Reminiscere
Predigt in der Kaiser-Wilhelm-Gedächtnis-Kirche
Predigttext: Römer 5, 1-5
Liebe Schwestern und Brüder,
seit zehn Tagen ist Passionszeit. Viele, auch viele evangelische Menschen, fasten. Sie verzichten für einige Wochen auf bestimmte Genussmittel wie Alkohol oder Schokolade oder auf lieb gewordene Gewohnheiten wie das Fernsehen. Es soll sogar Menschen geben, die sieben Wochen lang ihr Smartphone nicht benutzen.
Sinn dieser Übungen ist es, einen klaren Blick auf das eigene Leben zu bekommen: Wo stehe ich gerade auf meinem Lebensweg? Woher beziehe ich Kraft und Orientierung? Was ist mir so wichtig geworden, dass es mich gefangen hält? Welche Korrekturen muss ich vornehmen? Menschen fasten, um bei sich selbst nüchtern Soll und Haben zu analysieren…
Soll und Haben. Der Bibeltext, der uns heute durch die Predigt leitet, legt es nahe, vor allem auf das Haben zu schauen: Im Römerbrief breitet Paulus zu Beginn des fünften Kapitels vor den Römern und vor uns aus, was wir an geistlichen Gütern haben. Güter, von denen wir leben können…
„Da wir nun gerecht geworden sind durch den Glauben, haben wir Frieden mit Gott durch unsern Herrn Jesus Christus.“ Auf der Habenseite unserer geistlichen Bilanz steht der zunächst der Friede mit Gott. Zu verdanken haben wir ihn unserem Herrn Jesus Christus. Er hat dafür gesorgt, dass unser Verhältnis zu Gott in Ordnung ist. Wir mussten und müssen nichts tun, damit es zwischen Gott und uns stimmt. Auch wer in diesen Wochen fastet, kann und muss sich damit nicht den Frieden mit Gott verdienen…
Wir haben Frieden mit Gott. Unser Verhältnis zu Gott ist in Ordnung. Das hat Folgen. Die wichtigste Konsequenz hört sich banal an und ist doch von zentraler Bedeutung: Ich muss nicht Gott, sondern darf Mensch sein.
Ich muss nicht Gott, sondern darf Mensch sein. Das bedeutet: Ich muss nicht perfekt sein. Ich kann dazu stehen, dass mein Leben Kratzer hat und Beulen, ja vielleicht sogar ein einziges Fragment ist. Was für eine Wohltat in einer Gesellschaft, in der Jugend und Kraft zählen und in der selbst das Sterben noch makellos sein soll! Ich muss nicht Gott, sondern darf Mensch sein. Das bedeutet auch: Ich muss nicht allgegenwärtig sein. Ich muss nicht alles mitbekommen und nicht alles erleben. Ich kann es mir leisten, Neuigkeiten zu verpassen und nicht jede Information aufzunehmen. Was für ein Segen in einer Zeit, die für jeden und jede Informationen in nie gekannter Menge bereithält und uns damit gnadenlos überfordert! Ich muss nicht Gott, sondern darf Mensch sein. Das bedeutet schließlich: Ich darf Fehler machen und es fällt mir kein Zacken aus der Krone, wenn ich gemachte Fehler zugebe und mich dafür entschuldige. Was für eine Entlastung in einer Hochleistungsgesellschaft, in der so viele meinen, sich keine Blöße geben, sich nicht angreifbar machen zu dürfen…
Wir haben Frieden mit Gott. Es liegt auf der Hand, dass dies eine ausgezeichnete Grundlage für den Frieden unter den Menschen ist. Wo Menschen anderen zu erkennen geben, dass sie nicht perfekt sind, dass sie nicht alles wissen und alles haben wollen und müssen, dass sie Fehler machen, da kann Vertrauen gedeihen. Und Vertrauen ist die Voraussetzung für Frieden. Dass der Friede mit Gott und der Friede auf Erden unmittelbar miteinander zusammenhängen, hat der Rat der Evangelischen Kirche in Deutschland zum Ausdruck gebracht, als er 2007 seiner Friedensdenkschrift diesen Titel gab: „Aus Gottes Frieden leben – für gerechten Frieden sorgen.“
Auf der geistlichen Habenseite unseres Lebens entdecken wir sodann die Hoffnung. Paulus schreibt: „Wir rühmen uns der Hoffnung der zukünftigen Herrlichkeit, die Gott geben wird.“ Man hat dem Christentum den Vorwurf gemacht, die Menschen mit der Hoffnung auf eine zukünftige Herrlichkeit vom gegenwärtigen Elend ablenken zu wollen. Religion sei Opium fürs Volk, meinte Karl Marx. Das Gegenteil ist der Fall. Die Hoffnung auf die zukünftige Herrlichkeit, die Gott geben wird, schläfert nicht ein. Sie lässt uns vielmehr wach sein für das hier und jetzt Machbare und Erreichbare. Gott gibt die zukünftige Herrlichkeit. Deshalb können wir gegenwärtig mit Kompromissen leben. Solche Kompromisse sind nicht immer leicht zu ertragen. Es ist nur schwer auszuhalten, wenn unsere Diplomaten mit der Regierung von Saudi-Arabien reden, die die Menschenrechte ihrer Bürger verletzt und erst vor einigen Wochen vermeintliche Staatsfeinde hinrichten ließ. Oder mit dem russischen Präsidenten, der widerrechtlich die Halbinsel Krim annektierte. Aber solche Kompromisse sind nötig, um Krieg zu verhindern und Frieden zu schaffen. Und sie dürfen sein, weil wir auf Gottes zukünftige Herrlichkeit hoffen, in der es keiner Kompromisse mehr bedarf…
Die Hoffnung der zukünftigen Herrlichkeit, die Gott geben wird, schärft den Blick für das in der Gegenwart Machbare und Erreichbare. Vor allem aber tröstet sie. Paulus schreibt: „Hoffnung aber lässt nicht zuschanden werden.“ Paulus hat das als Gefangener selbst erlebt und viele Menschen nach ihm ebenfalls. Einer von ihnen war Helmut James von Moltke. Wegen seines Widerstandes gegen den Nationalsozialismus war er vom „Volksgerichtshof“ zum Tode verurteilt worden. Im Wissen um die bevorstehende Hinrichtung schildert er seiner Frau in einem Brief vom 10. Januar 1945 seine Empfindungen: „Mein Herz, zunächst muss ich sagen, dass ganz offenbar die letzten 24 Stunden eines Lebens gar nicht anders sind als irgendwelche anderen. Ich hatte mir immer eingebildet, man fühle das nur als Schreck, dass man sich sagt: Nun geht die Sonne das letzte Mal für dich unter, nun geht die Uhr nur noch 2 mal bis 12, nun gehst du das letzte Mal zu Bett. Von alldem ist keine Rede. (…) Wie gnädig ist der Herr mir gewesen! Selbst auf die Gefahr hin, dass das hysterisch klingt: Ich bin so voll Dank, eigentlich ist für nichts anderes Platz. Er hat mich die 2 Tage so fest und klar geführt: der ganze Saal hätte brüllen, wie der Herr Freisler, und sämtliche Wände hätten wackeln können, und es hätte mir gar nichts gemacht; es war wahrlich so, wie es im Jes. 43,2 heißt: Und so du durch Wasser gehst, will ich bei dir sein, dass dich die Ströme nicht sollen ersäufen; und so du ins Feuer gehst, sollst du nicht brennen und die Flamme soll dich nicht versengen…“ Am heutigen Sonntag Reminiscere denken wir in der gesamten Evangelischen Kirche in Deutschland an die Christen, die um ihres Glaubens willen verfolgt werden. Mögen sie die Kraft der Hoffnung spüren. Der Hoffnung der zukünftigen Herrlichkeit, die Gott geben wird. Der Hoffnung, die nicht zuschanden werden lässt…
Auf der Habenseite unserer geistlichen Lebensbilanz steht schließlich Gottes Liebe: „Denn die Liebe Gottes ist ausgegossen in unsere Herzen durch den Heiligen Geist, der uns gegeben ist.“ schreibt der Apostel Paulus. Was für ein wunderbares Bild: Die Liebe Gottes ist ausgegossen in unsere Herzen. Wie eine Flüssigkeit ein Gefäß ganz und gar ausfüllt, so gibt es in unseren Herzen keinen Winkel, der nicht von Gottes Liebe durchdrungen wäre. Auch die Ecken und Nischen, die wir an uns selbst überhaupt nicht mögen und die wir deshalb nach Kräften zu verbergen suchen, sind Gottes liebendem Blick nicht entzogen…
Bei dem übervollen Gefäß denke ich an einen Brunnen, dessen oberste Schale so lange mit Wasser gefüllt wird, bis diese Schale überfließt und das Wasser nach unten weitergibt. Viele Menschen wissen sich ganz und gar von Gottes Liebe erfüllt und geben diese Liebe an andere weiter: In den letzten Wochen und Monaten haben Tausende die Willkommenskultur für die Menschen gestaltet, die bei uns Zuflucht vor Krieg, Gewalt und Armut suchen. Sie haben die Geflüchteten freundlich begrüßt, sind mit ihnen zu den Ämtern gegangen, haben ihnen erklärt, wie man S- und U-Bahn benutzt, haben Deutschunterricht gegeben. Aus- und Überfluss der Liebe Gottes. Andere besuchen Kranke, hören sich geduldig Lebensgeschichten an, erfüllen Sterbenden letzte Wünsche. Aus- und Überfluss der Liebe Gottes. Und wieder andere begleiten Kinder auf Freizeiten, erzählen ihnen biblische Geschichten, helfen Jugendlichen, ihren Weg zu finden. Aus- und Überfluss der Liebe Gottes…
Liebe Schwestern und Brüder, es ist Passionszeit. Zeit, dass wir innehalten, Soll und Haben auf unserem Lebenskonto bilanzieren. Heute erfahren wir von Paulus, dass die Habenseite gut ausgestattet ist. Wir haben Frieden mit Gott: „Da wir nun gerecht geworden sind durch den Glauben, haben wir Frieden mit Gott durch unsern Herrn Jesus Christus.“ schreibt Paulus. Wir haben Hoffnung. Das kleidet der Apostel in diese Worte: „Wir rühmen uns der Hoffnung der zukünftigen Herrlichkeit, die Gott geben wird.“ Und wir haben die Liebe Gottes. Das hört sich bei Paulus so an: „Denn die Liebe Gottes ist ausgegossen in unsere Herzen durch den Heiligen Geist, der uns gegeben ist.“ Wir haben also ein erhebliches Kapital.
Und die Sollseite? Was sollen wir tun? Wie sollen wir mit dem Kapital, das Gott uns gegeben hat, umgehen? Ich denke, einiges ist schon angeklungen: Wir sollen aus Gottes Frieden leben und für gerechten Frieden sorgen. Wir sollen in der Hoffnung auf Gottes zukünftige Herrlichkeit heute das Nötige tun und Kompromisse wagen. Und wie eine Brunnenschale sollen wir die Liebe, mit der Gott unser Herz füllt, weitergeben. Jede und jeder von uns wird freilich selbst sehen und entscheiden müssen, was er oder sie im eigenen Umfeld aus dem göttlichen Kapital macht. Um das herauszufinden ist es tatsächlich gut, einige Wochen Zeit zu haben. Dabei mag es helfen, auf lieb gewordene Genussmittel oder vertraute Gewohnheiten zu verzichten. Ganz sicher hilft es, in der Bibel zu lesen, im Alten Testament, in den Evangelien oder eben in den Briefen des Apostels Paulus.