zu jedem einzelnen Menschenkind beginnt nicht erst mit der Geburt. Im werdenden menschlichen Leben ist mit der Vereinigung von Eizelle und Samenzelle eine künftige Person angelegt.

III.


Diese Einsichten führen im Blick auf die Fragen der Gentechnik und Fortpflanzungsmedizin zu einer Reihe von Schlußfolgerungen:

1. Die Synode erkennt und anerkennt auch in Forschung, Technik und ärztlicher Kunst gute Schöpfungsgaben Gottes. Sie erinnert aber an die Versuchung zur Hybris und die zerstörerischen Kräfte, die allem menschlichen Streben und Trachten innewohnen. Die Freiheit eines Forschers erweist sich nicht nur im Ausschöpfen seiner Möglichkeiten, sondern verwirklicht sich ebenso in der Selbstbeschränkung angesichts des Eigenwertes alles Geschaffenen und der unbedingten Würde jedes einzelnen Menschenlebens. Forschung, Technik und Medizin dürfen nicht alles tun, was ihnen an Möglichkeiten in die Hand gegeben ist. Sie bedürfen der Ethik. Ein Beitrag dazu ist die Tätigkeit von Ethikkommissionen, in denen unmittelbar Beteiligte und Nichtbeteiligte miteinander im Gespräch bleiben.

2. Die Gentechnik wird häufig als eine Schlüsseltechnologie der Zukunft bewertet. Die Synode wendet sich nicht grundsätzlich gegen das politische und wirtschaftliche Interesse, eine mögliche Wachstumsbranche zu fördern und zu entwickeln. Sie gibt jedoch zu bedenken, daß eben dieses Interesse objektiv eine Versuchung darstellt, um ökonomischer Vorteile willen ethische Gesichtspunkte zu vernachlässigen. Die Absicht, wirtschaftliches Wachstum zu sichern und neue Arbeitsplätze zu schaffen, ist für sich genommen noch nicht ethisch gut.

3. In der Anwendung der Gentechnik stecken erhebliche Gefahren. Dies gilt insbesondere für die Freisetzung von Lebewesen mit neukombinierten Eigenschaften und für die Möglichkeit des Mißbrauchs zu militärischen Zwecken. Im Unterschied zu der langsam fortschreitenden Evolution des Lebens verlaufen die durch die Gentechnik ausgelösten Veränderungen unverhältnismäßig schnell. Sie lassen schwerwiegende Rückwirkungen auf den Artenbestand, die Vielfalt des Genpools und das ökologische Gleichgewicht befürchten. Eine begleitende Risikoanalyse, die Umwelt- und Sozialverträglichkeit neuer Entwicklungen prüft, muß Transparenz für die Öffentlichkeit herstellen und mit einer wirksamen staatlichen Aufsicht verbunden sein.

4. Die Achtung vor dem Leben verlangt, daß der Eigenwert von Pflanzen und Tieren bei ihrer Nutzung durch den Menschen nicht weiter mißachtet wird. Der Mensch hat kein Recht, durch den Mißbrauch gentechnischer Möglichkeiten mit der Neukombination von Arten zu experimentieren und vorhandene Arten in ihrem Bestand zu gefährden.

5. Die Synode erinnert daran, daß der Rat der Evangelischen Kirche in Deutschland im November 1985 unter dem Titel "Von der Würde werdenden Lebens" eine Handreichung zu den Fragen der extrakorporalen Befruchtung, Fremdschwangerschaft und genetischen Beratung herausgegeben hat. Auf dieser Grundlage erklärt sie:

a) Kinder sind Gabe und Aufgabe. Sie brauchen eine behütete Kindheit. Aber es gibt keinen Anspruch auf Kinder. Wenn mit Mitteln der extrakorporalen Befruchtung ein Kindeswunsch verwirklicht werden soll, der sonst unerfüllt bliebe, ist auch zu bedenken, ob das Wohl des Kindes gesichert sein wird. Die Synode appelliert an den Gesetzgeber, auf dem Gebiet der Fortpflanzungsmedizin rechtliche Regelungen zu treffen, die das Wohl des Kindes berücksichtigen. <

b) Gewichtige Gründe sprechen gegen die extrakorporale Befruchtung. Aber die Not der ungewollten Kinderlosigkeit darf nicht gering geschätzt werden. Der Wunsch nach einem Kind rechtfertigt jedoch noch nicht jede medizinische Maßnahme. Darum rät die Synode vom Verfahren der extrakorporalen Befruchtung ab.

c) Heterologe Insemination, Samenspende und Eispende können zu Spannungen in den Beziehungen der Eltern zueinander und zum Kind führen; dadurch würde die familiäre Geborgenheit des Kindes gefährdet. Eine Verwendung von Samenzellen oder Eizellen Dritter zur Überwindung der Unfruchtbarkeit muß darum nachdrücklich abgelehnt werden.

d) Das Wohl des Kindes erfordert es im Normalfall, daß die Frau, die es aufzieht, auch seine genetische und leibliche Mutter ist. Es kann zum Schicksal werden, daß die leiblichen Eltern das Kind nicht erziehen können. Die absichtlich herbeigeführte Aufteilung der Mutterschaft zwischen der Frau, von der das Kind genetisch abstammt und die es aufziehen will, und jener, die es austrägt und zur Welt bringt, verstößt gegen das Anrecht des Kindes auf einheitliche Elternschaft. Ersatzmutterschaft - ob gegen Entgelt (Mietmutterschaft) oder als Freundes- oder Verwandtenhilfe (Leihmutterschaft) - muß gesetzlich verboten werden. Abreden dieser Art sind sittenwidrig.

e) Nach christlicher Überzeugung ist eine liebevolle Familie der beste Rahmen für das Heranwachsen von Kindern. Die Manipulation von Zeugung, Empfängnis und Schwangerschaft gefährdet Bindung und Bestand von Ehe und Familie.

f) Das Recht, sich genetisch nicht erforschen zu lassen, gehört zur Menschenwürde. Ebensowenig darf zu humangenetischer Beratung und Diagnostik verpflichtet oder genötigt werden; sie kann immer nur freiwillig sein. Die Möglichkeiten der Genomanalyse geben den gegenwärtigen Ängsten vor der Schaffung des "gläsernen Menschen" zusätzliche Nahrung. Insbesondere wo öffentliche und private Arbeitgeber oder Versicherungen das Instrument der Genomanalyse benutzen sollten, ohne daß Arbeitnehmer oder Versicherte die rechtlich garantierte Freiheit haben, sich genetisch nicht erforschen zu lassen, ergäbe sich die schwerwiegende Gefahr der Benachteiligung oder Ausgrenzung von Individuen oder Gruppen.

g) Humangenetische Beratung soll gewährleisten, daß das Lebensrecht auch eines behinderten Kindes geachtet und mit der pränatalen Diagnostik nicht automatisch die Entscheidung für einen Schwangerschaftsabbruch im Falle einer festgestellten Fehlbildung verbunden wird. Wenn feststeht, daß ein Kind mit einer Krankheit oder Fehlbildung erwartet wird, muß die Beratung verdeutlichen, daß es sich bei den beiden Alternativen, ein krankes Kind anzunehmen und auszutragen oder die Schwangerschaft abzubrechen, um einen kaum lösbaren Konflikt handelt. Es kann kein Ziel sein, Leid unbedingt zu vermeiden; Leid kann auch stärken oder ungeahnte Kräfte wecken. Zu beachten ist, daß die individuelle Entscheidung einer betroffenen Familie auch abhängig ist von der Einstellung zu Behinderten in der Gesellschaft insgesamt. Eine Gesellschaft, die Behinderte nicht integriert, verschärft den Konflikt in der humangenetischen Beratung. Die Mitarbeiter in der humangenetischen Beratung brauchen in ihrer verantwortungsvollen Aufgabe, Menschen in Krisensituationen zu begleiten, zusätzliche Angebote in der Aus-, Fort- und Weiterbildung.

h) Gen-Transfer und andere Eingriffe in menschliche Keimbahnzellen, die in Zukunft technisch möglich werden könnten, sind aus ethischen Gründen nicht vertretbar. Angesichts der gegenwärtigen Einsicht in Risiken, Voraussetzungen und Folgen solcher Eingriffe muß es als äußerst fraglich gelten, ob zu irgendeinem Zeitpunkt eine auch nur begrenzte Revision dieses Urteils möglich sein wird.

i) Gezielte Eingriffe an menschlichen Embryonen, die ihre Vernichtung in Kauf nehmen, sind ethisch nicht vertretbar. Die Synode erklärt ausdrücklich, daß die "verbrauchende" oder experimentelle Forschung an Embryonen eine wesentliche Grenze überschritten hat. Sie kann vor "verbrauchender" Forschung an sogenannten überzähligen Embryonen, der Erzeugung von Embryonen zu Forschungszwecken - und seien die Forschungsziele noch so hochrangig - sowie dem "Verbrauch" von Embryonen zur pränatalen Diagnostik nur dringend warnen und fordert entsprechende gesetzliche Regelungen.

j) Achtung vor der Würde und Individualität des Menschen müssen bei jeder Entscheidung den obersten Grundsatz bilden. Menschliches Leben darf darum nicht nach einem fremden, planenden, menschenzüchterischen Willen hergestellt werden. Klonen sowie Chimären- und Hybridbildung verletzen in tiefgehender Weise sowohl die vorgegebene Gestalt des Lebens als auch seine Unverfügbarkeit und Individualität.

6. Gerade wenn ein umfassender und uneingeschränkter Schutz für menschliche Embryonen gefordert wird, erhebt sich um so dringlicher die Frage, was daraus für das Problem des Schwangerschaftsabbruchs folgt. Die Synode sieht es als eine positive Entwicklung an, daß die aktuelle Diskussion über Gentechnik und Fortpflanzungsmedizin zu einer neuen Aufmerksamkeit und Wachsamkeit gegenüber der belastenden Praxis der Schwangerschaftsabbrüche und ihrer bedrückend hohen Zahl beigetragen hat. Der Schutz des ungebrochenen Lebens ist unteilbar. Ein Embryo ist ein menschliches Wesen mit eigener Identität und eigenem Wert. Eine Abtreibung - in welchem Stadium auch immer - ist Tötung menschlichen Lebens. Der Schutz des Embryo in vitro (außerhalb des Körpers) und der Schutz des Embryo in vivo (im Mutterleib) stehen ethisch in einem unauflöslichen Zusammenhang. Angesichts der gegenwärtigen Bemühungen um einen gesetzlichen Embryonenschutz muß das Bewußtsein in Kirche und Öffentlichkeit weiter verstärkt werden, daß es sich in den straffrei gestellten Fällen des Schwangerschaftsabbruchs nicht um eine prinzipielle Einschränkung des Schutzes für das ungeborene Leben und somit nicht um ein Recht zur Abtreibung handelt, sondern um das notwendig unvollkommene Bemühen, nicht auflösbare Konfliktsituationen zu regeln. Das weiterreichende Ziel muß es freilich sein, schon dem Vorfeld der ungewollten Schwangerschaften, vor allem der Erziehung zu verantwortlicher Partnerschaft und Sexualität, die Aufmerksamkeit zuzuwenden. Auch sollten stärker als bisher auf Gemeinde- und Nachbarschaftsebene wirksame Hilfen für Menschen angeboten werden, für die das Ja zum Kind durch viele Umstände erschwert ist. Auf diesem Feld steht die Glaubwürdigkeit der Kirche auf dem Spiel.

IV.


Die Synode erinnert alle Christen, die als Eltern, Ärzte, Wissenschaftler oder Politiker Entscheidungen über das Leben zu treffen haben, an die Kraft des Gebets: Laßt uns Gott bitten um Orientierung für unseren Weg, um Vertrauen in die Treue Gottes zu seiner Schöpfung und um die Gewißheit der Vergebung, wo wir versagen und schuldig werden. Wir alle stehen unter der Zusage und dem Gebot der Liebe Christi.

Berlin-Spandau, den 6. November 1987

Der Präses der Synode der Evangelischen Kirche in Deutschland
gez. Schmude

Anhang
Von der Würde werdenden Lebens

Extrakorporale Befruchtung, Fremdschwangerschaft und genetische Beratung. Eine Handreichung der Evangelischen Kirche in Deutschland zur ethischen Urteilsbildung

Die medizinische Forschung hat auch im Blick auf die menschliche Fortpflanzung in letzter Zeit weitreichende neue Erkenntnisse gewonnen. Diese können und sollen dem Menschen dienen. Zum einen soll unfruchtbaren Ehepaaren die Erfüllung eines Kinderwunsches ermöglicht werden; zum andern soll die Geburt von Kindern mit schweren Erbleiden möglichst vermieden oder eine Therapie von Behinderungen ermöglicht werden. Neben diesem Ziel, einzelnen Menschen zu helfen, gibt es freilich auch ein rein theoretisches Forschungsinteresse. Die Erforschung früher Phasen der menschlichen Entwicklung gewährt Einblick in die Entstehung menschlichen Lebens. Damit eröffnen sich zugleich Möglichkeiten und Gelegenheiten zu Manipulationen am Anfang des Lebens, woraus heute noch nicht absehbare Gefahren erwachsen.
Wünsche im Blick auf das eigene Kind, therapeutische Zielsetzungen und das Interesse der Forschung können in Gegensatz zur christlichen Ethik geraten. Evangelische Stellungnahmen aus Anlaß der Reform des Strafrechts zum Schwangerschaftsabbruch (§ 218 StGB) haben immer vorausgesetzt, daß ethische Verantwortung für das menschliche Leben mit dem Zeitpunkt der Zeugung beginnt, und deshalb einen angemessenen Schutz des werdenden menschlichen Lebens als eines hohen Rechtsgutes verlangt.
So werfen die neuen Möglichkeiten medizinischer Eingriffe am Anfang des Lebens ethische Grundfragen auf, denen die Kirche nicht ausweichen darf - um der Betroffenen und der Verantwortung für das Leben willen.

1. Grund-Sätze

1.1 Menschliches Leben ist eine Gabe Gottes und hat eine besondere Würde. Diese Gabe, die in Gottes Liebe ihren Ursprung hat, will in Liebe angenommen und weitergegeben werden; menschliches Leben ist durch die Liebe und zur Liebe bestimmt. Mann und Frau sind so geschaffen, daß aus ihrer Liebe in - leib-seelischer Ganzheit neues Leben hervorgehen kann. Bei einer Befruchtung außerhalb des Mutterleibes wird die Entstehung menschlichen Lebens von Mann und Frau an einen medizinisch-technischen Vorgang gebunden. Dabei besteht die Gefahr, daß das Werden menschlichen Lebens in Spannung gerät zu seiner Bestimmung durch die Liebe und zur Liebe.

1.2 Zeugung und Geburt gehören nach christlichem Verständnis in den Zusammenhang von Liebe und Ehe. Dies gilt, obwohl es auch in der Ehe Zeugung ohne Liebe und Schwangerschaft außerhalb der Ehe gibt. Der Zusammenhang von Liebe, Zeugung und Geburt wird aufgelöst, wenn der Akt der Zeugung durch medizinische Eingriffe ersetzt wird. Dies kann zu heute noch nicht absehbaren Folgen führen.

1.3 Kinderlosigkeit ist für viele ein hartes Schicksal, aber auch eine Chance für ein anders erfülltes und sinnvolles Leben. Es gibt keinen Anspruch auf Kinder. Kinder sind Gabe und Aufgabe. Sie brauchen eine behütete Kindheit. Ihr Anrecht darauf wird verletzt, wenn eine Frau ohne Mann leben, aber ein Kind bekommen will, so daß dieses ohne Vater aufwachsen müßte, statt in einer Geborgenheit, wie sie normalerweise Ehe und Familie bieten. Kinder haben auch ein Anrecht darauf, daß die leibliche Mutter zugleich die genetische ist. Kinder müssen erfahren können, wer ihre leiblichen Eltern sind; eine Befruchtung mit Samen anonymer Spender versucht dies zu unterbinden.

1.4 Die Erfüllung eines individuellen Kinderwunsches durch eine extrakorporale Befruchtung bindet in den medizinischen Einrichtungen erhebliche finanzielle Mittel. Diese Mittel stehen zur Behebung von anderer Not nicht mehr zur Verfügung.

1.5 Im werdenden menschlichen Leben ist von dem Augenblick an, in dem sich Samen und Ei vereinen, eine künftige Person angelegt. Schon der Embryo ist zum unverwechselbaren Individuum bestimmt. Auch im Stadium der ersten Zellteilung besitzt er schon die gleiche ethische Qualität wie ein Fetus in der vorgerückten Schwangerschaft.

1.6 Genetische Beratung darf sich immer nur auf den Einzelfall beziehen. Sie muß jeweils die besonderen persönlichen und sozialen Umstände berücksichtigen und hat davon auszugehen, daß auch schon ungeborenem menschlichem Leben Individualität eignet.

1.7 Eine genetische Untersuchung, bei der das Erbgut analysiert wird, kann zur Erkennung von Krankheitsrisiken hilfreich sein. Solche Untersuchungen dürfen jedoch nur freiwillig und unter Wahrung strengster Verschwiegenheit erfolgen. Denn zur Menschenwürde gehört das Recht, sich nicht genetisch erforschen zu lassen

1.8 Das Genom (Erbgut) prägt biologisch die Individualität eines Menschen. Die Menschenwürde gebietet, daß diese nicht manipuliert wird. Die Freiheit des Menschen beruht auch darauf, daß ihm die individuellen Anlagen nicht durch Eingriffe anderer Menschen zugeteilt worden sind. Ein Gen-Transfer und andere Eingriffe in die Keimbahnzellen, die in Zukunft technisch möglich werden könnten, sind deshalb aus ethischen Gründen nicht vertretbar. Heute kann noch nicht abgesehen werden, ob eine Modifikation dieser Ablehnung mit der therapeutischen Begründung, durch Gen-Transfer oder ähnliche Eingriffe könnten Erbkrankheiten vermieden werden, in Zukunft möglich werden wird. Die Forschung nach dieser Möglichkeit muß durch ständige kritische Fragen nach der ethischen Verantwortbarkeit begleitet werden.

1.9 Die Freiheit eines Forschers verwirklicht sich auch in der Selbstbeschränkung, zumal wo ethische Grenzen berührt werden. Freiheit der Forschung hat ihre Grenze an der Würde des menschlichen Lebens. Deshalb muß z. B. davor gewarnt werden, wissenschaftliche und finanzielle Kapazitäten auf eine ethisch nicht vertretbare Forschung an menschlichen Embryonen festzulegen.

2. Extrakorporale Befruchtung

2.1 Kommt eine Befruchtung auf natürlichem Wege nicht zustande, so besteht medizinisch-technisch die Möglichkeit, eine Eizelle operativ zu entnehmen, sie in einem Gefäß mit einer Samenzelle verschmelzen zu lassen ("In-Vitro-Fertilisation") und den sich entwickelnden Embryo in die Gebärmutterhöhle einzupflanzen ("Embryo-Transfer").

2.2 Bevor eine extrakorporale Befruchtung als therapeutische Maßnahme in Erwägung gezogen wird, müssen zuvor alle anderen Möglichkeiten, den Kinderwunsch eines Ehepaares zu erfüllen, geklärt worden sein. Die Eheleute sollten auch die Möglichkeit einer Adoption oder des Verzichts auf Kinder in Betracht ziehen. Es darf keine Verpflichtung des Arztes zur extrakorporalen Befruchtung geben.

2.3 Bei Zeugung und Geburt eines Kindes beeinflussen sich leibliche und seelische Vorgänge wechselseitig. In einem erheblichen Teil der Fälle ist Sterilität des Mannes oder der Frau auch psychisch bedingt. Die psychischen Ursachen würden durch eine extrakorporale Befruchtung nicht behoben, sondern nur technisch überspielt.

2.4 Das abgeschätzte Risiko für angeborene Fehlbildungen liegt bei der extrakorporalen Befruchtung nicht höher als bei natürlicher Zeugung. Allerdings ist derzeit die Wahrscheinlichkeit für die Entstehung zweieiiger Zwillinge. bei denen ein erhöhtes Fehlbildungsrisiko besteht, größer.

2.5 Es ist noch unerforscht, ob es langfristige somatische oder psychosomatische Folgewirkungen hat, wenn der Embryo die ersten Lehenstage in einem Gefäß verbringt statt im Mutterleib; das Risiko ist nicht auszuschließen.

2.6 Die Vernichtung überzähliger Embryonen bei extrakorporalen Befruchtungen steht in unauflöslichem Widerspruch zu dem Schutz des werdenden menschlichen Lebens. So entsteht bei extrakorporalen Befruchtungen ein ethischer Konflikt, dessen Austrag hohes Verantwortungsbewußtsein erfordert.

2.7 Der medizinische Eingriff mutet eine größere Verantwortungslast zu als die natürliche Zeugung. Gewichtige Gründe lassen zu genereller Zurückhaltung raten: Bei einer extrakorporalen Befruchtung geht der Zusammenhang des Werdens menschlichen Lebens mit der leib-seelischen Ganzheit des Zeugungsvorgangs verloren. Nur begrenzt läßt sich sicherstellen, daß der Kinderwunsch dem vorrangigen Recht des Kindes in zureichendem Umfang Rechnung trägt. Überzählige Embryonen müssen sterben. Achtung vor der Würde und Individualität des Menschen müssen bei jeder Entscheidung den obersten Grundsatz bilden.

2.8 Der Wunsch auch einer alleinstehenden Frau, Mutter zu werden, ist verständlich. Sie sollte aber, wenn sie eine extrakorporale Befruchtung in Erwägung zieht, bedenken, daß ihr Kind ohne Vater aufwachsen würde. Nach christlicher Überzeugung ist die liebevolle Familie der beste Rahmen für eine Kindheit, wie sie der Bestimmung des menschlichen Lebens durch die Liebe und zu ihr entspricht.

2.9 Es müssen durch Richtlinien hohe ethische Standards für die Durchführung der extrakorporalen Befruchtung festgelegt werden, die Kontrollmöglichkeiten gewährleisten und Mißbrauch wie Experimente an Embryonen oder die Beteiligung von Ei oder Samen Dritter ausschließen. Die vom 88. Deutschen Ärztetag im Mai 1985 beschlossenen "Richtlinien zur Durchführung von In-Vitro-Fertilisation und Embryo-Transfer als Behandlungsmethode der menschlichen Sterilität" und die entsprechenden Ergänzungen der Berufsordnung der Ärzte sind insofern zu begrenzen. Solche Richtlinien dürfen nicht durch nur formale Handhabung um ihren Sinn gebracht werden. Therapeutische Eingriffe in die menschliche Keimbahn setzen wesentliche Verbesserungen der In-Vitro-Fertilisation voraus. Dies würde ausgedehnte Experimente auch an menschlichen Embryonen notwendig machen; sie aber sind ethisch nicht vertretbar.

3. Heterologe Insemination und Eispende

3.1 Kinderlosigkeit kann durch die Zeugungsunfähigkeit des Mannes oder durch die Sterilität der Frau bedingt sein. Medizinisch-technisch kann zu einer Befruchtung entweder der Samen eines fremden Mannes oder das Ei einer fremden Frau benutzt werden.

3.2 Die von einer Kommission der Evangelischen Kirche in Deutschland 1971 erarbeitete Denkschrift zu Fragen der Sexualethik führte aus (Ziffer 59): "Wenn wegen Zeugungsunfähigkeit des Mannes seine Frau von ihm kein Kind empfangen kann, wird heute gelegentlich die Übertragung fremden Samens auf die Ehefrau empfohlen, sofern dringender Kinderwunsch besteht (sogen. 'heterologe Insemination').

Aber selbst wenn im Zeitpunkt der Beantragung solcher Maßnahme zwischen dem kranken (sc. zeugungsunfähigen) Ehemann und seiner Frau Übereinstimmung besteht, kann danach das Verhältnis der Eheleute gestört und ein so empfangenes Kind besonderen Belastungen ausgesetzt werden. Auch juristische und erbbiologische Probleme sind heute noch nicht völlig geklärt.

Die Übertragung ehefremden Samens auf die Ehefrau ist nach christlichem Verständnis der Ehe - auch wenn der Spender unbekannt bleibt und völliges Einverständnis zwischen den Eheleuten besteht - ein Einbruch in die Ehe und damit eine Verletzung der Ausschließlichkeit ehelicher Beziehungen. Aus diesem Grunde kann die Übertragung fremden Samens auf die Ehefrau ethisch nicht gleich behandelt werden wie die instrumentelle Besamung mit dem Samen des Ehemannes."

3.3 Weil für das bestimmungsgemäße Werden menschlichen Lebens die Liebe der Eltern im Akt der Zeugung wesentlich ist, gelten die Vorbehalte, die gegen die extrakorporale Befruchtung erhoben wurden, auch gegen die heterologe Insemination.

3.4 Die genetische Abstammung ist ein Bestandteil der persönlichen Identität. Deshalb besteht bei heterologer Befruchtung ein Unterschied, ob der Spender anonym bleibt oder bekannt ist. Eine schicksalhafte Unkenntnis der Herkunft ist mit einer bewußt herbeigeführten ethisch nicht vergleichbar. Eltern schulden ihrem Kind Aufklärung über seine genetische Herkunft. Dies kann sogar aus medizinischen Gründen lebenswichtig werden.

3.5 Wenn der Vater des Kindes nicht der Ehemann und der Familienvater ist, kann dies zu Spannungen in den Beziehungen der Eltern zueinander und zum Kind führen; dadurch würde die familiäre Geborgenheit des Kindes gefährdet.

3.6 Eine heterologe extrakorporale Befruchtung ist ethisch auszuschließen; zu den Einwänden gegenüber einer heterologen Insemination und Eispende kommen die Vorbehalte gegenüber der extrakorporalen Befruchtung hinzu.

4. Ersatzmutterschaft

4.1 Neue medizinische Techniken machen es möglich, einen Embryo nicht von der Frau austragen zu lassen, von der das Ei stammt. Ist eine Frau nicht zur Schwangerschaft fähig, so kann nach der Befruchtung der Embryo in die Gebärmutterhöhle einer anderen Frau eingepflanzt werden. Es hat inzwischen mehrere Fälle solcher Fremdschwangerschaften gegeben.

4.2 Nach unserer Rechtsordnung ist die gebärende Mutter die leibliche Mutter. Dies soll dem Schutz von Mutter und Kind dienen. Auch in ethischer Sicht hätte im Falle einer Ersatzmutterschaft die leibliche Mutter, die in der Schwangerschaft mit dem Kind intensiv verbunden wurde, Vorrang vor der genetischen.

4.3 Schwangerschaft und das zu gebärende Kind dürfen nicht zur Ware gemacht werden. Die Mutterschaft darf nicht vermietet werden. Zudem besteht die Gefahr, daß sozial schwache Frauen ausgebeutet werden, indem sie die Gesundheitsrisiken und die seelischen Belastungen einer Fremdschwangerschaft gegen Entgelt auf sich nehmen.

4.4 Aber auch unter der Voraussetzung, daß die Ersatzmutterschaft nicht entlohnt wird, sondern etwa als Freundes- oder Verwandtenhilfe geschieht, bestehen unüberwindliche ethische Bedenken. Der gelegentliche Hinweis darauf, daß das Alte Testament stellvertretende Elternschaft kennt, geht fehl; die Strukturen von Ehe und Familie haben sich fortentwickelt. Auch ein Vergleich mit der Adoption ist nicht stichhaltig, weil deren Sinn darin besteht, einem Kind fehlende Elternschaft zu gewähren. Hingegen führt die Ersatzmutterschaft eine Trennung von leiblicher und sozialer Elternschaft willentlich ein und verursacht so eine Verunsicherung des Kindes über sein Herkommen.

4.5 Das legitime Interesse des Kindes verlangt normalerweise eine einheitliche (genetische, leibliche und aufziehende) Mutter- bzw. Elternschaft. Es kann zum Schicksal werden, daß die leiblichen Eltern das Kind nicht erziehen können. Die Aufspaltung der Mutterschaft, in die sich dann die Frau, von der das Kind genetisch abstammt und die es aufziehen wird, und jene, die es austrägt und zur Welt bringt, teilen, verstößt gegen das Anrecht des Kindes auf einheitliche Elternschaft.

Die Beziehung zwischen Mutter und Kind während der Schwangerschaft übt einen wichtigen Einfluß auf die werdende Persönlichkeit des im Mutterleib heranwachsenden Kindes aus. Deshalb sollte dieser Einfluß möglichst positiv gestaltet sein. Dazu gehört die leib-seelische Bindung zwischen Mutter und Kind; ebenso gehört dazu, daß die Mutter die Zeugung in der Liebe zum Vater des Kindes bejaht. Auch für die Annahme des Kindes durch die Eltern spielt das Erlebnis der Schwangerschaft eine Rolle. Dies gilt insbesondere, wenn ein behindertes Kind zur Welt kommt. Bei der Ersatzmutterschaft entsteht in einem solchen Fall ein besonders schwerwiegendes Problem.

5. Genetische Beratung und pränatale Diagnostik

5.1 Nicht alle angeborenen Fehlbildungen oder Krankheiten sind Erbkrankheiten; viele beruhen auf vorgeburtlichen Schädigungen. Der heutige Erkenntnisstand der Humangenetik läßt es zu, zahlreiche Krankheiten und Fehlbildungen als erblich zu identifizieren. Bei den meisten Erbkrankheiten kann man aus dem Vererbungsmuster jedoch nur eine Wahrscheinlichkeitsberechnung für die Wiederholung einer bestimmten Krankheit ableiten. Während der Schwangerschaft gelingt es mit unterschiedlichen Untersuchungsmethoden, einige erbliche und nichterbliche Krankheiten und Fehlbildungen zu diagnostizieren. In der Angewandten Humangenetik wird einzelnen Betroffenen und Familien genetische Beratung angeboten. Diese kann das für alle Eltern geltende Risiko genetisch bedingter oder auch während der Schwangerschaft entstandener Störungen oder Auffälligkeiten von Neugeborenen (etwa 2% bis 4% der Fälle) nicht aufheben. Manche Schädigungen können auch nach der Geburt noch medizinisch behandelt werden. Die Möglichkeiten der vorgeburtlichen Diagnostik, insbesondere der Voraussagen von Krankheiten, stellen vor weitreichende Entscheidungen, die gemeinsam von den Eltern, den beteiligten Ärzten und Mitarbeitern ethisch verantwortet werden müssen.

5.2 Allen erblich belasteten Personen und Familien ist humangenetische Beratung und Diagnostik zu empfehlen. Eine solche Beratung darf jedoch nicht verlangt werden; sie kann immer nur freiwillig sein. Auch dürfen bei krankhaftem Befund nicht automatisch bestimmte Konsequenzen gezogen werden. Humangenetische Familienberatung darf nicht dem Ziel dienen, den Bestand an Erbfaktoren einer Bevölkerung zu verbessern.

5.3 Humangenetische Beratung vor einer Schwangerschaft kann dazu beitragen, daß durch Verzicht auf Kinder genetisch bedingte Krankheiten verhindert werden. Gelegentlich wird aber auch eine Entscheidung für eine "Schwangerschaft auf Probe" getroffen, mit der Absicht, die Schwangerschaft abzubrechen, wenn tatsächlich eine Fehlbildung diagnostiziert wird. Ein Entschluß zur Schwangerschaft auf Probe wiegt, selbst wenn eine Fehlbildung äußerst unwahrscheinlich wäre, schwer. Es ist ethisch bedenklich, wenn menschliches Leben hervorgerufen und getestet wird in der Absicht, es bei Vorliegen einer Schädigung zu töten.

5.4 Genetische Beratung während der Schwangerschaft hat die Aufgabe, Eltern darüber aufzuklären, ob, wie und mit welcher Genauigkeit das in der Familie vorhandene spezielle Risiko für eine Krankheit oder Fehlbildung bestimmt werden kann. Die Eltern müssen darauf vorbereitet werden, daß die Ergebnisse der pränatalen Diagnostik sie in einen Entscheidungskonflikt stellen können. Beratung soll gewährleisten, daß das Lebensrecht auch eines behinderten Kindes gewürdigt wird und mit der Pränataldiagnostik nicht automatisch die Entscheidung für einen Schwangerschaftsabbruch im Falle einer festgestellten Fehlbildung verbunden wird. Pränatale Diagnostik lediglich zum Zweck einer Geschlechtsbestimmung ist wegen des möglichen Mißbrauchs ethisch nicht vertretbar und muß ausgeschlossen bleiben.

Wenn feststeht, daß ein Kind mit einer Krankheit oder Fehlbildung erwartet wird, muß die Beratung verdeutlichen, daß es sich bei den beiden Alternativen, ein krankes Kind anzunehmen und auszutragen oder die Schwangerschaft abzubrechen, um einen kaum lösbaren menschlichen Konflikt handelt. Wenn bei einem krankhaften Befund automatisch die Konsequenz eines Abbruchs der Schwangerschaft gezogen wird, ist die Auseinandersetzung mit diesen Konflikten verdrängt.

5.5 Der ethische Konflikt ergibt sich aus folgenden Überlegungen: Einer verwerflichen Tötung werdenden menschlichen Lebens steht die Übernahme von Leid und Verantwortung gegenüber, die ein krankes Kind für die Eltern bedeutet. Aber auch die Last der Krankheit für das erwartete Kind muß stellvertretend übernommen werden. Wenn Eltern sich bereitfinden, das Leid und die Verantwortung, die mit einem behinderten Kind auf sie zukommen, zu übernehmen, so entscheiden sie damit auch, daß ihr Kind mit der schweren Krankheit oder Mißbildung leben muß. Es kann kein Ziel sein, Leid unbedingt zu vermeiden; Leid kann auch stärken oder ungeahnte Kräfte wecken. Die Meinung, von Geburt an mißgebildete oder schwerstbehinderte Menschen dürften nicht geboren werden, ist ethisch nicht akzeptabel und mit dem christlichen Glauben unvereinbar. Neben der schwierigen Abwägung zwischen Schuld, Leidübernahme und Leidzumutung geht es um ein Abwägen der Fähigkeit der Eltern bzw. der Familie, das Schicksal eines kranken Kindes mitzutragen. Immer spielt auch das Ausmaß der spezifischen Erkrankung, der Grad einer zu erwartenden Behinderung bei der gemeinsamen Bearbeitung dieses Konfliktes eine entscheidende Rolle. Beratung kann nur individuell erfolgen und sich am Einzelschicksal der Familie orientieren. Das Abwägen im Einzelfall läßt sich nicht durch Gewichtung verschiedener Behinderungen (nichtlebensfähig, schwerstbehindert, leichtbehindert, riskant) ersetzen.

Weder kann sich eine Entscheidung nur nach den Wünschen der Eltern richten, noch darf der Berater seine Vorstellungen aufdrängen. Genetische Beratung ist in diesem Sinne ein kommunikativer Prozeß, der beide Seiten, Eltern und Berater, zur gewissenhaften, gemeinsamen ethischen Verantwortung in allen Entscheidungen aufruft.

5.6 Im Falle der Entscheidung für das Austragen eines mißgebildeten oder schwerstbehinderten Kindes ist eine kontinuierliche beratende Schwangerschaftsbegleitung notwendig. Die Nachbetreuung in derartigen Konfliktsituationen ist für die Kirche und ihre Diakonie zunächst eine seelsorgerliche Aufgabe, erfordert aber auch weitere flankierende Maßnahmen, um die gesellschaftliche Annahme von Behinderten, insbesondere behinderten Kindern, zu unterstützen. Die Kirche darf allerdings auch keine Versprechungen machen, die sie nicht einhalten kann. Es muß selbstverständlich sein, daß auch bei einer Entscheidung zum Schwangerschaftsabbruch eine Nachbetreuung und Begleitung erfolgt.

5.7 Humangenetische Beratung und Diagnostik erfordert selbstverständlich eine qualifizierte Ausbildung auf dem Gebiet der Humangenetik und der Beratertätigkeit. Zusätzlich aber wird an den Berater ein hoher Anspruch an menschlicher Zuwendung und ethischem Urteilsvermögen gestellt, damit die Beratung zu verantworteten Entscheidungen verhelfen kann.
Diese Handreichung wurde in einer vom Rat der Evangelischen Kirche in Deutschland berufenen Arbeitsgruppe vorbereitet. Der Arbeitsgruppe gehörten an:

  • Professor Dr. Martin Honecker, Bonn
  • Professor Dr. Jürgen Hübner, Heidelberg
  • Professor Dr. Traugott Koch, Hamburg
  • Professor Dr. Gert Preiser, Frankfurt
  • Direktor Gerhard Röckle, Stuttgart
  • Oberkirchenrat Rüdiger Schloz, Hannover
  • Professor Dr. Traute Schroeder-Kurth, Heidelberg
  • Professor Dr. Hansjürgen Staudinger, Freiburg.

Die Erstveröffentlichung erfolgte im November 1985 als Heft 11 der Reihe EKD-Texte.