Heilsame Unterbrechung
Matthäus 20, 28
Die Gnade unseres Herrn Jesus Christus…
Liebe Schwestern und Brüder,
„Der Menschensohn ist nicht gekommen, dass er sich dienen lasse, sondern dass er diene und gebe sein Leben zu einer Erlösung für viele.“ Das ist der Wochenspruch für diese Woche. Die Geschichte dazu haben wir gerade als Schriftlesung gehört: Jesus erteilt Jakobus, Johannes und ihrer besorgten Mutter eine Abfuhr, als sie ihn um Privilegien bitten. Er begründet das damit, dass Christen nicht herrschen sondern dienen sollen – so wie er selbst es tat.
Nicht herrschen sondern dienen. Wenn ich nun schaue, wer heute Morgen hier in der Kirche ist, dann sehe ich viele Menschen, die das längst tun. Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Stadtmission: Für Sie sind die Verkündigung des Evangeliums von Jesus Christus und der Dienst am Nächsten zwei Seiten einer Medaille. Immer sind Sie da anzutreffen, wo die Not der Menschen in Berlin besonders groß ist. Mit beispiellosem Einsatz kümmern Sie sich um obdachlose Menschen und um Flüchtlinge, um nur zwei Beispiele zu nennen. Dann sind da die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Dienststelle des Bevollmächtigten: Wir sind im politischen Berlin unterwegs und aktiv - nicht weil wir uns für die besseren Politiker halten, sondern weil ein Bibelvers uns die Richtung weist: „Tu deinen Mund auf für die Stummen und für die Sache aller, die verlassen sind.“ (Spr. 31,8) Wir wollen den Menschen dienen, deren Stimme im Politikbetrieb überhört zu werden droht: den Kranken, den sozial Schwachen, den Flüchtlingen, den nach uns kommenden Generationen… Und schließlich sehe ich all die anderen, die Sie hier in Berlin leben und arbeiten: Für nicht wenige von Ihnen ist der Beruf weit mehr als bloße Erwerbstätigkeit, ist Berufung, ist Dienst am Mitmenschen…
Nicht herrschen sondern dienen. Sicher, man kann immer auch noch mehr tun. Aber grundsätzlich ist doch die Botschaft bei den meisten von uns angekommen. Die Predigt könnte also hier mit einem aufmunternden „Weiter so!“ zu Ende sein. Ist sie aber nicht. Dass ich jetzt noch nicht „Amen“ sage, hat mit dem letzten Satz der Schriftlesung, eben mit dem Wochenspruch, zu tun: „Der Menschensohn ist nicht gekommen, dass er sich dienen lasse, sondern dass er diene und gebe sein Leben zu einer Erlösung für viele.“
Christus dient und gibt sein Leben zu einer Erlösung für viele. Damit der Dienst Christi nicht ins Leere läuft, braucht es Menschen, die sich dienen lassen. Die den Dienst Christi annehmen. Sonst wäre ja alles umsonst gewesen – die Predigten, die Jesus hielt und die Wunder, die er tat. Sein Tod am Kreuz und seine Auferstehung von den Toten. Darum also soll es jetzt gehen: dass und wie wir den Dienst Jesu annehmen. Dazu sind wir ja heute Morgen gekommen – um uns im eigenen Dienst unterbrechen und uns den heilsamen Dienst Jesu Christi gefallen zu lassen.
Jesus Christus dient uns, wenn er sagt: „Kommt her zu mir, alle, die ihr mühselig und beladen seid; ich will euch erquicken.“ Nur wenige von uns dürften heute Morgen gänzlich unbelastet zum Gottesdienst gekommen sein: Wir alle sind erschrocken über das gestrige Flugzeugunglück. Unsere Gedanken sind bei den verzweifelten Menschen in Haltern, Barcelona und an anderen Orten. Hinzu mögen persönliche Belastungen kommen: Den einen beschwert der Konflikt am Arbeitsplatz, der sich einfach nicht lösen lässt. Die andere denkt bekümmert an den Streit mit den Kindern. Einen dritten drücken finanzielle Sorgen.
Jesus Christus spricht: „Kommt her zu mir, alle, die ihr mühselig und beladen seid; ich will euch erquicken.“ Lassen wir uns diesen Dienst Christi gefallen. Legen wir hier und jetzt vor ihm ab, was uns beschwert: „Stern, auf den ich schaue, / Fels, auf dem ich steh, / Führer, dem ich traue, / Stab, an dem ich geh, / Brot, von dem ich lebe, / Quell, an dem ich ruh, / Ziel, das ich erstrebe, / alles, Herr, bist du.“ (EG 407,1)
Jesus Christus dient uns, wenn er sagt: „In der Welt habt ihr Angst, aber seid getrost: Ich habe die Welt überwunden.“ Ja, auch Angst haben wir heute Morgen mitgebracht. Angst um die Welt, in der wir leben: So viel Krieg und Gewalt und Hunger! Werden die diplomatischen Bemühungen unseres Außenministers, unserer Kanzlerin und vieler anderer Frieden bringen? Wird es gelingen, den Terrorismus wirksam zu bekämpfen? Schaffen wir es, die Güter der Welt so zu teilen, dass niemand mehr hungern muss? Und: Werden wir in Sachen Klimawandel das Ruder noch herumreißen können? Bei dem einen oder der anderen mag noch persönliche Angst hinzukommen: Eine schlimme Diagnose hat mir den Boden unter den Füßen weggezogen. Werde ich mit der Erkrankung leben können? Zwischen meiner Partnerin und mir ist Vertrauen zerbrochen: Werden wir es wiedergewinnen? Jesus Christus spricht: „In der Welt habt ihr Angst, aber seid getrost: Ich habe die Welt überwunden.“ Lassen wir uns den Dienst Christi gefallen. Lassen wir uns gesagt sein, dass alle Angst dieser Welt, auch meine und deine Angst, in Christus ihren Meister gefunden hat. Stellen wir deshalb unsere Angst in das Licht Christi. Es wird sein, wie wenn nach einer schlaflosen Nacht voller Sorge und Angst die Morgendämmerung heraufzieht. Die nächtliche Angst löst sich im Licht des anbrechenden Tages nicht einfach auf, aber sie verliert ihre lähmende Kraft. Deshalb: „Jesu, meine Freude, / meines Herzens Weide, / Jesu, meine Zier: / Ach wie lang, ach lange / ist dem Herzen bange / und verlangt nach dir! / Gottes Lamm, mein Bräutigam, / außer dir soll mir auf Erden / nichts sonst liebers werden.“ (EG 396, 1)
Jesus Christus dient uns, wenn er sagt: „Dir sind deine Sünden vergeben!“ Am Anfang der meisten Gottesdienste steht ein Sündenbekenntnis. Dieser liturgische Brauch verdankt sich der verstörenden Einsicht, dass ich sündiger Mensch eigentlich Gott überhaupt nicht unter die Augen treten kann und darf. Habe ich denn ihn und nur ihn an die erste Stelle in meinem Leben gesetzt? Nein, das habe ich nicht. Gab es andere Götter neben ihm? Ja, die gab und die gibt es. Und sie bestimmen mein Tun und Lassen mitunter mehr als der lebendige Gott es bestimmt: Meine Angst zu kurz zu kommen. Meine Eitelkeit. Mein Neid. Mein Hochmut. Mein Kleinmut. Das meint die Bibel, wenn sie von Sünde spricht: Dass ich Gott nicht den Herrn über mein Leben sein lasse, weil ich ihm misstraue. Weil ich mich nicht auf seine Güte und Treue sondern lieber auf meine eigene Kraft, meinen Willen und meine Ideen verlasse. Die Folge ist, dass ich Gottes Gebote nicht achte. Täglich scheitere ich am Doppelgebot der Liebe, mit dem Jesus das Gesetz Gottes zusammenfasst: „Du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben von ganzem Herzen, von ganzer Seele und von ganzem Gemüt. Und: Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst.“ Jesus Christus spricht: “Dir sind deine Sünden vergeben!“ Lassen wir uns auch diesen Dienst Christi gefallen. Strecken wir ihm unsere leeren Hände entgegen und bekennen: „Aus tiefer Not schrei ich zu dir, / Herr Gott, erhör mein Rufen. / Dein gnädig Ohren kehr zu mir / und meiner Bitt sie öffne; / denn so du willst das sehen an, / was Sünd und Unrecht ist getan, / wer kann, Herr vor dir bleiben?“ (EG 299,1)
„Der Menschensohn ist nicht gekommen, dass er sich dienen lasse, sondern dass er diene und gebe sein Leben zu einer Erlösung für viele.“ Christus dient uns. Er nimmt auf sich, was uns beschwert. Er teilt unsere Angst. Er vergibt uns unsere Sünde. Das kostet ihn sein Leben. - Immer wieder haben Christen gefragt und fragen bis heute: Warum musste Christus leiden und sterben? Hätte Gott uns nicht auf andere Weise, sanft und ohne Gewalt, erlösen können? Es wird Gottes Geheimnis bleiben, warum Christus zur Erlösung für viele sein Leben gab. Auch die klügste und ausgefeilteste Theologie wird keine abschließende Antwort auf diese Menschheitsfrage finden. Für aufgeklärte Geister ist das unbefriedigend. Verzagte Seelen aber betrachten den leidenden und sterbenden Christus am Kreuz und spüren: Es ist Gott ernst mit uns. Todernst. Er zahlt den höchsten Preis, den man sich vorstellen kann, damit wir erlöst, damit wir befreit würden. Und sie antworten: „Wir danken dir, Herr Jesu Christ, / dass du für uns gestorben bist. / und hast uns durch dein teures Blut / vor Gott gemacht gerecht und gut.“ (EG 79, 1)
„Der Menschensohn ist nicht gekommen, dass er sich dienen lasse, sondern dass er diene und gebe sein Leben zu einer Erlösung für viele.“ Liebe Schwestern und Brüder, Christus dient und gibt sein Leben zu einer Erlösung für viele. Mit unserem Hören, Singen und Beten lassen wir uns seinen Dienst gefallen. Nach dieser heilsamen Unterbrechung haben wir neue Kraft für unseren Dienst, denn so haben wir es ja im Evangelium gehört: Christen sollen nicht herrschen, sondern dienen.
Und der Friede Gottes…